12
»Ich leih’ mir eine Uniform«, meinte Astrid wütend. »Irgendwo werde ich schon eine auftreiben.«
»Schade, daß Ackermann nicht da ist«, knurrte van Appeldorn. »Der könnte uns welche von seinen Schützenbrüdern besorgen.«
Toppe lächelte gequält. »Bloß keine Aufregung, Herrschaften. Ihr wißt doch: Außergewöhnliche Umstände verlangen ungewöhnliche Maßnahmen. Da dürfen auch wir uns nicht zu fein sein. Zitatende.«
»Nicht ganz«, widersprach Heinrichs. »Du hast folgendes vergessen: Dies, Herrschaften, ist eine gute Gelegenheit, unter Beweis zu stellen, daß das neue Steuerungsmodell für uns längst nicht mehr nur graue Theorie ist. Produkt Sicherheit.«
»Danke, das reicht«, fiel ihm van Appeldorn ins Wort. »Es ist wirklich ein dickes Ei, daß sie mich wegen diesem Zirkus aus Grevenbroich zurückpfeift. Um wieviel Uhr geht der Rummel eigentlich los?«
»Die Eröffnung ist um elf«, antwortete Toppe, »aber unsere ›Präsenz‹ wird ab acht Uhr vorausgesetzt.« Er holte seinen Mantel aus dem Schrank. »Und jetzt haben wir alle Feierabend. Von der Chefin angeordnet. Es wäre nämlich schon schwierig genug, die morgigen Überstunden zu verbuchen.«
Van Appeldorn schüttelte nur noch den Kopf. Die Meinhard mußte einen echten Schaden haben. Bei der Museumseröffnung würden so viele Polizisten rumwimmeln, daß für die Gäste gar kein Platz mehr blieb. Nicht nur die ganze Trachtengruppe würde aufmarschieren, nein, auch die halbe Kripo sollte Wache schieben. Wenn sich alle an den Händen hielten, konnte man die Polizeikette locker dreimal um das ganze Gebäude wickeln.
»Das hört sich alles großartig an mit dem Produkt Sicherheit«, sagte Astrid, als sie zu Toppe ins Auto stieg, »aber ich stelle mir gerade vor, ich wäre zum Beispiel Holländer. Was mir da als erstes in den Sinn käme, wäre die alte Geschichte mit dem Polizeistaat.«
Toppe ließ den Motor an. Er wollte sich heute nicht mehr ärgern. »Ich fahre jetzt zum Krankenhaus und rede mit Geldek. Kommst du mit, oder soll ich dich vorher zu Hause absetzen?«
»Aha«, grinste Astrid. »So viel zum angeordneten Feierabend. Schreibst du das trotzdem als Überstunden auf?«
»Weiß ich nicht. Ist mir auch völlig schnurz. Auf jeden Fall lasse ich mir von keinem vorschreiben, wann und wie ich meine Arbeit erledige. Bildet die sich tatsächlich ein, ich könnte mein Hirn aus- und einschalten wie den PC? Um halb vier wird der Bildschirm schwarz, der Fall verschwindet auf der Festplatte, und morgen um neun laufe ich dann wieder auf Hochtouren?«
»Hee!« Astrid legte ihm die Hand auf den Schenkel. »Jetzt reg dich doch nicht so auf. Ich komme mit ins Krankenhaus.«
Aber den Besuch bei Geldek hätten sie sich sparen können. Der Mann wußte gerade mal, wo er sich befand. Ob er sich an irgendwas erinnerte, fanden sie nicht heraus, denn Geldek schlief immer wieder ein. Der behandelnde Arzt war auch nicht aufzutreiben.
»Soll ich weiterfahren?« fragte Astrid sanft.
Toppe reichte ihr wortlos den Autoschlüssel, ließ sich schwer auf den Beifahrersitz fallen und schwieg.
»Meine Güte, was ist der Geldek durch den Wind! Zimperlich sind die Jungs ja nicht gerade. Der hätte dabei auch sterben können.« Astrid überlegte. »Ist das nicht ein bißchen dick aufgetragen für einen Warnschuß?«
»Genau darüber grübele ich nach«, nickte Toppe. »Vorsicht!« schrie er dann und hielt sich am Armaturenbrett fest.
Aus der Einfahrt zu ihrem Hof kam ein VW-Bus geschossen. Astrid trat auf die Bremse, riß das Steuer herum und kam auf dem Grünstreifen zum Stehen. Auch der weiße Bus hatte angehalten, und heraus krabbelte ein bleichgesichtiger Christian. »Gott sei Dank! Ihr seid das! Ich habe euch tatsächlich nicht gesehen.«
Auch Toppe war ausgestiegen. Er hatte Puddingbeine. »Ich sollte dir eine scheuern, du Idiot! Was ist das denn für ein Auto?«
»Hat mir ein Kumpel geliehen.« So langsam kriegte Christian wieder Farbe. »Es tut mir leid, Vater. Ich hätte besser aufpassen müssen.«
Toppe klopfte ihm den Rücken. »Ist schon in Ordnung.« Er linste durchs Autofenster und entdeckte einen alten Elektroherd, einen Hängeschrank und noch ein paar andere Möbel, die er selbst nach der Trennung von Gabi in seiner ersten Wohnung gehabt hatte.
»Ziehst du aus?«
»Nee, aber Clara zieht um, und ich helfe ihr. Mutter hat gemeint, ich könnte ihr die Möbel geben.«
»Du willst noch nach Köln?«
Christian grinste. »Geschenkt, Vater. Ab jetzt fahre ich anständig, versprochen.« Er stieg wieder in den Bulli. »Ich bin spät dran. Tschüs!«
Gabi stand auf einer Treppenleiter in der Halle und wechselte gerade ein paar kaputte Glühbirnen an dem prachtvollen Kronleuchter aus, den Astrid mit in die Wohngemeinschaft gebracht hatte – ein Erbstück von Großmutter von Steendijk.
»Ihr seid aber früh heute!«
Astrid verzog das Gesicht. »Frag bloß nicht«, hieß das, aber Toppe hängte nur seinen Mantel auf und meinte: »Wieso zieht Clara um?«
Gabi kletterte von der Leiter. »Ich weiß auch nur, was ich bei der ganzen Telefoniererei heute aufgeschnappt habe. Clara hat wohl schon im letzten Semester ihr Medizinstudium geschmissen und macht jetzt irgendwas mit Theaterwissenschaft, aber außer Christian hat das anscheinend keiner gewußt. Außerdem wollte sie wohl schon seit geraumer Zeit aus dem katholischen Wohnheim raus und hat jetzt endlich eine Wohnung gefunden. Heute war offensichtlich die große Beichte bei ihrer Mutter fällig, und es muß mächtig gekracht haben. Jedenfalls hat Clara nicht nur ihre Sachen im Wohnheim gepackt, sondern auch alles, was von ihr noch zu Hause in Grieth war.«
»Na endlich«, seufzte Astrid. »Und Christian spielt den strahlenden Ritter.«
»Rein platonisch natürlich«, mokierte sich Toppe.
Auch Gabi grinste.
Es war genauso, wie van Appeldorn es sich ausgemalt hatte: Die gesamte Kreis Kl ever Polizeimacht stand sich gegenseitig auf den Füßen und hütete die Ordnung.
»Ich fühle mich so was von präsent«, meinte Astrid. »Ich weiß gar nicht, wo ich mich lassen soll.«
Ausgerechnet Flintrop hatte die Einsatzleitung, aber für die Kripoleute sah er sich nicht zuständig. »Ich habe keine Weisungsbefugnis.« Neugierig betrachtete er Toppe. »Sollte doch eigentlich keine Frage sein, wer bei euch die Leitung macht.« Mit dem Zeigefinger zog er sein rechtes Unterlid hinunter und kicherte blöde. »Da muß der alte Hase ran, was?«
Die Kollegen hinter ihm prusteten los.
Toppe sah irritiert von einem zum anderen und drehte sich dann abrupt weg. Was gab’s hier noch zu leiten?
Um halb zehn hatten sie jeden Zentimeter des Museums durchsucht und überprüft und wieder durchsucht. In jedem Raum, an jeder Tür, vor jedem Fenster oder Kellerschacht war ein Pulk Polizisten postiert; nicht einmal eine Feldmaus hätte unbemerkt ins Gebäude kommen können.
»Und was machen wir jetzt?« wollte van Appeldorn wissen.
»Spalier stehen für den Ministerpräsidenten«, schlug Toppe vor.
»Ich könnte vielleicht Papierfähnchen besorgen«, meinte Astrid. »Damit winken wir dann alle freundlich. So was macht sich immer nett.«
Heinrichs hatte Posten im Museumscafe bezogen und schäkerte mit den Damen vom Büfett, aber die waren immun gegen seinen Charme. Kuchen wurde erst ab zwölf Uhr verkauft. Schließlich gab er sich geschlagen, wanderte zur Kavarinerstraße und besorgte ein Tablett Hefeteilchen und die Tageszeitung.
»Hier, guck mal«, winkte er Toppe zu. »Deine Freundin Karin hat einen Artikel drin: Eulenspiegel schlägt wieder zu.«
Toppe überflog den Bericht über den Angriff auf Geldek.
Mit Genuß biß Heinrichs in eine Puddingbrezel. »Eulenspiegel finde ich klasse. Das paßt irgendwie: da macht sich einer lustig über die ehrenwerten Bürger. Aber wie die Russen das finden …«
Toppe klappte die Zeitung zu. »Ich finde das überhaupt nicht klasse«, ärgerte er sich. »Eulenspiegel hört sich nach einem harmlosen Witzbold an. Und harmlos ist die Sache mit Geldek wahrhaftig nicht.«
Um zwanzig vor elf fuhr am Haupteingang ein weißer BMW vor.
»Achtung!« Van Appeldorn legte die Hände an die Hosennaht. »Charly Controlletti rollt an. Walter, pack die Zeitung weg.«
Charlotte Meinhard war noch nicht ganz ausgestiegen, da hatte Flintrop sich schon rangeschleimt. »Alles im Lot, Frau Chefin. Meine Truppe ist postiert. Für die Zivilisten«, guckte er kurz zu Toppe hinüber, »scheint der Althase zuständig zu sein.« Er lachte schallend, aber die Meinhard hob tadelnd die Hand, sprach ein paar leise Sätze und stieg zurück ins Auto. Mit einem langen, kritischen Blick auf Toppe fuhr sie ab.
»Was hat die denn jetzt schon wieder?« wunderte sich Astrid.
»Ich kann es mir denken.« Heinrichs hielt ihnen die aufgeschlagene Zeitung hin. Im überregionalen Feuilleton hatte Karin Hetzel ihr Toppe-Portrait untergebracht: eine dreiviertel Seite mit einem Archivfoto, auf dem Toppe aussah wie Albert Schweitzer in jüngeren Jahren.
»Du lieber Gott«, stöhnte er. Da stand was von Technokraten und von kalten Zeiten – Aldous Huxley war zitiert – von Einfühlungsvermögen, Menschlichkeit und Phantasie, und irgendwo kamen auch »die Erfahrung, die zählt« und der »alte Hase« vor.
Flintrop stand breitbeinig vor ihm. »Schönen Gruß von der Chefin: um 14 Uhr Manöverkritik – für alle.«
Um zehn nach eins, als der Ministerpräsident und seine Sicherheitsbeamten längst abgefahren waren und die Veranstaltung langsam zu einem Ende kam, setzte Toppe sich ab. Er mußte ein paar Minuten allein sein.
In seinem Büro angekommen, fiel er auf seinem Schreibtischstuhl in den Kutschersitz, um den Rücken zu dehnen, machte noch ein paar Katzenbuckel, bis er endlich ohne Schmerzen durchatmen konnte. Dann holte er die Zeitungsseite aus der Hosentasche und faltete sie auseinander. Karin Hetzel hatte angedroht, der Meinhard zu geigen, was sie vom »neuen Steuerungsmodell« hielt. Dazu hatte sie ihn mißbraucht, und daran schluckte er ziemlich. Na ja, mißbraucht war etwas hart. Er hatte einfach nicht damit gerechnet. Dabei war der Artikel nicht schlecht, vielleicht stellenweise ein bißchen dick aufgetragen, ein bißchen viel Pathos. Aber im Grunde spiegelte er schon seine Gedanken wieder, seine Überlegungen und ein paar seiner Gefühle. Nur seinen Frust nicht. In diesem Artikel wirkte er souverän – ein Mann der den einzig richtigen Weg geht, gegen den Zeitgeist, gegen alle Flaggen. Wenn man es von der anderen Seite betrachtete, ein Don Quichotte.
Und genau das würde ihm die Meinhard gleich erzählen. Er zweifelte nicht einen Moment daran, daß sie ihn nach der »Manöverkritik« zu einem Gespräch unter vie Augen bitten würde, um ihm ein paar Leersätze zu servieren und ihm vielleicht sogar mit Konsequenzen zu drohen. Nachdenklich zündete er sich eine Zigarette a: und drückte sie gleich wieder aus.
Es war an der Zeit, den Mund aufzumachen. Entweder er schmiß hier alles hin und ließ sich weit weg versetzen – die dumpfe Reihe: Wohin? In deinem Alter? Astrid? Die Kinder? Das Haus? schob er schnell beiseite – oder er spielte ab sofort das Spiel nicht mehr mit. Egal, was dabei rauskam.
Als er auf den Flur trat, sah er an der Treppe den Mann im grauen Zwirn.
»Herr Rother?«
»Ja?« Rother verschränkte die Hände und wartete au ihn.
»Sind Sie etwa auch zur ›Manöverkritik‹ geladen?«
»Nein, nein«, fuhr sich der ED-Mann über die kurze graue Bürste. »Ich höre mir das nur interessehalber an Haben Sie meinen Bericht schon gelesen? Ich hatte ihn ins Büro gelegt.«
»Nein, dazu bin ich noch nicht gekommen.«
»Keine Fingerabdrücke am Kondom. Das Isolierband wieder von derselben Sorte.«
»Hatte ich mir gedacht.«
Neben Heinrichs waren noch zwei Plätze frei. »Du kommst aber auf den allerletzten Drücker, mein Jung«, klopfte der auf die Stuhlfläche neben sich. Astrid und van Appeldorn saßen meilenweit entfernt.
Charlotte Meinhard stand bereits vor der versammelten Mannschaft. Sie trug ein schwarzes Kostüm mit engem, wadenlangen Rock, eine doppelreihige Perlenkette und schmale Pumps. Ihr Lächeln sorgte für Ruhe.
»Ich möchte Ihnen allen für Ihren vorbildlichen Einsatz danken und uns zu dem absolut reibungslosen Ablauf beglückwünschen.« Sie bedachte jeden mit einem anerkennenden Blick, nur Toppe sparte sie aus.
Also, das war heute ihr Plan! Kein Gespräch unter vier Augen. Nein, Toppe war das ungezogene Kind, das man mit Nichtachtung strafte.
»Und ganz herzliche Grüße soll ich Ihnen vom Stadtdirektor ausrichten. Er ist sehr stolz auf uns.«
Wieso beklatschten die sich selbst?
Die Chefin machte eine kleine Kopfbewegung, die es sofort wieder still werden ließ. »So, genug Dankeschöns. Wir wollen zum eigentlichen Punkt kommen. Also bitte, die Kritik von Ihrer Seite.«
Beinahe jeder senkte sofort den Blick.
Toppe hob kurz die Hand und unterdrückte den Impuls, sich zu erheben. Statt dessen schlug er die Beine übereinander. »Ganz knapp und sachlich, Frau Meinhard: zwei Drittel unserer Leute waren heute absolut überflüssig. Und ein wenig mehr Diskretion in der Durchführung hätte auch nicht geschadet. Das Paradeaufgebot hat die meisten Gäste nur beunruhigt.«
»Wie darf ich das verstehen?« Nichts als schieres Interesse in ihrem Gesicht.
»Der Ministerpräsident, zum Beispiel, hat mich gefragt, ob wir eine Bombendrohung hätten«, antwortete Toppe und setzte die Füße wieder nebeneinander. »Wenn Sie Kritik hören wollen: Bei dem Polizeiaufgebot konnte die Atmosphäre kaum entspannt sein, festlich schon gar nicht. Und darum ging es eigentlich. Ich denke … wir … haben ein wenig übertrieben.«
Es raunte und zischelte. Rother an Toppes linker Seite hatte das Kinn auf die Brust gesenkt, Heinrichs rechts nickte vehement.
»Danke, Herr Toppe«, kam es von vorn. »Dürfte ich um weitere Wortmeldungen bitten?«
Erstaunlicherweise meldete sich Flintrop: »Ich kann das alles nicht so geschwollen ausdrücken, aber irgendwie hat Toppe recht. Ich meine, nicht, daß ich unsere Truppe nicht super im Griff gehabt hätte, aber es waren einfach zu viele. Mehr als die Hälfte stand nur sinnlos rum und hat genervt, obwohl die ja gar nichts dafür konnten. Und ich habe immer bloß gedacht: gut, daß die Banken heute zu sind. Das wäre der ideale Tag für einen Raub gewesen. Auf jeden Fall kam ich mir die ganze Zeit, wenn ich so rumguckte, vor, wie auf der Demo in Kalkar damals.«
Damit setzte er sich sehr zufrieden wieder hin.
Charlotte Meinhard warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Keine Wortmeldungen mehr? Nein? Dann danke ich Ihnen, Herrschaften.« Sie sah Flintrop an. »Ich verspreche Ihnen, ich werde mir Ihre Kritik durch den Kopf gehen lassen. Und vielleicht möchte sich der eine oder andere von Ihnen ja bis Montag alternative Konzepte überlegen, die wir dann im kleinen Kreis erörtern können. Das würde mich sehr freuen. Aber einstweilen wünsche ich uns allen ein schönes Wochenende.«
Sofort setzte lautes Stühlescharren ein; die meisten wollten endlich nach Hause und den restlichen Samstag genießen.
Toppe rappelte sich langsam hoch. Heinrichs wartete, und plötzlich war auch van Appeldorn neben ihm.
»Die wird auch noch leiser«, sagte er nachdrücklich. »Wo gehen wir hin, Helmut? In deine Kemenate oder ins Büro?«
»Ins Büro«, meldete sich Astrid von hinten. »Ich hab da noch was in meinem Schreibtisch, das könnte uns jetzt allen gut tun.«
Es war eine Flasche edelster Cognac.
»Geschenk von der Meinhard«, erklärte sie. »Nachträglich zum Geburtstag und gleichzeitig Glückwunsch zu meiner Entscheidung, das neue Dezernat zu übernehmen. Ihr wißt doch, wir Frauen müssen zusammenhalten.«
Heinrichs kramte im neuen Schrankelement. »Tss, was ist das denn für eine Schlamperei? Keine Cognacschwenker! Ich fürchte, da werde ich doch ein Alternativkonzept für die Ausstattung der Büros erarbeiten müssen.« Damit stellte er vier Wassergläser auf Astrids Schreibtisch. »Gieß mir einen doppelten ein, Mädchen.«
Toppe wurde es auch ohne Cognac langsam ein bißchen wärmer.
»So«, setzte Astrid sich schließlich hin. »Auf dem Rückweg vom Museum bin ich beim Krankenhaus vorbeigefahren und habe mit Geldek gesprochen.«
Toppe stellte sein Glas ab. »Und?«
»Der hat gestern morgen einen Anruf gekriegt, angeblich von einem Journalisten von der Zeitschrift Kunst in der Architektur. Die wollten um 10 Uhr mit ihm im Museum ein Interview machen.«
»Wann kam der Anruf?« fragte Toppe.
»Um zehn nach neun.«
»Kurze Anfahrtszeit, findet ihr nicht?«
Heinrichs nickte. »Die Täter müssen schon vor Ort gewesen sein. Und zuversichtlich, daß Geldek darauf anspringt. Wir sollten natürlich sicherheitshalber bei der Zeitschrift nachfragen, ob die nicht tatsächlich einen Reporter in Kleve hatten, aber wer’s glaubt …«
»Der Anrufer war ein Mann, der lupenreines Hochdeutsch gesprochen hat«, fuhr Astrid fort. »Aber seine Stimme habe irgendwie dumpf geklungen, meinte Geldek. Zur Tat selbst konnte er wenig sagen. Er wäre ein paar Minuten zu früh am Treffpunkt gewesen, sei zwischen den Chinesen rumgegangen und habe sich die angeguckt. Dann hätte er plötzlich eine Bewegung hinter sich gespürt, aber gehört hatte er nichts.«
»Indianer«, flachste van Appeldorn. »Nur Indianer können sich lautlos bewegen.«
Astrid blieb friedlich. »Geldek wollte sich umdrehen, aber da hatte er schon ein Tuch unter der Nase. Auch er beschreibt den Geruch als eklig süß. Tja, und dann schwanden ihm die Sinne.«
»Nett formuliert.« Van Appeldorn kippte seinen Stuhl gegen die Wand und streckte die Beine aus. »Dem hätten die Sinne ruhig schon früher schwinden können, dann wären uns ein paar scheußliche Gebäude erspart geblieben, von diversen dreckigen Machenschaften mal ganz abgesehen.«
»Ich hatte meine liebe Mühe, mit Geldek überhaupt ins Gespräch zu kommen, Norbert«, meckerte Astrid. »Der ist uns nicht gerade wohlgesonnen, wegen der Postraubgeschichte. Es sah mir ganz so aus, als hättest du dich bei seiner Befragung mal wieder von deiner liebenswürdigsten Seite gezeigt.«
Van Appeldorn wippte mit den Fußspitzen. »Ich war ganz normal. Bei mir kommt das immer auf den Gesprächspartner an, weißt du?«
Toppe unterbrach das Geplänkel. »Wißt ihr, was ich mich die ganze Zeit frage? Wieso hat keiner im Museum die Täter gesehen? Da liefen jede Menge Leute rum. Und alle, mit denen ich gestern gesprochen habe, hatten Geldek bemerkt, aber keinen Fremden.«
»Mit wie vielen hast du denn gesprochen?« fragte Heinrichs.
»Mit neun. Neun von siebzehn Leuten, die vor der Veranstaltung im Gebäude waren. Und dann wären da noch 67 Gäste auf meiner Liste …« Er griff in seine Tasche. »Mist, die liegt bei mir im Büro.«
»Tja«, meinte Heinrichs ergeben, »dann wird sich wenigstens keiner von uns an diesem Wochenende langweilen.«
»Und was ist, wenn wirklich keiner die Täter gesehen hat?« drängte Astrid.
»Dann müssen wir uns fragen, ob die nicht im Innenkreis zu suchen sind«, antwortete Toppe. »Museumsangestellte zum Beispiel.«
»Sicherheitsleute, jemand von der Putzkolonne«, sprang Heinrichs bereitwillig an.
Van Appeldorn lachte. »Wie wär’s mit dem Museumsleiter und dem Kulturdezernenten? Oder vielleicht der Stadtdirektor höchstpersönlich? Ich weiß nicht, Helmut, es gibt doch eine ganz simple Erklärung. Das waren Profis, und solche Leute kommen unbemerkt in jedes Gebäude.«
»Mag sein«, gab Toppe zu, »aber da ist noch eine zweite Sache, die mir aufstößt: dieser Cocktail aus Alkohol und Schlafmitteln, der, wie der Arzt sagt, unheimlich gefährlich ist. Entweder haben die Täter Geldeks Tod in Kauf genommen – und dann kann man wohl kaum noch von einer ›Warnung‹ sprechen – oder aber jemand hat sich mit der Dosierung gut ausgekannt.«
»Ein Arzt vielleicht?« schmunzelte van Appeldorn. »Russen, Indianer … Ich hab’s: ein russischer Medizinmann! Komm Helmut, meinst du nicht, daß du ein bißchen viel da reindichtest? Am besten erzähle ich mal, was ich in Grevenbroich und Dormagen erfahren habe. Dann sind wir alle ein Stück weiter. Zunächst zu den Raubüberfällen: Beide Male war es ein Überfall auf ein ungeschütztes Postauto, beide Male wurde ein hoher Geldbetrag transportiert.«
»War das bei denen etwa auch stadtbekannt?« fragte Heinrichs.
»Nicht ganz so schlimm wie bei uns, aber es war auch kein Staatsgeheimnis. Da gibt’s ein paar andere Parallelen. Offenbar handelte es sich bei einem Großteil der Moneten in den Postwagen um Schwarzgeld. Genau wie bei uns hat sich der Wirtschaftsstaatsanwalt eingeschaltet, aber in den Käffern sind die noch nicht so weit wie wir. Die Kollegen von Mord und Totschlag sind jetzt außen vor und wissen nicht, wie weit der ist, was der vorhat.«
»Wie sieht es mit den eigentlichen Überfällen aus?« wollte Toppe wissen. »Hast du Details?«
»Klar. In Dormagen war es fast genauso wie bei uns: Der Postwagen ist von zwei PKW in die Zange genommen worden. Der vordere hat ihn ausgebremst, der hintere hat den Rücken freigehalten.«
»Wieviele Täter?«
»Fünf, alle mit Strumpfmasken und dunklen Pudelmützen, alle schwer bewaffnet.«
»Mit Pistolen?«
»Das ist nicht ganz klar. Die beiden Postmänner waren wohl ziemlich von der Rolle. Der eine von denen will Maschinengewehre gesehen haben.«
Van Appeldorn angelte nach seinem Zigarettenpäckchen. »Wie auch immer, beide PKW waren geklaut, beide wurden später auf Parkplätzen in Dormagen gefunden, einer an einem Baumarkt, der andere an einem Kaufhaus.«
Er wühlte zwischen den Papieren auf seinem Schreibtisch herum. »Hat einer mein Feuerzeug gesehen? Ach, egal. In Grevenbroich hatten die Täter mitten auf einer schmalen Waldstraße einen, übrigens geklauten, PKW quergestellt und kamen aus dem Gebüsch gesprungen, als das Postauto anhielt. Es ist nicht sicher, wieviele Männer es waren, aber man schätzt, mindestens vier.«
Toppe warf ihm sein eigenes Feuerzeug hinüber, und van Appeldorn zündete sich endlich seine Zigarette an. »Kommen wir nun zum interessanten Teil: Das BKA geht davon aus, daß die Russenmafia in beiden Städten schon seit einer Weile zugange ist. Vor achtzehn Monaten hat in Grevenbroich ein Pfannkuchenhaus aufgemacht, vor vierzehn Monaten in Dormagen. Die Läden heißen Hot Blini und gehören zu der Kette Blini Corporation mit dem Firmensitz in Malta.«
»Gute Güte«, brummelte Heinrichs. »Dann stimmt das also alles.«
Toppe kritzelte auf einem Stück Papier herum.
»Es kommt noch besser«, meinte van Appeldorn fröhlich. »In Grevenbroich sind während der letzten paar Monate ein paar Leute brutal überfallen worden: ein Sparkassenleiter, ein Kneipenwirt und ein Spielhallenbesitzer.«
»Hm«, Toppe sah von seinem Zettel auf. »Waren das auch so große Inszenierungen wie bei uns?«
»Nee, den Jungs fehlt die Klasse. War mehr so die Hauruck-Masche, Sack über’n Kopf und gib ihm. Einmal in einer dunklen Garage, die anderen Male nachts auf der Straße. Schläge mit einer Stange auf die Beine. Alle drei Opfer hatten beide Unterschenkel gebrochen.«
»Ich dachte, das wäre eher eine asiatische Spezialität«, überlegte Heinrichs. »Aber, Gott, die Welt wird ja immer kleiner.« Er trank seinen Cognac aus. »Es ist Zeit, nach Hause zu gehen. Ab Montag rennen wir uns die Hacken ab. Mir ist schleierhaft, wie wir das alles alleine schaffen sollen. An die restlichen Schwarzarbeiter will ich lieber gar nicht denken. Weißt du denn, was Günther jetzt mit denen vorhat, Helmut? Ich meine, wie will der die denn aushebeln? Die haben das doch perfekt konstruiert, wenn ich alles richtig verstanden habe.«
Toppe goß sich noch einmal ein. »Günther hat einen Trick gefunden. Er will den Schwarzarbeitern beweisen, daß sie keine selbständigen Unternehmer sind. Da sieht er keine großen Schwierigkeiten. Und wenn die kein eigenes Unternehmen haben, können die auch kein Material liefern und so weiter.«
»Typisch«, knurrte Heinrichs. »Die kleinen Rädchen in dem großen Getriebe werden zuerst stillgelegt. Und das sind vielleicht arme Schweine, die meisten jedenfalls.«
»Wie weit bist du denn inzwischen?«
»Wenn Lowenstijn nicht schon wieder neue aufgetrieben hat, muß ich nur noch acht interviewen, und die schaffen wir wohl am Montag. Aber bei denen kommt bestimmt auch nichts raus. Die sprechen alle nur ganz schlecht Deutsch. Selbst wenn denen einer in aller Ausführlichkeit vom Geldtransport erzählt hätte, die hätten nur Bahnhof verstanden.«
»Könnte doch sein, ein paar von denen hängen in der Russenmafia mit drin«, meinte van Appeldorn lässig. »Könnte doch sein, denen hat das einer auf Russisch verklickert.«
Heinrichs fuhr beleidigt hoch. »Hältst du mich für doof? Meinst du, ich checke deren Umfeld nicht ab? Außerdem sind kaum Russen dabei.«
»So hab ich das doch nicht gemeint, Walter.«
Aber da war nichts mehr zu machen. »Vielleicht hast du ja mehr Vertrauen zu unserem Kollegen Lowenstijn. Der ist nämlich bei allen Vernehmungen dabei.«