16
Toppe wälzte sich schwitzend im Bett herum.
Wie konnte ein pensionierter Lehrer der Russenmafia in die Quere kommen? Sie wußten nicht genug über Glöckner. Er würde Ackermann darauf ansetzen. Eulenspiegel … ein einsamer Serientäter? Spielen wir das doch mal durch. Alles fruchtlos, nur eins war sicher: Wer immer die Attentate verübte, er war unberechenbar und gefährlich. Und er würde wieder zuschlagen, daran zweifelte Toppe nicht einen Moment.
Bis jetzt hatten sie in Bimmen noch keinen gefunden, der vor der Messe irgend jemanden im Ort gesehen hatte, der dort nicht hingehörte. Er konnte unmöglich die anderen morgen von der Arbeit abziehen, nicht mal für eine Stunde. Die Pressekonferenz würde er schon allein durchstehen müssen.
Erst im Morgengrauen fiel er in einen bleiernen Schlaf, und das Weckerschrillen erschreckte ihn so sehr, daß er mit einem Satz aus dem Bett sprang. Und sich auf dem Fußboden wiederfand. Ein dumpfer Schmerz zog sich von seinem Rücken bis tief ins linke Bein hinunter. Ächzend versuchte er, sich aufzurichten, aber er schaffte es nicht. Hexenschuß!
Langsam, Zentimeter für Zentimeter, zog er sich an der Bettkante hoch. Kalter Schweiß brach ihm aus. Schließlich kam er auf die Beine, aber den Oberkörper kriegte er mit dem besten Willen nicht gestreckt. Lächerlich gebückt und verkrümmt schlurfte er durch die Halle zu Astrids Zimmer hinüber.
Sie schlief noch.
»Bitte, Astrid …« Seine Stimme war matt, aber sie setzte sich sofort auf. »Kannst du mich ins Krankenhaus fahren?«
Panik trat ihr in die Augen, was nicht verwunderlich war, wenn man an die letzte nächtliche Störung dachte.
Er versuchte zu lächeln. »Nur ein Hexenschuß.«
Der Arzt in der Notaufnahme war nicht begeistert, daß man ihn wegen so einer Sache um Viertel nach sechs aus dem Bett holte. »So was ist doch kein Notfall. Um acht Uhr hätten Sie damit zu Ihrem Hausarzt gehen können.«
»Ich habe aber heute früh einen wichtigen Termin.«
»Ja, ja«, brummte der Arzt und zog eine Spritze auf, »das haben sie alle immer.«
Zehn Minuten später stand Toppe wieder aufrecht und war beinahe schmerzfrei. Er streckte sich vorsichtig. »Ein Wunder!«
»Kein Wunder«, gab der Arzt zurück. »Im akuten Fall hilft das Medikament, aber Sie müssen dringend grundsätzlich etwas für Ihren Rücken tun. Sie sind total verspannt. Und wer weiß, was da sonst noch ist. Lassen Sie sich schnellstens durchuntersuchen, sonst stehen Sie in ein paar Tagen wieder bei mir auf der Matte.«
Damit drückte er Toppe noch ein Schmerzmittel in die Hand und verabschiedete sich.
Gar nicht so einfach, entspannt zu sitzen, wenn man Angst hatte, daß einen im nächsten Moment wieder der Schmerz anfiel, aber er bemühte sich.
Er machte sich gerade ein paar Notizen für die Pressekonferenz, als die Chefin klopfte. »Ich werde Ihnen ein bißchen Schützenhilfe geben. Irgend etwas entscheidend Neues, das ich wissen müßte, bevor wir uns in die Höhle der Löwen begeben?«
»Ich denke nicht, nein.«
»Fein! Ich habe eine Pressemitteilung vorbereitet, die wir den Reportern geben können, damit auch die einfacheren Gemüter nicht allzu viel Blödsinn schreiben. Wenn Sie mal eben drübergehen könnten, ob alles richtig ist.«
Die Journalisten hatten reichlich Zeit zum Überlegen gehabt, und ihre Fragen kamen wie ein Kugelhagel.
Toppe behielt die Fassung, bestätigte den intelligenten Täter, wehrte den Ritualmord ab, lächelte eindeutig nachsichtig bei jedem Eulenspiegel, konterte, erklärte, beschwichtigte und fühlte sich, als die ganze Schau endlich zu Ende war, wie durch den Fleischwolf gedreht.
Charlotte Meinhard plauderte und verteilte Pressemappen.
»Ich springe mal eben hoch zum Labor«, raunte er ihr zu.
Aber die ED-Männer waren auch nicht schlauer als gestern. »Es ist schon unglaublich, wie wenig Spuren diese Leute hinterlassen. Wir haben gerade noch darüber gesprochen«, meinte Rother. »Bis auf das Isolierband nichts, gar nichts. Das können nur Profis sein.«
Van Gemmern goß Toppe ein Glas Mineralwasser ein. »Sie hören sich an, als hätten Sie einen trockenen Mund.«
»Ah, Herr Toppe!« Die Chefin schwebte herein und klopfte ihm auf die Schulter. »Bravo, mein Lieber, sehr gut gemacht.«
»Danke«, antwortete er, »aber ich verstehe nicht ganz.«
»Na, es war doch phantastisch, wie Sie Eulenspiegel als den einsamen, intelligenten, psychopathischen Einzeltäter haben durchgehen lassen. Das wollten die Leute hören, und das haben sie bekommen. Kein Hinweis auf organisiertes Verbrechen. Nicht auszudenken, wenn wir in diesem Moment einen Fehler gemacht hätten. Heute nachmittag schlägt Staatsanwalt Günther zu, und keiner wird ihm dabei in die Quere kommen.«
Toppe stellte das Wasserglas hart auf dem Labortisch ab. »Ich habe jedes Wort auf der Pressekonferenz so gemeint, wie ich es gesagt habe, Frau Meinhard. Für mich sprechen sehr viele Dinge für einen Einzeltäter. Zugegeben, es gibt Hinweise auf organisiertes Verbrechen, aber es wäre ein fataler Fehler, nur diese eine Spur zu verfolgen.«
»Entschuldigen Sie«, antwortete sie kühl, »aber wir waren uns nach Lage der bisherigen Ermittlungen alle einig …«
»Wir waren uns alle einig?« fiel Toppe ihr ins Wort. »Da haben Sie mich gründlich mißverstanden. Und im übrigen, Frau Meinhard, vielleicht wissen Sie es selbst nicht, Sie sprechen von Ermittlungsergebnissen, was Sie aber meinen, ist ›political correctnessc.«
Damit ließ er sie stehen und nickte van Gemmern und Rother zu. »Bis zu Günthers Aktion ist noch Zeit. Falls mich einer sucht, ich bin in Bimmen. Danke für das Wasser.«
Aber sein Auto stand nicht auf dem Parkplatz. Astrid mußte es genommen haben. Das tat sie zuweilen, und normalerweise war das kein Problem, er konnte dann ja ihren Wagen nehmen. Ihr kleiner Peugeot stand brav auf seinem Platz und grinste ihn an. In dem ganzen Rückendrama heute früh hatte er den Schlüssel nicht eingesteckt. Ein paar wirklich häßliche Verwünschungen ausstoßend, ging er zurück in die Wachstube, wo eine ganze Reihe Kollegen beim Plausch zusammensaß und überhaupt keine Notiz von ihm nahm. Die beiden Schönlinge aus Düsseldorf waren auch dabei.
»Ich störe nur ungern«, begann er, und das Geplapper verstummte schlagartig.
»Da ist er ja«, lachte Look ihn an. »Wir haben gerade von Ihnen gesprochen. Ich habe erzählt, daß Sie auch von Düsseldorf sind.«
»Ja«, bestätigte Schumacher flink. »Da wär’ ich nicht drauf gekommen. Sie sind ’ne Düsseldorfer Jung’?"
»Meerbusch.«
»Ach so, na, das ist was anderes!« Toppe nickte befriedigt. »Ich brauche einen Dienstwagen.«
»Au, au«, meinte Look bedauernd. »Das wird schwierig. Wo müssen Sie denn hin?« Toppe hielt an sich. »Nach Bimmen.«
»Ach, nach Bimmen. Da hab’ ich einen Onkel wohnen.«
»Interessant. Soll ich ihn grüßen? Wie ist das jetzt mit dem Dienstwagen?«
»Sind alle raus. Sie könnten höchstens eine von unseren Mühlen nehmen. Wenn Sie nicht gerade in geheimer Mission sind, ist das ja wohl nicht so schlimm«, zwinkerte Look.
Gleich hinter der Kirche stand eine uralte Weide. Früher einmal war sie regelmäßig beschnitten worden, man konnte den dicken Kopf noch erkennen. Aus ihren Ästen hatte man Spaten- und Schüppenstiele geschnitzt, aber das mußte mehr als hundert Jahre her sein.
Toppe stapfte durch das feuchte Gras ein paar Schritte den Deich hoch, bis er den Rhein sehen konnte, und schnupperte unwillkürlich. Warum weckte dieser Geruch immer Wehmut?
Nein, hier konnte man keine Spuren finden, genauso wenig wie auf dem Kiesplatz vor der Kirche und dem asphaltierten Weg an der Seite.
Ein Maulwurfshügel brachte ihn zum Straucheln.
Der Schmerz haute ihn um, bevor der Knall in sein Bewußtsein drang.
Wimmernd preßte er beide Hände zwischen die Beine. Blut. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor, seine Jeans färbten sich dunkel bis zu den Knien hinunter. Er keuchte, und als er die Stimmen hörte, tastete er nach seiner Pistole. Kleine Fünkchen tanzten vor seinen Augen. Dann wurde es dunkel.
Da war Astrid, und sie sprach mit ihm.
Es war eine doppelte, dreifache Astrid, die lächelte. Er blinzelte, aber die Bilder bewegten sich weiter, wollten sich nicht decken.
Ihre warme Hand legte sich an seine Wange. »Ich weiß ja, du wolltest dich sterilisieren lassen, aber mußte es denn gleich so drastisch sein?«
Abrupt kam er hoch. Grellweiße Sonnen explodierten um ihn herum.
Sie nahm ihn in die Arme und zog ihn an sich. Er spürte ihren Herzschlag. »Nein, sei ganz ruhig. Es ist nichts Schlimmes passiert. Nur Fleischwunden innen an beiden Oberschenkeln. Bist du jetzt wieder ganz da?«
»Wo bin ich denn?«
»Im Krankenhaus. Und bei mir.«
»Man hat auf mich geschossen!«
»Richtig. Und man hat deine kostbarsten Teile nur knapp verfehlt.«
»Großer Gott!« Langsam ließ er sich ins Kissen zurücksinken. Jetzt sah er wieder klar. »Hatte ich eine Narkose, oder warum ist mir so komisch?«
»Nur eine ganz kurze. Sie mußten die Wunden nähen. Aber ich darf dich mit nach Hause nehmen, sobald du wieder einigermaßen stehen kannst.«
Ihm war entsetzlich kalt.
»Großer Gott«, sagte er noch einmal. »Wenn ich in dem Moment nicht ausgerutscht wäre!«
»Hast du gesehen, wer es war?«
»Ich habe überhaupt nichts gesehen.«