7

Helmut Toppe widerstand dem Impuls, sofort ins Büro zu laufen und den anderen die verrückte Geschichte zu erzählen. Ein paar Dinge konnte er von hier aus vorab klären, in aller Ruhe. In seinem stillen, schönen, einsamen Büro.

Es war schon seltsam, daß er das gemeinsame laute Nachdenken und die mehr oder minder witzigen Kommentare der anderen so vermißte. Dabei war er doch immer ein Eigenbrötler gewesen. Schon als Kind hatte er gern alleine gespielt, am liebsten stundenlang gelesen und seine Mutter hatte sich darüber sehr gegrämt. Sie hatte sein Verhalten auf den frühen Tod des Vaters geschoben, darauf, daß es keine Geschwister gab, und schließlich auf ihre eigene Unzulänglichkeit. Auch als Erwachsener hatte er immer wieder seine Auszeiten gebraucht, in denen er niemanden sehen und schon gar nicht reden wollte. In den letzten Jahren hatte sich das geändert, ganz allmählich. Ob es das Alter war? Sicher lag es an Astrid, aber wahrscheinlich auch an Norbert, Walter und den anderen, wie sie miteinander gearbeitet hatten all die Jahre. Aber in den letzten Monaten. Ach was, Schluß! Er verbot sich jeden weiteren krummen Gedanken, griff zum Telefonregister und machte sich an die Arbeit.

Später, als er gerade aus dem Labor zurückkam, rief Ackermann an. Toppe konnte ihn kaum verstehen.

»Was ist das denn für ein Lärm bei Ihnen? Wo sind Sie denn?«

»In Köln auffem Hauptbahnhof. Ich kann echt nix dafür, Chef. Da war auf einma’ ’n Platz frei bei dem Seminar in München.«

Toppe hatte nicht die leiseste Ahnung, wovon Ackermann sprach.

»Ich hab doch den Termin bei Charly gehabt letzte Woche. Und die sacht, also, bei meine Motivation un’ bei meine Noten, da könnt’ locker ’n Hauptkom drin sein. Un’ wo der Bongers doch bald in Rente geht. Aber da wären noch so zwei, drei Seminare, die ich unbedingt machen müßt’. Wat sach ich? Heut’ morgen klingelt bei uns dat Telefon, da war’ ’n Platz frei un’ los, los! Un’ -zack – sitz’ ich schon auffe Bahn. Ach, Chef, Mensch …«

Ackermann hörte sich an, als wollte er in Tränen ausbrechen.

»Kacke, ich hab keine Groschen mehr. Wat mach’ ich denn jetz’? Ihr braucht mich doch.«

»Das kriegen wir schon irgendwie hin, keine Sorge. Wie lange bleiben Sie denn weg?«

»Zehn volle Tage, dat isset eben. Un’ dabei weiß ich noch nich’ ma’, ob ich dat alles überhaupt will –« Es knackste, und die Leitung war tot.

»Die Story ist so bekloppt, die muß einfach stimmen«, meinte van Appeldorn, dessen Laune schlagartig um zehn Grad gestiegen war, als er gehört hatte, daß Ackermann für eine Weile ausfiel. »So was kann sich kein Mensch ausdenken. Außerdem ist der Birkenhauer ein echtes Arschloch. Wundert mich nicht, daß dem jemand eins rein würgt.«

Toppe nickte. »Es war nicht zu übersehen, daß du dem nicht grün bist.«

»Hör mal«, wurde van Appeldorn laut, »das hättest du mal erleben sollen! Wie der mich kaltlächelnd abserviert hat: Schwarzarbeiter? Ich? Lächerlich! Aber wenn es da Unstimmigkeiten geben sollte, wenden Sie sich an meinen Anwalt. Punkt. Mehr hat der nicht abgesondert.«

»Ja, ja, ja«, fiel ihm Heinrichs ungeduldig ins Wort. »Darum geht’s doch jetzt gar nicht.« Er nahm seine Finger zu Hilfe: »Erstens, Birkenhauer steht auf unserer Liste. Zweitens, der kriegt einen Anruf von einem Ausländer, vermutlich. Drittens, das braune Isolierband. Es springt einem ja geradezu ins Gesicht, daß es einen Zusammenhang zu unserem Postraub gibt. Aber kann mir einer von euch erklären, wo der liegt?«

»Nein«, antwortete Toppe. »Ich jedenfalls nicht, noch nicht. Aber ein paar andere Sachen kann ich euch erzählen. Birkenhauers Isolierband habe ich zum ED ins Labor gebracht. Rother hatte die Vergleichsproben aus Grevenbroich und Dormagen schon da. In allen Fällen, auch bei unserem Postraub, ist das Isolierband hochwertig und von einer Qualität, wie sie eigentlich nur Elektriker verwenden. In einem normalen Baumarkt kann man das nicht kaufen. Ob es von demselben Hersteller kommt, konnte Rother noch nicht sagen, aber er schickt es für weitere Tests auf die Klebstoffsorte und ähnliches zum BKA. Birkenhauers Halsband ist jedenfalls auf den ersten Blick aus demselben Material, hat auch dieselbe Farbe wie in Dormagen.«

»Wie lange ist Birkenhauer eigentlich auf dem Klo geblieben?« fragte Astrid.

»Schätzungsweise zehn Minuten, steht im Polizeibericht.«

»Und wieviel Promille hatte der?«

»2,0, sagt der Arzt im Krankenhaus. Ganz schön happig, wenn man bedenkt, daß Birkenhauer an die hundert Kilo wiegt. Ich habe mir das von van Gemmern ausrechnen lassen: Wenn man von 40%igem Schnaps ausgeht, muß der über einen halben Liter geschluckt haben, fast eine ganze Flasche.«

»Geschluckt?« Astrid nagte an ihrem Daumen. »Der war doch ohnmächtig. Wie kann er da den Schnaps geschluckt haben?«

»Narkotisiert ist wohl eher das Wort, sagt Bonhoeffer.

Den hab ich angerufen. Birkenhauer hat mir nämlich erzählt, man hätte ihm von hinten einen süßlich riechenden Lappen vor die Nase gehalten, und Bonhoeffer meint, der wäre vermutlich mit Chloroform getränkt gewesen. Man kippt davon sehr schnell weg, kann aber, wenn’s nicht zu hoch dosiert ist, durchaus noch schlucken.«

»Aber fast eine ganze Flasche Schnaps in den paar Minuten, meine Güte. Na ja, wer weiß, was der vorher schon intus hatte.«

»Keinen Tropfen«, erwiderte Toppe. »Behauptet er wenigstens. Und eine ganze Latte von Leuten, die das angeblich bezeugen können, hat er mir hier aufgeschrieben: seine Frau, seine Tochter, sein Neffe, die Haushälterin, der Chauffeur, der Kulturdezernent.«

»Chauffeur?« staunte Heinrichs. »Der muß es aber dicke haben.«

»Ich kann ja mal mit diesen Zeugen sprechen«, bot Astrid sich an und drehte sich gleichzeitig zu van Appeldorn um, der schon Luft geholt hatte. »Spar es dir nur dieses eine Mal, Norbert, ja? Ich kann es nämlich schon singen: Für die besseren Kreise ist meine Kollegin zuständig. Die ist nämlich mit dem goldenen Löffel. bla, bla.«

Walter Heinrichs tauchte aus seinen Gedanken auf. »Glaubt ihr wirklich, daß Birkenhauer narkotisiert war? Als er aus dem Klo kam, war er doch quicklebendig. So steht es wenigstens in der Zeitung. Hat denn der Notarzt nichts gemerkt? Ich meine, riecht man Chloroform denn nicht?«

»Der Notarzt ist gar nicht erst gerufen worden«, meinte Toppe grimmig. »Unsere lieben Kollegen haben Birkenhauer in den Streifenwagen verfrachtet und ihn höchstpersönlich zum Krankenhaus gefahren.«

»Was sind das denn für Pfeifen?«

»Zwei von den neuen, Schuster und Schumacher. Kennt die einer?«

Astrid verdrehte die Augen. »Die beiden Schnullis aus Düsseldorf.«

»Haben die wenigstens vorher die Toiletten durchsucht?« fragte van Appeldorn, aber Toppe schüttelte den Kopf.

»Da würde ich doch meinen, Helmut, die beiden gehören kräftig eingestielt.«

»Das kannst du haben. Um halb elf hab ich einen Ortstermin angesetzt, auf dem Herrenklo im Festzelt. Der Kulturdezernent wird da sein und unsere grünen Jungs auch. Dann erfahren wir hoffentlich ein bißchen mehr.«

»Kommt Birkenhauer auch?«

»Nein, wozu? Dessen Version kennen wir doch. Außerdem ist der jetzt mit seinem Anwalt auf Kriegspfad. Die Bildzeitung will er sofort verklagen, und von der örtlichen Presse verlangt er. wie drückte er sich gleich aus? Die unverzügliche Wiederherstellung seines untadeligen Rufes.« Toppe lachte. »Der Mann ist wirklich völlig aus dem Tritt. Was ist? Machen wir uns an die Arbeit? Wäre nett, Walter, wenn du für mich den Bericht eben eintippen würdest. Und laß ihn gleich der Meinhard zukommen. Ich wette, die sitzt schon auf heißen Kohlen.«

Das Telefon klingelte.

»Das wird sie bestimmt schon sein.«

Aber Heinrichs reichte den Hörer an Astrid weiter. »Für dich, Mädchen.«

»Ach du, Mutter.« Astrid zog eine Schnute. »Ja, ganz recht, wir duzen uns alle hier. Ich weiß, ja, in eurer Firma, ja … Distanz, genau … Was gibt’s denn? Ich habe zu arbeiten … Nein, das geht auf keinen Fall. Nein, auch nicht für zwei Stunden. Schau, wir stecken mitten in einem. Ja! Nein, ich will nicht mit meinem Vater sprechen … Hallo, Paps! … Doch, mir geht es ausgezeichnet. Nein, geht nicht, das habe ich Mutti doch gerade schon gesagt.«

Sie heftete ihren Blick auf Toppe und zog die Schultern hoch. »Ja, natürlich, ich weiß, du bittest mich nie um irgendwas … Hm? Was? … Ja, ohne ihn sowieso nicht. Also gut, aber nur kurz … Danke, ja. Nur kleine Gala, in Ordnung … Ja doch! Tschüs.«

Toppe gingen die Nackenhaare hoch. »Wann?«

»Heute abend«, antwortete Astrid kleinlaut.

»Ich glaub’, ich spinne«, schimpfte Toppe. »Ohne mich!«

»Ohne dich gehe ich aber nicht. Hör zu, sie wollen den neuen kleinen Ballsaal einweihen. Nur eine Dinnerparty mit Tanz hinterher. Und jetzt haben zwei Leute kurzfristig abgesagt.«

Toppe schwieg verstockt.

»Kein Smoking«, lockte sie. »Schwarzer Anzug reicht völlig. Ein bißchen tanzen.«

Das Lächeln saß ihm schon in den Augenwinkeln.

»Komm, nur bis elf, ja?«

»Aber allerhöchstens.«

Van Appeldorn sah träumerisch in die Ferne. »Das muß man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: kleiner Ballsaal, Smoking, Gala, Dinnerparty. Da können wir alten Schluppen schon froh sein, wenn wir wissen, wie man das schreibt, was, Walter? Familie von Steendijk gibt sich die Ehre. Ist das Goldene Blatt auch geladen?«

Der Papierball traf ihn mitten auf der Stirn.

Ausnahmsweise ließ sich van Appeldorn mal von Toppe chauffieren. »Der Birkenhauer ist ein Neureicher, wie er im Buche steht«, meinte er und kurbelte das Fenster runter; es war heiß im Auto. »Dessen Hütte müßtest du mal sehen. Der reinste Marmorpalast; nicht schön, aber teuer. Protz in jeder Ecke. Zu so viel Knete kommt kein Mensch nur durch Arbeit, glaub mir. Ich möchte nicht wissen, wem der schon alles auf die Füße getreten hat. Und so einen Scheißkerl auf diese Art fertigzumachen, also, das hat schon Klasse.«

Toppe schnüffelte. Sie hatten einen dicken, stinkenden Laster vor der Nase, wie eigentlich immer auf der Emmericher Straße.

»Dreh mal die Scheibe hoch. Klasse hat das, meinst du? Nun ja, auf jeden Fall war es verflucht dreist. Die ganze Zeit versuche ich schon, mir das vorzustellen: Ich bestelle Birkenhauer per Telefon aufs Klo. Das heißt, ich muß schon vorher da sein, und zwar mit meiner kompletten Ausrüstung: Schnapsflasche, Rasierer, Haarfarbe, Chloroform, und die Schleife nicht zu vergessen.«

»Und ein Trichter.«

»Trichter?«

»Ja. Also, ich würde einen Trichter benutzen, wenn ich jemandem in kürzester Zeit so eine große Menge Schnaps einflößen wollte.«

»Gute Idee. Aber während der ganzen Prozedur hätte doch jederzeit einer reinkommen können.«

»Da wird es ja wohl auch Sitzklos geben, oder? Und da hat sich der Täter mit Birkenhauer einfach eingeschlossen.«

»Vermutlich. Bleibt die Frage: Wie ist der Täter hinterher aus dem Klo verschwunden? Es hätte doch durchaus sein können, daß Birkenhauer Alarm schlägt, daß plötzlich die Hölle los ist und jeder den Täter sucht.«

Sie bogen rechts ab auf den Ring, der LKW fuhr geradeaus weiter. Van Appeldorn kurbelte das Fenster wieder runter.

»Vielleicht hat das Klo einen zweiten Ausgang.«

Der Raum für die Eröffnungszeremonie, den man vom Zelt abgetrennt hatte, war nicht besonders groß. Vorn stand ein Rednerpult, flankiert von zwei künstlichen Gummibäumen, davor zehn Stuhlreihen mit je vierzehn Sitzen, dahinter Platz für die Pressevertreter und andere Neugierige, zur Rückwand hin dann der Toilettenbereich.

Der Kulturdezernent wartete schon. Er war, wenn man das letzte Pressefoto für bare Münze nahm, seit Freitag um Jahre gealtert.

»Jansen, mein Name, guten Tag. Also, ich bin fertig, kann ich Ihnen sagen, fix und fertig. Wissen Sie, was hier los ist? Diese gottverfluchte Bildzeitung! Ein Touristenmekka sind wir geworden. Jeder will sich angucken, wo Birkenhauer die Hosen runtergelassen hat.«

Er schien froh, endlich Dampf ablassen zu können. »Und Birkenhauer hat mich wohl hundertmal angerufen, sogar privat. Dabei kenne ich den Mann kaum.«

»Tja«, meinte van Appeldorn ungeduldig, »ich schaue mir das Klo an.«

Toppe ließ sich zunächst die Ereignisse vom letzten Freitag ausführlich schildern. »Hatten Sie den Eindruck, daß Birkenhauer schon vorher getrunken hatte?«

»Nein.« Diese Frage hatte sich Jansen wohl schon selbst gestellt. »Der war stocknüchtern.«

»Helmut, kommst du bitte mal?« Van Appeldorn schaute um die Ecke.

In der Herrentoilette waren an der rechten Seite drei Pissoirs, zwei Waschbecken mit Spiegeln gegenüber vom Eingang und links drei mit Türen abgeschlossene Sitzklos. Alle Wände, bis auf die zum Saal, bestanden aus Zeltbahn, die am Dach und am Boden mit Ösen versehen und mit dicker Schnur festgezurrt war.

»Da haben wir den zweiten Ausgang«, meinte van Appeldorn. »Man braucht nur ein scharfes Messer, und schon ist man draußen.«

Toppe öffnete die Türen zu den Kabinen. »Nur daß hier leider weit und breit kein Schnitt im Zelt zu sehen ist.« Er winkte ab. »Ich weiß schon, das wäre der Notnagel gewesen, falls die Geschichte in die Hose gegangen wäre. Ist sie aber nicht, und deshalb konnte der Täter in dem allgemeinen Tohuwabohu ganz einfach durch die Tür verschwinden.«

»Eben.« Van Appeldorn blinzelte sich eine lange Haarsträhne aus dem Auge. »Wo bleiben eigentlich unsere zwei Taxifahrer?«

»Gute Frage.« Toppe öffnete die Tür.

Die beiden Polizisten standen beim Kulturdezernenten und plauderten.

Schuster entschuldigte sich bei Jansen mit einer kleinen Kopfbewegung und wandte sich Toppe zu. »Grüß Sie! Ist ja auch nicht die Regel, daß unsereins mal der Kripo zur Hand gehen kann.«

Van Appeldorn schob sich an Toppe vorbei und betrachtete den Blonden wie ein biologisches Präparat. Schumacher fing an, auf den Absätzen zu wippen.

Toppe bemühte sich: »Folgender Hergang ist uns berichtet worden.« Er betete die unliebsame Geschichte herunter. »Können Sie das so bestätigen?«

»Ja«, antwortete Schuster. »Ich würde sagen, das haben Sie sehr gut zusammengefaßt. Genauso war es. Und natürlich haben wir beide.«

»Natürlich habt ihr beide sofort die Toiletten durchsucht«, fiel ihm van Appeldorn ins Wort.

»Wie?« staunte Schumacher. »Wieso das denn? Nein.«

Schuster hatte schneller begriffen. »Entschuldigen Sie mal, wir haben uns absolut korrekt verhalten! Da war eine hilflose Person, um die wir uns unverzüglich zu kümmern hatten. Und zwar in der uns angewiesenen, üblichen Weise.«

»In der üblichen Weise?« Toppe hätte dem Schönling liebend gern in den Hintern getreten. »Üblich wäre gewesen, sofort den Notarzt zu rufen.«

Aber damit war Schumacher gar nicht einverstanden. »Den Notarzt? Das ist doch wohl Quatsch. Der Birkenhauer war doch voll da. Wir haben nur Zeit sparen wollen, und Geld. Quasi haben wir allen einen Gefallen getan, daß wir ihn selbst mitgenommen haben.«

Van Appeldorn hatte den Blick weiter auf Schuster geheftet. »Habe ich das Ihren Aufzeichnungen richtig entnommen: Sie wußten, wer Birkenhauer war? Sie wußten, daß er einen Preis bekommen würde, daß eine Ehrung anstand?«

»Absolut korrekt«, antwortete Schuster und schob die Hände in die Hosentaschen.

»Und Sie haben gesehen, wie er ganz normal und unauffällig zur Toilette gegangen ist.«

»Richtig!«

»Und dann hat es euch nicht stutzig gemacht, daß dieser honorige, völlig normale Bürger zehn Minuten später stockbesoffen mit Iroschnitt und Schleife um den Schniedel wieder auftaucht?«

Schuster blickte sanftmütig. »Ach Gott, Herr Kommissar, wenn man aus Düsseldorf kommt … Wir haben über die Jahre Sachen gesehen, da macht man sich hier gar kein Bild von. Echte Psychopathen, und das Tag für Tag.«

»Psychopathen?« meinte Toppe gedehnt. »Haben Sie nicht gerade noch erzählt, daß Birkenhauer sich ganz normal verhalten hat?«

Aber Schuster lächelte. »Herr Toppe, Sie und ich, können wir etwa beurteilen, wer bekloppt ist und wer nicht? Ich bin doch kein Psychiater.«

Toppe hielt an sich. »Als Birkenhauer zur Toilette ging, hatte er da eine Schnapsflasche dabei?«

»Nein.«

»Waren Birkenhauers Taschen ausgebeult? Hätte er eine Flasche versteckt haben können?«

»Nein, aber auf dem Klo …«

»Ach, Sie meinen, er könnte den Schnaps auf dem Klo versteckt haben.«

Schuster glotzte ihn an.

Van Appeldorn seufzte vernehmlich.

»Gut, also«, fuhr Toppe fort. »Sie haben auf jeden Fall den Toilettenraum nicht kontrolliert.«

Trotziges Schweigen.

»Düsseldorf, he?« schnaubte van Appeldorn. »Zeig mir doch mal den Düsseldorfer Polizeibericht, wo ein angesehener Bürger aufs Klo geht, sich einen exakten Haarschnitt verpaßt, sich dann innerhalb von ein paar Minuten bis zur Bewußtlosigkeit besäuft und von nichts auf gleich zum psychopathischen Exhibitionisten wird, der sich eine Schleife um den Schwanz bindet und ihn der Öffentlichkeit präsentiert.«

Zum ersten Mal suchte Schuster Schumachers Blick.

»Noch einmal zurück: Ich habe Sie doch richtig verstanden?« beharrte Toppe. »Für Sie ist Birkenhauer ein Psychopath.«

»Genau.«

»Aber ein Psychopath ist ein kranker Mensch, Herr Schuster, nicht wahr? Und in dem Fall.«

Jetzt wurde Schumacher wach.

»Der war doch nicht krank. Für mich war der nur besoffen.«

»Krank oder schwer betrunken, wie auch immer. In beiden Fällen hätten Sie den Notarzt rufen müssen.«

»Und in beiden Fällen hätten Sie die Toilette durchsuchen müssen«, fuhr van Appeldorn fort.

»Ich bin der Ansicht …« wurde Schuster wieder mutig.

»Und ich bin der Ansicht«, donnerte van Appeldorn, »daß ihr nicht nur unglaublich dämlich seid, sondern sogar massiv die Ermittlungen behindert habt.«

Keiner der beiden rührte sich.

»Sie können gehen«, sagte Toppe leise.

»Einstweilen!« schnappte van Appeldorn.

Der Kulturdezernent war noch ein wenig blasser geworden. »Wenn Sie dabei gewesen wären, dann könnten Sie das besser beurteilen, glaube ich. Ihre Kollegen können wirklich nichts dafür.«

Toppe setzte sich auf einen Stuhl und rieb sich das Gesicht. »Doch, Herr Jansen, die beiden hätten die Sache richtig einschätzen müssen. Dafür werden sie bezahlt.

Aber egal, haben Sie eine Ahnung, wer hinterher auf der Toilette war? Hat jemand was gefunden?«

»Nein, nicht daß ich wüßte. Und ich war bis zum Schluß hier. So schwer es mir auch gefallen ist. Ich habe sogar noch den Presserummel durchgestanden.«

»Wer putzt die Klos?«

»Wir haben eine Putzkolonne angestellt. Die kommt zweimal am Tag.«

»Wann waren die Leute am Freitag hier?«

»Wenn ich ehrlich sein soll, das weiß ich nicht. Aber das kann ich leicht herausfinden.«

Jansen sah plötzlich betreten aus, und Toppe konnte das nicht einsortieren. »Nein, das machen wir schon. Wenn Sie mir nur die Firma nennen.«

»Nun, für mich wäre es ganz einfach, deshalb sage ich es ja.« Er flüsterte. »Meine Schwiegermutter ist dort beschäftigt.«

Toppes Handy dudelte.

Es war Astrid. »Ich bin auf Birkenhauers Anwesen durch, Helmut. Mit seiner Frau habe ich gesprochen, mit seiner Tochter und mit diversen Bediensteten. Alle erzählen mir dieselbe schöne Geschichte: Birkenhauer ist ein Heiliger, der noch nie in seinem Leben einen über den Durst getrunken hat. Aber glücklicherweise gibt es hier noch den Neffen, und der scheint mir ganz zuverlässig zu sein. Er schätzt wohl seinen Onkel und die ganze Mischpoke nicht sonderlich. Eigentlich studiert er in Hamburg und wohnt nur in den Semesterferien hier, weil er in der Kiesgrube jobbt. Aber auch dieser Guido erzählt mir, daß Birkenhauer nichts getrunken hatte. Der ist schon morgens um acht wie ein aufgescheuchtes Huhn rumgelaufen wegen der Ehrung. An Saufen hat der nicht gedacht.«

»Gut. War’s das?«

»Im Prinzip schon. Birkenhauer hat außer Kaffee bis zehn Uhr am Freitag morgen nichts getrunken. Dann hat die gesamte Familie, inklusive des Neffen, das Haus verlassen. Aber auch danach war Birkenhauer nie allein, sagt seine Frau. Der Stadtdirektor habe sich persönlich um ihn gekümmert, ihn empfangen und neben ihm gesessen. Ich komme dann jetzt zurück, oder hast du noch was? Ich bin gerade so schön in Fahrt.«

»Ja, ich hätte schon noch was.« Er berichtete von der Putzkolonne.

»Warte mal einen Moment. Herr Jansen, wie heißt Ihre Schwiegermutter?«

»Küsters.«

»Frau Küsters«, teilte er Astrid mit. »Kümmerst du dich drum?«

»Sofort. Vergiß heute abend nicht.«

Van Appeldorn war schon nach draußen gegangen.

»Meinen Sie, ich könnte den Stadtdirektor um diese Zeit erwischen?« fragte Toppe.

Jansen überlegte. »Montags um diese Zeit? Könnte gut möglich sein. Ich würde es einfach mal versuchen.«

Obwohl Toppe gar keine Teamsitzung angesetzt hatte, fanden sich alle gegen drei im Büro ein.

Heinrichs war erschöpft: Die Presse hatte ihm die Tür eingerannt. Man wollte doch zu gern wissen, was die Polizei von Birkenhauers Entgleisung hielt. Außerdem trudelten immer noch Anrufe zum Postraub und zum Tatfahrzeug ein.

»Du siehst sehr müde aus, Walter«, sagte Toppe, obwohl er ahnte, was kommen würde. »Willst du nicht für heute Schluß machen?«

Und Heinrichs wurde auch sofort giftig. »Mir geht es großartig. Was soll das denn?«

Astrid betrachtete ihn. »Deine Lippen sind blau«, stellte sie sachlich fest.

»Ich kann das nicht mehr haben«, fauchte Heinrichs. »Mein Infarkt ist Jahre her, und ich bin kein Invalide. Wann kapiert ihr das endlich?«

Charlotte Meinhard stand auf, ging zu Heinrichs hinüber und legte ihm den Arm um die Schulter. »Ein Invalide sind Sie weiß Gott nicht, Herr Heinrichs. Es war doch nicht als Vorwurf gemeint, wir sorgen uns doch nur. Ich würde vorschlagen, wir tragen noch kurz die heutigen Ergebnisse zusammen, und morgen sehen wir weiter. So weit ich das beurteilen kann, und bitte korrigieren Sie mich, ist nirgendwo Gefahr im Verzug. Und da könnten wir eigentlich alle reinen Gewissens unsere Überstunden abfeiern. Also?«

Astrid war die einzige, die etwas Neues brachte. »Die Putzkolonne hat auf dem Klo nichts gefunden, keine Flaschen, kein Isolierband. Eine Putzfrau kann sich an auffallend viele graue Haare vor einem der Sitzklos erinnern. Die hat sie weggefegt. Aber eins ist wichtig: hinter den Pissoirs war am Freitag nachmittag, als die Truppe geputzt hat, die Zeltbahn an den unteren Ösen gelöst, auf einem Stück von ca. 80 Zentimetern. Frau Küsters hat das sofort wieder gerichtet.«

Toppe und van Appeldorn tauschten einen Blick: Der Täter hatte wohl doch den Hinterausgang benutzt.

Die Chefin war schon auf dem Weg nach draußen. »Eine Sache noch am Rande. Diese beiden Kollegen vor Ort. Ich fackele in solchen Fällen nicht lange. Da ist eine Abmahnung fällig.«

»Nein«, hielt Toppe sie entschieden zurück. »Bei uns ist das bisher immer anders gelaufen, Frau Meinhard. Fehler macht jeder. Ich denke, wir haben den beiden sehr klar gemacht, wo’s langgeht. Und jetzt warten wir erst mal ab.«