20
»Wenn wir uns alle einig sind«, faßte van Appeldorn zusammen, »dann sollte einer von uns sich auf die Socken machen. Freiwillige vor!«
Seine Laune war seit gestern um etliche Grade gestiegen.
Nachdem sie die verschiedenen Gästelisten durchgekämmt hatten, war ihre Wahl auf Carl op den Hoek gefallen, den Besitzer der Kunstsammlung und zukünftigen Direktor des Museums. Er sollte in einem Festakt bei der Eröffnung die Medaille des Landes Nordrhein-Westfalen erhalten.
»Ich fahre«, sagte Astrid. »Ich will mir das Schloß sowieso angucken. In der Ruine haben wir früher tolle Parties gefeiert. Bin gespannt, was die draus gemacht haben.«
Aber sie kam nicht dazu, sich in Ruhe umzusehen. Es herrschte eine heillose Hektik überall, und op den Hoek hatte überhaupt keine Zeit. Er nahm sie mit ins Schloßcafé, das offenbar schon fertig eingerichtet war und ließ seinen Blick kurz aber wohlwollend über ihren Körper schweifen. Wenn einer der Männer mit ihm gesprochen hätte, wäre er vermutlich ein wenig barscher gewesen.
Carl op den Hoek war über siebzig, aber nichts an ihm wirkte alt. Sein Haar hatte die Farbe von halbreifen Tomaten und stand unter der blauen Baskenmütze in störrischen Büscheln vom Kopf ab. Seine kleinen, kreisrunden Augen glitzerten rabenschwarz.
»Eulenspiegel? Wer soll das sein? Ich habe seit vielen Wochen keine Zeitung mehr gelesen, wie Sie sich wohl vorstellen können. Die Sammlung mußte transportiert, sortiert und gehängt werden und tausend andere Dinge. Selbst wenn in Rußland wieder ein Kernkraftwerk in die Luft geflogen wäre oder die Chinesen uns den Krieg erklärt hätten, ich wüßte es nicht.«
Astrid erläuterte ihm mit viel Geduld, was er wissen mußte. Sie wollte ihn nicht in Panik versetzen, aber ihm sollte schon klar sein, wie ernst die Sache war.
Es war mühsam, denn op den Hoek lief immer wieder zum Fenster und hatte seine Augen überall.
»Also gut«, meinte er schließlich, »ich habe verstanden: Wenn mich jemand anruft, weil er vor oder bei oder nach der Eröffnungszeremonie ein Interview oder etwas ähnliches mit mir machen will, dann soll ich mich umgehend bei Ihnen melden. Richtig? Nein! Geben Sie mir bloß keine Karte! Davon habe ich an die zweihundert Stück in sämtlichen Taschen.«
»Aber Sie brauchen unsere Nummer«, meinte Astrid ein wenig ratlos. »Irgendwo müssen Sie sich doch die wirklich wichtigen Dinge notieren.«
Er guckte genauso ratlos.
»Gibt es irgendwas, das Sie immer bei sich haben?«
Plötzlich grinste er schelmisch und zog die Baskenmütze vom Kopf. »Die lege ich nur zum Schlafen ab. Geben Sie mir Ihre Karte, ich kann sie innen unter das Etikett schieben.«
»Und Sie melden sich unmittelbar, versprochen? Nicht erst noch zehn Bilder aufhängen oder ein entspannendes Vollbad nehmen.«
»Versprochen.«
Sie zweifelte daran, daß er die Geschichte wirklich ernst nahm. Er hatte andere Sorgen – noch.
Toppe saß wieder über den Büchern. Sein Bild von Eulenspiegel wurde immer klarer. Ob ihnen das helfen würde, war ungewiß. Und natürlich konnte er falsch liegen, ganz falsch. Natürlich konnte es sich um Profis handeln.
Aber es war ihm egal, die Meinhard hatte ihn in Urlaub geschickt, und wie er sich in seiner Freizeit vergnügte, war einzig und allein seine Sache.
Er las noch einmal seine Notizen zur sexuellen Motivation von sadistischen Gewalttätern durch: Eine echte sexuelle Orientierung war ausgesprochen selten. Was auf den ersten Blick danach aussah, war vielmehr die Lust am Quälen des wehrlosen Opfers, die Freude an der Erniedrigung, das berauschende Gefühl von Macht.
Ihr Eulenspiegel hatte seine Opfer kränken, lächerlich machen wollen. Und wo hatte er sie gepackt? Da, wo alle drei Opfer am verletzlichsten waren. Bei ihrer Männlichkeit, dem Symbol ihrer Potenz.
Das FBI arbeitete seit langem mit standardisierten Täterprofilen, aber deren Kriterien schienen Toppe doch ein wenig überzogen. Trotzdem, warum sollte er es nicht einmal durchspielen?
Er suchte also nach einem männlichen Weißen, vermutlich zwischen 30 und 50 Jahre alt.
Wahrscheinlich lebte der Mann in keiner festen Beziehung, war ein selbstbezogener Einzelgänger, der keinerlei Rücksicht auf die Bedürfnisse anderer nahm.
Er hatte ein labiles Selbstwertgefühl und besonders vor den Taten ein extremes Gefühl des Versagens. Dabei nahm er das eigene Versagen als Teil einer ungerechten Welt wahr; nicht er selbst, sondern andere waren für sein Schicksal verantwortlich. Autoritäten traute er nicht und schätzte sie gering.
Toppe lachte laut auf: Wenn man dieses Portrait in seinen Formulierungen abschwächte, traf es auf eine ganze Menge Leute zu, die er kannte. Und wenn er nicht aufpaßte, bald sogar auf ihn selbst.
Ächzend streckte er sich und zündete eine Zigarette an. Alles könnte so wunderbar zusammenpassen, wären da nicht der Postraub und dieses dämliche Isolierband.
Wie sagte Ackermann immer? Höchste Zeit, die kleinen, grauen Zellen ins Spiel zu bringen.
Von der Wiese drang das klägliche Blöken der Lämmer in sein Zimmer. Mist, er hatte vergessen, sie zu tränken. Noch immer in Gedanken stapfte er in die Küche und füllte einen Eimer mit Wasser. Drüben am Waldrand, gleich am Ende des Weges, stand eine staubige, schwarze Limousine. Zu sehen war niemand.
Sicher nur ein paar Spaziergänger.
An einem Morgen mitten in der Woche?
Müssen Rentner sein.
In einem amerikanischen Schlitten?
Er schleppte den Eimer zur Vordertür; in zwei Minuten konnte er wieder drinnen sein.
Als er vor das Haus trat, rollte Astrids Wagen auf den Hof.
»Ich bin auf dem Rückweg von Moyland.« Zusammen gingen sie über die Obstwiese zum Wassertrog.
»Wir glauben, op den Hoek könnte das nächste Opfer sein. Was denkst du?«
Toppe stellte den Eimer ins Gras und runzelte die Stirn. »Op den Hoek? Glaub’ ich nicht. Das scheint doch ein anständiger Kerl zu sein.«
»Schon, aber er ist der einzige, der eine offizielle Ehrung kriegen soll.«
»Mag sein, aber er paßt nicht. Birkenhauer, Geldek und Glöckner sind allesamt faule Eier, und deren Auszeichnungen waren allesamt reine Farce.«
»Ich weiß, aber es könnte doch sein, daß op den Hoek irgendwo auch ein paar Schmutzflecken auf seiner weißen Weste hat. Ackermann ist schon dabei, sich umzuhören, und ich wollte gleich mal ins Zeitungsarchiv und sehen, was ich so über ihn finden kann.«
Toppe nahm den Eimer wieder auf und goß das Wasser in den Trog.
»Ackermann hat schon wieder eine andere Gästeliste aufgetrieben«, sagte Astrid. »Er wollte heute abend mal bei dir vorbeikommen.«
Die ganze Woche über hatte es geregnet, aber seit gestern war der Himmel wieder unschuldig blau. Die Luft war noch ein wenig feucht, aber es war doch so warm, daß man selbst jetzt, als es schon auf Mitternacht zuging, noch draußen sitzen konnte.
Irgendwie war Toppe seine kleine Laubeneinweihung aus dem Ruder gelaufen. Er wußte bis jetzt nicht, was ihn geritten hatte, aber letzte Woche hatte er jeden, der ihm in den Sinn kam, angerufen und eingeladen, selbst die Nachbarn. Astrid und Gabi hatten ihn stillschweigend gewähren lassen, und ihm erst, als er vorgestern mit Schrecken die Zahl der Gäste überblickte, ihre Hilfe angeboten. Für mehr als ›die kleine Lösung‹ war keine Zeit gewesen: eine Suppe, Mettbrötchen, Käse, ein paar Fässer Bier, ein paar Kisten Wein. Strohballen zum Sitzen hatten sie beim Bauern geliehen, nur die Beleuchtung war ein Problem gewesen. Bei Fackeln und Lampions hatten sich ihnen die Haare gesträubt, aber es gab ja noch Jupp Ackermann, der sowieso jeden Abend bei Toppe im Zimmer saß und brütete. Er hatte vormittags zahllose Lichterketten angeschleppt und aufgehängt, alle zusammengeliehen. Halb Kranenburg mußte seine Kartons mit der Weihnachtsdekoration aus dem Keller und vom Speicher geholt haben. Ein paar Biertische und Bänke hatte Ackermann auch gleich mitgebracht und auf der Tenne aufgestellt – »falls et ma’ doch regnet.« Nur er selbst konnte heute abend nicht dabei sein, Nadine hatte Abschlußball, »un’ dat Kind geht mir über alles, auch wenn mir dat Herzken blutet.«
Toppe stand im Schatten gegen die Scheunenwand gelehnt und schaute zu. Er hatte mit jedem geredet, auch ein wenig getanzt, aber jetzt wollte er ein paar Minuten Ruhe.
Gabi und Henry saßen abseits vom allgemeinen Trubel auf einem Strohballen und knutschten wie Teenager. Gabi war nicht unbedingt klein, aber neben Henry wirkte sie wie ein Püppchen, ein sehr verliebtes Püppchen. Henry betete sie auf eine kindliche Art an, und sie schien das zu genießen, verkroch sich an seiner breiten Brust, verschwand wohlig in seiner Umarmung. So kannte Toppe sie nicht, es war ihm sehr fremd.
Oliver hatte Henry mit ziemlich großen Augen gemustert und irgendwas von ›Big Foot‹ und den Rocky Mountains gemurmelt und sich dann schleunigst verzogen. Vor zwei Jahren noch hätte er sich darum gerissen, auf einer Erwachsenenfete dabei sein zu dürfen.
Astrid saß zusammen mit Sofia unterm blühenden Birnbaum und unterhielt sich – eine Szene wie aus einem Gemälde.
Selbst Rother war der Einladung gefolgt und hatte allen seine Frau vorgestellt, eine auf den ersten Blick graue, auf den zweiten sehr nette Maus.
Van Gemmern war, wie immer, allein gekommen. Immerhin war er überhaupt gekommen, was Toppe schon für eine große Ehre hielt. Er stand, genau wie Toppe, allein an eine Wand gelehnt, hielt sich an seinem Glas fest und schaute zu. Von Zeit zu Zeit grinste er geheimnisvoll. Im Gegensatz zu Toppe stand er schon seit drei Stunden da.
Wim Lowenstijn hatte in den Schallplatten gewühlt und endlich das richtige gefunden: Tango! Zielstrebig ging er auf Karin Hetzel zu und forderte sie auf. Sie tanzten toll zusammen.
»Na, Alter, hängst du finsteren Gedanken nach«, kam eine Stimme aus dem Dunkel. Es war Arend Bonhoeffer.
»Eigentlich gucke ich nur.«
»Bist du sicher?« Arend reichte ihm ein Glas Wein.
»Danke. Ich weiß nicht. Ich bin mir bei gar nichts mehr sicher.«
»Na, nun rede schon. Ich warte seit Wochen darauf.«
Und obwohl er es gar nicht wollte, erzählte Toppe, wie es ihm ging und redete sich immer tiefer in seinen Frust hinein. »Aber das kannst du vermutlich nicht nachvollziehen«, endete er müde.
»So, kann ich nicht?« sagte Bonhoeffer barsch. »Denkst du tatsächlich, bei mir liefe das anders? Guck dir doch mal die neue Generation von Verwaltungschefs an, die sich jetzt überall an den Krankenhäusern breit macht. Ach was, neu, die sitzen schon ein paar Jahre auf ihren Posten, aber so langsam fängt die verbrannte Erde, die sie auf Schritt und Tritt hinterlassen, an zu stinken. Tipp mich an, und ich halte dir auf der Stelle einen von diesen hohlen Pseudovorträgen über Qualitätsmanagement und Standardsicherung. Obwohl ich mich nach Kräften bemühen müßte, nicht zu kotzen. Diese ganzen Möchtegern-Manager: alles nur schlecht verkleidete Diktatoren: Das Team bin ich! Begrenzt, fixiert auf ihren kleinen Blickwinkel, ausgebildet, doch ohne jegliche humanistische Bildung, dafür aber mit viel Macht, die ihnen zu Kopf steigt.«
»Arend!« Toppe blieb die Spucke weg. »Ich habe noch nie erlebt, daß du dich wirklich mal aufregst.«
»Ich rege mich auch höchst selten auf, weil es sich nicht lohnt. Aber so langsam habe ich die Nase gestrichen voll. Was in diesem Land abgeht, ist aberwitzig!«
»Na ja«, meinte Toppe, »aber du bist wenigstens Chefarzt. Du bestimmt noch selbst, wo’s langgeht, wie deine Abteilung laufen soll.«
»Schön wär’s.« Bonhoeffer lachte bitter auf. »Chef? Abteilungsleiter bin ich und genauso eine Marionette wie du. Kleine Abteilungen wie meine sollen jetzt ausgelagert werden. Das unternehmerische Risiko sollen wir jetzt selbst tragen, auch für notwendige Investitionen sind wir zuständig, aber unsere Gewinne werden weiterhin ans Haus abgeführt.« Er trank einen Schluck. »Du siehst, mir geht es auch nicht besser.«
Toppe nickte. »Was mich am meisten fertig macht, ist dieser bekloppte Ansatz. Guck dir an, was an den Schulen passiert. Die sollen jetzt funktionieren wie Wirtschaftsunternehmen. Daß es da vielleicht auch um Pädagogik geht, um Kinder, das interessiert nicht mehr. Das ist nur hinderlich. Und bei dir im Krankenhaus scheint’s ja nicht besser zu sein. Es gibt einfach Bereiche, die lassen sich nicht funktionalisieren und automatisieren, nämlich die, in denen es um Menschen geht.«
»Wie in deinem Beruf auch«, bestätigte Bonhoeffer. »Und wenn du den Mund aufmachst, rennst du gegen Beton wände.«
»Was ist das denn hier?« Lowenstijn stand da mit Karin Hetzel im Arm. Er hatte seine Tweedjacke gegen einen weichen irischen Pullover vertauscht. »So eine Art Klagemauer?«
Toppe und Bonhoeffer grinsten nur und prosteten ihm wie auf Kommando zu.
»Was ich dich eigentlich fragen wollte, Helmut, du bist doch, wenn man es so nennen will, im Urlaub. Ich brauche Hilfe.«
Lowenstijn hatte endlich ein passendes Haus gefunden, eine Jugendstilvilla in Hochelten. Sie wurde gerade renoviert, und er wollte bald einziehen. »Ich brauche dann einen kräftigen Mann zum Möbelschleppen.«
»Klar, mach ich gern. Du mußt nur anrufen. Wirst du weiter in Nimwegen arbeiten?«
»Ich weiß noch nicht«, meinte Lowenstijn und spielte an Karins Halskette herum. »Kann sein, daß ich bald auf Privatier mache. Kleinere Ermittlungen für reiche Bonzen.«
Karin legte ihre Hand um die Kette und zog sie vorsichtig weg. »Mich kannst du auch anrufen, wenn du Hilfe brauchst. Ein holländischer Millionenerbe in einer Villa in Elten mit einem englischen Butler. Da könnte man eine gute Geschichte draus machen.«
»Ich rufe dich bestimmt an, wenn ich Hilfe brauche.« Lowenstijn sah ihr tief in die Augen.