13

Toppe wußte auch später nicht, was ihn eigentlich geweckt hatte.

Mitten aus einem bedrückenden Traum heraus fand er sich plötzlich sitzend und hellwach in seinem Bett. Es brannte!

Er konnte sich nachher auch nicht mehr daran erinnern, daß er sich angezogen hatte, Hose, Pullover, Socken – nur die Schuhe hatte er vergessen – aber er wußte genau, daß sein Wecker 3 Uhr 12 angezeigt hatte.

Es war der Hühnerstall, der seitlich an die Tenne angebaut war, und als Toppe aus der Hintertür stürzte, schlugen die Flammen schon aus dem Dach.

Er rannte zurück ins Haus und brüllte. Astrid taumelte in die Halle, weiß wie die Wand.

»Es brennt! Der Hühnerstall, lichterloh! Ruf die Feuerwehr!« Damit stürmte er die Treppe hoch und bollerte gegen Gabis Tür, dann gegen Olivers. Christians Zimmertür stieß er auf, aber das Bett war leer. Er blinzelte einen Moment verwirrt, dann fiel ihm ein, daß der Junge in Köln war.

»Feuer!« schrie er.

Gabi stolperte auf den Flur.

»Es brennt, raus hier! Schnell!«

Oliver tauchte auf und hinter ihm, splitterfasernackt, Stefanie.

Der Toppehof war das letzte Haus in der einseitig bebauten Straße, nur hundert Meter weiter begann der Wald. Trotzdem hatte sich ein ganze Menge Gaffer eingefunden.

Der Brand schien endlich unter Kontrolle zu sein. Vom Hühnerstall war so gut wie nichts mehr übrig, und das Dach der Tenne hatte ordentlich was abgekriegt, aber das Wohnhaus würde verschont bleiben.

Toppe merkte plötzlich, wie kalt ihm war. Im Hinauslaufen hatten sie alle ihre Mäntel von der Garderobe gerissen, aber Toppe hatte seinen dem nackten Mädchen übergeworfen.

Der Brandmeister nahm seinen Helm ab, wischte sich mit einem Tuch über die glänzende Stirn und kam zu ihm. »Alles in Ordnung«, sagte er ruhig. »Jetzt passiert nichts mehr. Warum gehen Sie nicht auch und wärmen sich ein bißchen auf?«

Toppe rieb sich die Arme. Seine Augen waren trocken wie Sandpapier, und die Kehle wurde ihm eng, als er das Mitgefühl des anderen spürte. Sie kannten sich seit Jahren.

»Ihre Familie ist drüben bei den Nachbarn.«

»Ich weiß.« Toppe schlugen die Zähne aufeinander. »Haben Sie schon eine Ahnung, wie das Feuer entstanden ist?«

»Noch nicht. Aber gehen Sie jetzt zu Ihrer Familie. Ich komme, sobald ich etwas weiß. Versprochen.«

Toppe kannte die Nachbarn nur vom Sehen; manchmal, wenn er im Garten gewesen war, hatten sie sich über die Hecke hinweg einen guten Tag gewünscht. Das Ehepaar Brock war noch jung, höchstens Dreißig; sie hatten drei kleine Töchter, die jüngste gerade mal zwei, aber die Frau war schon wieder hochschwanger.

Sie öffnete ihm die Tür. »Ich habe mir schon gedacht, daß Sie das sind. Sie müssen ja blau gefroren sein. Kommen Sie schnell durch ins Wohnzimmer«, sagte sie, die Stimme schwer vor Mitleid. »Dort rechts. Ich hole nur eben den Kaffee aus der Küche. Sie wollen doch welchen?«

»Danke, ja«, antwortete Toppe heiser.

Das schmucke, neue Haus war blankgewienert, und die ganze Einrichtung sah aus, als sei sie erst gestern geliefert worden, komplett mit Dekoration, von einem der Möbelmärkte, deren Broschüren man jede Woche als Beilage in der Tageszeitung fand.

Toppe drückte die Messingklinke und trat ins Wohnzimmer. Helle Eiche, wohin man schaute, die Eßecke, die lange Schrankwand, die Tische, die Lampen und die Blumensäulen. Bausparvertrag, Verlobung, zweiter Sparvertrag, Haus bauen, Möbel aussuchen, Heiraten, Kinder kriegen.

Auf dem Sofa vor dem offenen Kamin saßen Astrid und Gabi und sahen ihm gespannt entgegen. Der junge Herr Brock sprang sofort aus seinem Sessel hoch und hielt ihm linkisch die Hand hin. »Schlimm, daß man sich deswegen kennenlernen muß.«

»Ja, schlimm«, verstand Toppe ihn richtig. »Der Brand ist jetzt unter Kontrolle. Unser Wohnhaus hat nichts abgekriegt.«

»Gott sei Dank«, flüsterte Gabi, und Astrid nickte. »Ich habe es vom Fenster aus gesehen. Gut, daß kein Wind ist.«

Hinten am Eßtisch saß Stefanie und starrte Toppe an wie ein verschrecktes Kaninchen. Sie trug jetzt einen roten Trainingsanzug, und er fragte sich flüchtig, was Brocks wohl gedacht haben mußten. Oliver saß zwei Stühle weiter und schaute stur zu Boden.

»Setzen Sie sich doch!« Frau Brock drückte ihm einen Becher Kaffee in die Hand. »Zucker und Milch stehen auf dem Tisch. Horst, leg Holz nach. Herr Toppe ist ganz durchgefroren.«

Der Mann schien froh, daß er was zu tun hatte.

Schwerfällig ließ sich Frau Brock auf der Sesselkante nieder und spreizte die Beine.

»Wollen Sie nicht lieber wieder ins Bett gehen?« faßte Astrid ihre Hand.

»Ach nein, ich könnte sowieso nicht schlafen, bin viel zu aufgeregt. Mir geht es gut.« Sie klopfte leicht auf ihren Bauch. »Ist nur lästig. Aber mein Mann will so gern noch einen Jungen.«

Herr Brock fand am Kamin nichts mehr zu tun. Er setzte sich wieder auf seinen Platz und räusperte sich. »Ich hab schon zu Ihrer Frau gesagt: Da wohnt man bald schon Jahre nebeneinander und weiß gar nicht, was man für berühmte Nachbarn hat. Ich hab Sie nämlich in der Zeitung gesehen.«

Toppe probierte zu lächeln. »Ich bin doch nicht berühmt.«

Dann trank er den Becher Kaffee in kleinen Schlucken leer. So langsam kriegte er wieder Gefühl in den Zehen, und seine Hände fingen an zu kribbeln.

»Weiß man schon was?« fragte Gabi.

Er schüttelte den Kopf. »Sie sagen uns Bescheid.«

»Das kann dauern«, bemerkte Brock finster und knetete seine Finger.

»Wollt ihr Kinder nicht doch einen Kakao oder eine heiße Milch?« fragte die Frau.

Kinder! Toppe schnaubte innerlich und spürte, daß Gabi ihn ansah.

»Nein, danke«, kam es einmütig und sehr höflich vom Eßtisch.

»Jaa …« Brock verschränkte die Arme. »Und Sie sind die Schwägerin vom Kommissar?«

Gabi runzelte die Stirn. »Ich? Nein! Wie kommen Sie denn darauf?«

Brock warf seiner Frau einen vorwurfsvollen Blick zu. »Das wird so erzählt. Sie wären die Witwe von seinem Bruder.«

Toppe hörte Oliver hinter sich grunzen, schaute aber nicht hin. »Nein«, sagte er. »Sie war meine Frau. Wir sind geschieden.«

»Ach so, natürlich, ja.«

»Und wer sind Sie dann?« konnte Frau Brock sich nicht mehr bremsen.

»Ich bin seine Geliebte«, erklärte Astrid besonders schlicht.

»Ich wollte nicht … Verzeihung!« Die Frau war rot geworden.

Toppe stand auf und ging zum Fenster hinüber. Es wurde schon hell. Von hier aus konnte man ihr Haus nicht sehen.

»Ich gehe wieder raus. Ist mein Mantel irgendwo?«

Frau Brock setzte an, sich aus dem Sessel zu hieven, aber Astrid hielt sie zurück. »Ich weiß, wo der Mantel hängt. Bitte, bleiben Sie sitzen. Sie tun schon genug für uns.«

»So was macht man doch gern.«

»Ja«, besann sich Toppe. »Es ist wirklich sehr nett, daß Sie sich so um uns kümmern.«

»Wir sind Ihre nächsten Nachbarn«, sagte Brock bestimmt. »Da ist das doch wohl selbstverständlich.«

Das erste Feuerwehrauto fuhr gerade ab, die anderen Fahrzeuge hatten das Blaulicht und die Scheinwerfer ausgeschaltet – der Tag kam schnell. Die Luft war noch scharf vom Rauch und von der Hitze des Feuers, aber den Vögeln schien das nichts auszumachen, sie begrüßten den neuen Morgen mit einem jubelnden Frühlingskonzert. Toppe hatte sie noch nie so laut und fröhlich gehört.

Der Brandmeister stand mit seinen Stiefeln bis zu den Knöcheln in matschiger Erde und Löschwasser.

»Schlechte Nachrichten«, sagte er, als Toppe neben ihm war, aber das hatte der ihm schon vom Gesicht abgelesen. »Ich will mich nicht festlegen, aber es sieht verdammt nach Brandstiftung aus.«

Toppe hatte anfangs ganz kurz mal daran gedacht, es aber sofort wieder verworfen. Irgendein Kurzschluß, hatte er überlegt. Die Leitungen in den Ställen waren über fünfzig Jahre alt, und das Geld hatte bisher nicht gereicht, sie erneuern zu lassen. Und im stillen hatte er sich schon Vorwürfe gemacht: Wenn er beim Umbau auf den offenen Kamin in seinem Zimmer verzichtet hätte … Aber Brandstiftung? Wer denn? Und warum?

»Das ist irgendwie eine dämliche Situation«, meinte der Feuerwehrmann zögernd, »aber eigentlich müßte ich jetzt Ihnen den Fall übergeben.«

Toppe nickte benommen. »Ja, verrückt, nicht?«

»Sie sollten erst mal Ihre Spurensicherung kommen lassen. Van Gemmern ist mit Bränden sehr fit, das habe ich schon öfter erlebt. Der soll entscheiden, ob wir die Experten aus Krefeld überhaupt brauchen.«

»Können wir zurück ins Haus?«

»Ja, aber ich lasse noch eine Brandwache da. In Ordnung?«

Als die beiden Feuerwehrautos abfuhren, kamen Astrid und Gabi und hinter ihnen Oliver mit Stefanie. Brocks standen an ihrem Küchenfenster und guckten.

»Wir können wieder ins Haus.« Toppe hielt die Tür auf.

Ein übler Gestank schlug ihnen entgegen.

Stefanie schlich an ihm vorbei, mit geschürzten Lippen und ohne einen Blick. Er schaute Oliver an, Oliver mit dem kleinen Kinn und der runden Stirn, und auf einmal hatte er eine gemeine Wut im Bauch. »Willst du nicht dafür sorgen, daß diese kleine. Er kriegte die Kurve so gerade noch, ». daß deine Freundin nach Hause kommt?«

Aber er wartete die Antwort nicht ab, sondern lief hinter den beiden Frauen her. »Hast du das gewußt, Gabi?« bellte er. »Hast du das etwa hinter meinem Rücken erlaubt, he?«

»Was denn?« Sie hatte Tränen in den Augen.

»Daß dieses Flittchen bei ihm schläft?«

»Du spinnst doch! Natürlich nicht.« Und dann fing sie an zu schluchzen.

Astrid funkelte ihn wütend an. »Gibt’s nichts Wichtigeres? Guck dich doch mal um!«

Alles war von einem grauschwarzen Film überzogen, die Fensterscheiben, die Türen, jedes Möbelstück, die Böden, die Wände, selbst Polster und Kissen – fettiger, stinkender Ruß saß in allen Ecken und Winkeln.

Gabi hatte den Topfschrank geöffnet. »Oh nein, sogar in den Schränken!« Sie riß andere Türen auf. »Guckt euch das Geschirr an, die Gläser!«

»Wir sind doch versichert«, meinte Toppe zuversichtlich, aber Gabi fuhr zu ihm herum. »Ach prima! Zahlen die auch die Putzkolonne? Und willst du darauf etwa warten?«

Astrid gab sich einen Ruck. »Auf jeden Fall rufen wir jetzt erst mal bei der Versicherung an. Wo ist die Nummer? Helmut, der Ordner ist in deinem Zimmer.«

»Es ist Sonntag.«

»Das weiß ich«, meinte sie ungeduldig. »Aber Feuerversicherungen haben doch wohl einen Notdienst, oder?«

Ihre Versicherungsgesellschaft hatte jedenfalls keinen.

Klaus van Gemmern klingelte, bevor er sich an die Arbeit machte.

»Übel«, sagte er, und der Ausdruck in seinen Augen ließ ahnen, daß das eine Beileidsbekundung sein sollte.

»Kann man wohl sagen«, meinte Toppe. »Soll ich mitkommen? Sie sind ja offensichtlich allein.« Er streckte den Kopf aus der Tür.

Van Gemmern trat einen Schritt zurück. »Ja, bin ich, man glaubt es kaum. Ich mache mich an die Arbeit.«

Womit Toppes Frage nach Mithilfe erschöpfend beantwortet war und er zurückkehrte zu den Wannen und Eimern mit heißer Lauge, den Scheuerschwämmen, durchweichten Küchenhandtüchern und der Stimmung, die ständig kippelte zwischen »alle zusammen schaffen wir das schon« und »ich leg’ mich in mein Bett und heul’ mich aus«.

»Was will Klaus denn hier?« stellte Astrid sich ihm in den Weg.

Er sagte es ihr.

»Wie bitte? Brandstiftung?« Sie tippte sich an die Stirn. »So ein Blödsinn!« Dann machte sie sich wieder an die Arbeit.

»Die zweite Maschine Bettwäsche und Handtücher ist durch«, war Oliver auf einmal da, als Toppe gerade versuchte, eine Wand in der Halle abzuwaschen, und feststellte, daß die genauso wie alle anderen Wände neu gestrichen werden mußte.

»Ich könnte jetzt vielleicht die Türen und das Treppenhaus abwischen.«

Toppe ließ den Lappen ins Wasser platschen.

»Was für eine Scheiße, Papa«, meinte der Junge erstickt, und Toppe nahm ihn schnell in die Arme.

»Wo ist Steffi?« murmelte er in den Haarwust.

»Schon lange zu Hause. Tut mir leid, Papa, wirklich, ich.«

Toppe drückte ihn kurz an sich. »Schmeiß die nächste Waschmaschine an, Oliver.«

Das Schniefen hörte auf. »Okay, und dann mache ich die Türen.«

Irgendwann hielt Toppe es doch nicht mehr aus und ging nach draußen. Van Gemmern hockte auf den Knien im Dreck und sprach in sein Diktaphon.

Es stank erbärmlich nach verkokelten Federn und verbranntem Fleisch. Das jämmerliche Naß da in der Ecke mußte der Hahn gewesen sein.

Van Gemmern richtete sich auf. »Eindeutig Brandstiftung. Zeitzünder der einfachsten Art, aber sehr zuverlässig.« Damit bückte er sich schon wieder und sammelte die Plastiktüten mit den Proben ein, die er genommen hatte.

Toppe wußte, daß man van Gemmern nie drängen durfte, aber in diesem Augenblick war ihm das schnurzegal. »Und was heißt das konkret?«

Wunderbarerweise lächelte van Gemmern ihn an. »Konkret sage ich jetzt gar nichts, aber ich fahre sofort ins Labor, und in ungefähr einer Stunde melde ich mich dann bei Ihnen.« Er drehte sich um. »Der kleine Chemiker«, hörte Toppe ihn murmeln, »Teil eins. Gar nicht schlecht.«

»In einer Stunde?« Toppe sah auf die Uhr. »Sie brauchen nicht zufällig Hilfe im Labor?«

»Nein, aber Sie können trotzdem mitkommen.« Van Gemmern schloß seinen Koffer.

»Kommen Sie, ich zeige Ihnen was.« Er trat ein paar Schritte zur Seite und ging in die Hocke. »Hier!«

Toppe erkannte einen glatten, leicht verwischten Abdruck.

»Was soll das sein?«

»Da hat sich einer Lappen um seine Schuhe gebunden. Ein alter Trick.«

Der Boden war überall zertrampelt von schweren Feuerwehrstiefeln, aber van Gemmern konnte den verwischten Tritten trotzdem folgen: quer über den hinteren Hof, ein Stück auf dem angrenzenden Feld entlang Richtung Wald.

»Nur eine Spur, sehen Sie? Und zwar – kommen Sie mit – hin und zurück. Da!«

»Also nur eine Person?«

»Richtig, und wenn Sie mich fragen, ein Mann. Oder aber eine Frau mit außergewöhnlich großen Füßen. Ich schätze Schuhgröße 46.«

Zweiundsiebzig Minuten später wußte Toppe, wie der Brand gelegt worden war. Jemand hatte das Stroh im Hühnerstall mit Natriumchlorat getränkt und darauf ein Aluminiumschälchen mit Salzsäure gestellt. Nach einer Weile hatte sich die Säure durch das Metall gefressen, und die Reaktion mit dem Natriumchlorat hatte das Stroh in Brand gesetzt.

»Das dauert circa sieben Minuten«, meinte van Gemmern. »Wenn man die Salzsäure verdünnt, bis zu zehn Minuten. Der Täter hatte also genügend Zeit zu verschwinden. Die Zutaten für diesen Zeitzünder kann sich jeder von uns im Laden besorgen. Unkraut-Ex zum Beispiel besteht aus Natriumchlorat, und das kriegt man in jeder Drogerie. Und statt Salzsäure kann man einfachen Zementschleierentferner nehmen.«

Mit einer Pinzette hob er ein Metallstückchen hoch. »Das ist die Aluhülle von einem ganz normalen Teelicht. Da hat er die Säure reingekippt.«