17

Den ganzen Tag lang stand das Telefon nicht still, und Astrid ließ Oliver alle Anrufer, bis auf Walter Heinrichs, abwimmeln. Mit dem sprach sie allerdings etliche Male.

Toppe schlief wie ein Toter bis zum Abend. Als er endlich die Augen aufschlug, fand er seine komplette Familie in seinem Zimmer versammelt; sogar Christian war da.

»Was macht ihr denn alle hier?« Er setzte sich langsam auf. »Steht es so schlecht um mich?«

Gabi kam sofort gelaufen, umarmte ihn und blinzelte ein paar Tränen weg. »Du Blödmann! Jahrelang hatte ich diesen Alptraum, daß dich mal jemand über den Haufen schießt, und jetzt, wo ich ihn endlich los bin, machst du solchen Mist.«

Er nickte und lächelte dann. »Ich weiß, es klingt prosaisch, aber ich habe einen ganz gemeinen Hunger.«

»Wir warten nur auf deine Wünsche«, sagte Astrid munter.

Toppe schloß die Augen. »Fleischrolle spezial, doppelte Pommes, doppelt Mayo und zwei Bier«, antwortete er genießerisch.

Gabi lachte laut auf. »Da macht dieser Mensch die ganze Zeit einen auf feine italienische Frischeküche, aber wenn er einen Seelentröster braucht, dann kommt so was!«

»Ich fahre zur Frittenbude.« Christian stand auf. »Was wollt ihr anderen?«

Toppe hielt Gabi an der Hand fest. »Apropos Seelentröster und so. Ich habe da was läuten hören. Sagt dir vielleicht der Name Henry Smit etwas?«

Gabi verdrehte die Augen. »Radio Tam-tam, ist es zu glauben! Dabei kennen wir uns gerade mal drei Wochen. Willst du im Bett essen?«

»Bloß nicht! Dann komme ich mir vor wie ein Schwerkranker.«

Beim Essen sprachen alle über alles, nur nicht über den Schuß, aber Toppes Hochstimmung verebbte schnell, und das zweite Bier schmeckte ihm nicht mehr.

Astrid ging mit ihm in sein Zimmer zurück. »Wir müssen jetzt drüber reden.«

»Ja, sicher.« Vorsichtig ließ er sich im Sessel am Kamin nieder. Die Wunden pochten dumpf, und auch der Schmerz im Rücken meldete sich zurück. »Aber viel zu erzählen habe ich nicht. Außer, daß ich mich wie ein Anfänger benommen habe. Ich war sauer auf die Meinhard, sauer auf mich selbst und bin völlig in Gedanken da rumgestiefelt, hab’ nicht nach rechts und links geguckt. Den Schuß habe ich erst realisiert, als ich schon platt am Boden lag. Er kam von rheinabwärts, aus Richtung der Wasserkontrollstation.«

»Das ist doch schon mal etwas. Dann wissen van Gemmern und Rother wenigstens, wo sie morgen suchen müssen. Die haben zwar heute schon den ganzen Nachmittag nach einer Kugel und einer Patronenhülse gestochert, aber das war natürlich hoffnungslos. Es war nur ein Schuß?«

»Ja, aber ich könnte dir nicht mal sagen, ob der aus einer Pistole, einem Gewehr oder einer Bazooka gekommen ist.«

»Du hast vorhin gesagt, du wärest ausgerutscht?«

»Ja, ich bin gestolpert und gerutscht. Da. da muß der schon auf mich angelegt, fast schon abgedrückt haben.«

Astrid sah ihn lange an.

»Nein«, meinte er beschwichtigend. »Ich glaube eigentlich nicht, daß der mir ans Leben wollte. Wenn es unser Attentäter war, schätze ich, er hatte es auf mein Gemächt abgesehen.«

»Ich habe trotzdem Angst, Helmut.«

»Andererseits«, überlegte er weiter, »wenn der schon angelegt hatte, und ich rutsche in dem Moment runter, muß er eigentlich auf meine Beine gezielt haben.«

»Soll mich das etwa trösten? Vielleicht war er nur ein schlechter Schütze.«

»Ach komm, Unkraut vergeht nicht. Und außerdem, vielleicht war ich als Person ja gar nicht gemeint. Auffälliger als ich konnte man sich kaum benehmen. Hat nur noch ein Banner gefehlt: ›Seht her, ich bin Polizist!‹ Im Streifenwagen bin ich durch den ganzen Ort gefahren, den parke ich dann mitten vor der Kirche, lungere noch auf dem Friedhof herum, und dann stapfe ich auch noch auf den Deich. Eine bessere Zielscheibe gab’s ja wohl nicht.«

Astrid stöhnte gereizt. »Versuch nicht, mich einzulullen! Du weißt genauso gut wie jeder andere, daß du gemeint warst. Und ab heute gehst du nirgendwo mehr hin. Du bleibst im Büro und machst den Aktenführer. Daß das schon mal klar ist!«

Toppe mußte lachen. »Und dann jagt dieser Verrückte mit einer Bombe das gesamte Präsidium in die Luft. Als er den Brand gelegt hat, war es ihm schließlich auch egal, daß meine ganze Familie im Haus war.« Er faßte ihre beiden Hände. »Astrid, ich kann davor nicht weglaufen. Aber wenn wir uns jetzt verrückt machen, kriegen wir den Kerl oder die Bande nie.«

Sie seufzte nur. »Ein paar Bimmener haben heute morgen Fremde im Dorf gesehen«, meinte sie nach einer Weile, »aber was stellt sich raus, als Walter sich die Personenbeschreibungen geben läßt? Die meinten uns! Guter Witz, oder? Mehrere von uns waren ja noch wegen Glöckner in Bimmen unterwegs. Norbert kannst du eigentlich nur ganz knapp verpaßt haben.«

»Wo warst du eigentlich?«

»Ich hockte dämlich bei diesem Kinderpsychologen in Kevelaer«, antwortete sie und war wieder wütend. »Und als Walter mich endlich erreicht hat, warst du schon im Krankenhaus.«

»Wer hat mich gefunden?«

»Der Küster mit seiner Frau; völlig unverdächtig leider. Du bist ganz blaß. Hast du Schmerzen?«

»Es geht noch.«

»Warte, ich hole die Tabletten.«

»Nein, laß, später. Wie ist es mit Günther und dem Pfannkuchenhaus gelaufen?«

»Einzelheiten weiß ich noch nicht, aber es war wohl ein Erfolg.«

»Mist«, fiel es Toppe ein, »ich muß Stein anrufen. Der hat auf mich gewartet.«

»Mit dem habe ich schon telefoniert. Jedenfalls sind die beiden Geschäftsführer von diesem Blini-Laden vorläufig festgenommen. Und so wie ich gehört habe, sitzt Norbert immer noch im Büro und wartet darauf, daß Günther mit denen fertig wird, und er sie sich selbst kaufen kann. Die werden kaum was zu lachen kriegen. Du kennst ihn ja. Aber eigentlich sind alle ziemlich aus dem Häuschen. Sogar die Chefin macht Druck.«

»Die Chefin, ach ja? Wir machen die ganze Zeit schon Druck«, meinte Toppe resigniert. »Und? Bringt’s was?«

Astrid verzog das Gesicht und antwortete nicht.

»Mal abgesehen davon, daß jemand auf mich schießt«, murmelte er.

Keiner machte sich in irgendeiner Weise lustig über Toppes Seemannsgang, als er am Dienstag morgen zur Arbeit kam. Die Kollegen von der Wache grüßten mitfühlend, und Flintrop hielt ihm sogar die Tür auf. »Geht’s?«

»Danke, ja. Die Treppe wird ein Problem, aber ich lasse mir Zeit.«

Und das tat er dann auch, er wußte sowieso, was ihn oben erwartete. Den ersten Segen hatte er heute früh schon von Astrid gekriegt, die ihn für hirnverbrannt hielt, weil er heute arbeiten wollte, und wütend ohne ihn gefahren war. Wahrscheinlich hatte sie geglaubt, er könne noch nicht selbst Auto fahren, aber da hatte sie sich geirrt.

Als er die Tür zum Büro öffnete, schüttelte sie nur den Kopf und drehte sich wortlos zum Fenster. Auch Heinrichs guckte ihn grimmig an, aber das wollte nichts heißen; der sah immer so aus, wenn ihm etwas an die Nieren ging.

Nur Ackermann lachte. »Nich’ kaputt zu kriegen, wa, Chef? Modell: deutsche Eiche! Oder wie habbich dat?« Dann trat er so nah an Toppe heran, daß der sich fragte, wann Ackermann sich wohl zuletzt die Zähne geputzt hatte. »Wenn wir dat bekloppte Dreckschwein geschnappt haben, dem zieh’ ich bei lebendigen Leib die Pelle ab. Wie bei meine Karnickel. Un’ schnappen tun wer den. Da könnter mich aber für ankucken!«

Toppe nickte dankbar und tippte Astrid auf die Schulter. »Hör auf zu schmollen, mein Täubchen. Mir geht es wunderbar, ehrlich. Jetzt komm, auf uns wartet Arbeit.«

»Das sehe ich ganz anders«, kam es von der Tür.

Na dann, dachte er, die letzte Hürde nehmen wir auch noch.

»Sind Sie nicht krank geschrieben?«

»Nein, Frau Meinhard, bin ich nicht.« Er reckte seine 190 cm. Er verschwieg, daß er eigentlich zum Verbandswechsel hätte gehen sollen, und daß sie ihn sicher danach krank geschrieben hätten. Auch Astrid wußte das, aber sie hielt den Mund.

Die Chefin war unbeeindruckt. »Dann möchte ich, daß Sie unverzüglich Urlaub nehmen.«

»Das werde ich nicht tun. Wir brauchen jeden Mann.«

»Sie haben immer noch nichts begriffen, nicht wahr? Es ist nicht zu fassen! Übrigens, dies ist nicht mein letztes Wort in der Angelegenheit. Wir sprechen uns noch.«

Die Tür knallte ins Schloß, und Toppe grinste: Sieh da, die Fassade bekam kleine Risse. »Wo steckt Norbert?«

»Keine Ahnung«, zuckte Heinrichs die Achseln und sah schon freundlicher aus. »Ich vermute, der hat sich die halbe Nacht mit diesen Pfannkuchenheinis um die Ohren gehauen. Aber frag mich nicht.« Er tippte auf seinen Monitor. »Einen Bericht hat er noch nicht geschrieben.«

Ackermann schob Toppe einen Stuhl hin. »Wenn man bloß ir’ndwo ’n Kissen herkriegte!«

»Geht schon. Hat Meinhard die Soko mittlerweile aufgelöst, oder wo sind unsere Helfer?«

»Soko is’ ab heut’ nich’ mehr. Wir wären mit de Altlasten durch, sacht Charly. Wenn da ma’ bloß wat bei rumgekommen war’, aber Pustekuchen!«

Auch Astrid setzte sich. »Na gut, dir ist sowieso nicht zu helfen, Helmut. Also, wie ich dich kenne, fangen wir mit Glöckner an.«

»Ja, eins nach dem anderen. Wenn unsere erste Theorie stimmt, muß Glöckner irgendwie in dieser Unternehmermafia mit dringehangen haben.«

»Der?« rief Ackermann. »Nie!«

»Wieso sind Sie denn da so sicher? Ich wollte Sie eigentlich bitten, sich mal genauer umzuhören.«

Ackermann salutierte. »Gebongt! Aber wißt ihr, wat ich mich die ganze Zeit schon frach? Wieso is’ dat Arschloch ein’tlich Ehrengast bei de Messe? Ich mein’, der reißt sich so ’n Kirchending unter ’n Nagel, wat ihm nich’ gehört – un’ kein Mensch kann mir erzählen, dat der dat all die Jahre nich’ gewußt hat! – un’ weil er dat dann endlich den rechtmäßigen Besitzer wiedergibt – un’ ich könnt’ drauf wetten, der krichte bloß langsam Muffe wegen Fegefeuer un’ so –, gibbet für den noch ’ne Ehrung. Dat is’ doch hirnrissig! Habbich schon gedacht, wie ich dat am Freitach inne Zeitung gelesen hab. Un’ wißter wat? Ich wett’ auch drauf, der hat dat selbs’ vorgeschlagen, dat mit de Ehrung, der alte Geck.«

Toppe, Heinrichs und Astrid sahen ihn verständnislos, aber geduldig an.

»Ach, ihr kennt den Piepenkopp nich’! Hat doch fast jede Woche ’ne Huldigung inne Presse stehen. Schreibt er übr’ens alle selbs’, hab ich mir sagen lassen. Wegen Tschernobyl-Kinder, die er persönlich all’ gerettet hat, un’ Krebshilfe un’ wat weiß ich. Er hat ja soga’ dat Bundesverdienstkreuz, eigenhändig beantracht. Un’ so ’n Schpleen mit de Kirche hatte der sowieso. Aber au’ spitze Ellbogen. Der hat so manch einen aussem Rennen gekickt. Der Typ war die Pest am Arsch, wenner mich fracht. Dat den einer über die Klinge gehen lassen wollt’, also, mich wundert dat nich’. War bestimmt schonn anne eigene Seelichsprechung am murksen. Aber, tja, zu spät, Pech, wa? So kannet gehen.«

Toppe schaffte es endlich, dazwischen zu kommen. »Können wir das mal im Klartext haben? Wen hat Glöckner aus dem Rennen gekickt? Wer wollte ihn über die Klinge springen lassen, und warum?«

»Wat? Ja, weiß ich au’ nich’. Aber dem sein einer Jung’ war bei mir inne Klasse. Wat dat Kind von seinem Alten verprügelt worden is’, noch mit siebzehn, dat geht auf keine Kuhhaut! Aber immer schön heimlich im Keller, damit et de Nachbarn nich’ mitkriegen. Seine Frau hat er au’ oft genuch durchgelassen. Aber jeden Sonntach brav inne Kirche un’ immer de christliche Nächstenliebe un’ de Barmherzigkeit inne Schnauze!«

Es klopfte, und Charlotte Meinhard war wieder da. Diesmal mit einem Stück Papier in der Hand.

»Ich habe gerade mal Ihre Überstunden addiert«, meinte sie süß. »Also, da kommt ja einiges zusammen. Es hat keinen Sinn, wir müssen endlich mit dem Ausgleich beginnen. Bei Ihnen, Herr Toppe, komme ich auf fast drei Wochen, und das geht nun auf gar keinen Fall. Es liegt auf der Hand, daß Sie den Anfang machen. Ab heute! Schöne freie Tage, wünsche ich.«

Toppe preßte die Kiefer zusammen.

»Und damit keine Zweifel aufkommen, dies ist eine dienstliche Anweisung.«

Dann wandte sie sich an Astrid. »Wo steckt denn Herr van Appeldorn? Ich möchte, daß er vorübergehend die Leitung übernimmt. Übrigens, Herr Toppe«, sah sie ihn wieder an, »ich werde eine entsprechende Mitteilung an die Presse geben. Wenn Sie selbst zu … stur … sind, muß ich eben für Ihren Schutz sorgen.«

Seine Wut hielt gerade mal so lange, bis er im Auto saß, dann machte sie der ohnmächtigen Trauer Platz, gegen die er seit Monaten ankämpfte.

Er hatte nie etwas anderes sein wollen als Polizist. Das Abitur hatte er damals nur nachgemacht, um bei der Kripo einsteigen zu können. Dabei war er wirklich gut gewesen in Englisch und Französisch, in Deutsch sogar sehr gut. Hundert andere Möglichkeiten hätte er gehabt. Jetzt hatte er keine mehr. Die Meinhards mit ihren Vernetzungen, ihren Supervisionen, ihrem Teamgeistgeschwafel und ihrer erbärmlichen Unfähigkeit schossen überall aus dem Boden. Wie sollte er noch fünfzehn Jahre durchhalten, ohne verrückt zu werden?

Seit Wochen sprach er sich dieselben Sätze wie eine Beschwörungsformel vor: Ich bin gesund, ich habe Arbeit, ich habe ein Dach über dem Kopf, ich lebe in einer glücklichen Familie. Es steht mir nicht zu, zu jammern.

Heute half ihm das gar nichts. Vielleicht half es nie mehr. Seine Augen brannten, wie so oft in letzter Zeit.

Er war einfach nur so durch die Gegend gefahren, und als die Bimmener Kirche vor ihm auftauchte, zuckte er zusammen. Was wollte er hier? Sich seine eigene Blödheit vor Augen führen? Na gut.

Er stieg aus. Vielleicht fiel ihm ja doch noch etwas ein, wenn er denselben Weg noch einmal ging.

Ein Stück flußaufwärts hinter dem Deich krabbelte jemand im Gras herum. Toppe ging ein paar Schritte und blinzelte. Es war Rother.

»Haben Sie immer noch nicht aufgegeben?«

Rother kam auf die Beine. »Es kann einfach nicht sein, daß wir das Projektil nicht finden.«

Toppes Blick schweifte über die Ebene. »Doch, das kann sein. Je nachdem, welche Waffe es war, kann das Ding noch Hunderte von Metern geflogen sein.«

»Nein.« Rother sah auf Toppes Schritt. »Auch wenn es nur ein Streifschuß war, ist die Kugel heftig abgebremst worden. Stimmt der Winkel?«

Toppe sah sich um. »Könnte hinkommen.« Dann betrachtete er Rothers lehmverkrusteten Hosenbeine und lächelte bitter. »Tolle Arbeit für einen Physiker.«

Rother antwortete nicht.

»Sie sind Kernphysiker, nicht wahr?«

»Ja.«

»Und Sie haben das AKW in Kalkar mit aufgebaut?«

»Ich habe die Brütertechnologie entwickelt.«

»Eben, das meine ich. Und jetzt kriechen Sie hier im Dreck herum.«

»Das macht mir nichts aus, gar nichts. Ich arbeite an einer Erfindung, die alles ändern wird.« Und damit ließ er sich schon wieder auf die Knie nieder.

Genau, dachte Toppe, du hast wenigstens die Wahl. Du kannst wenigstens noch irgend etwas anderes. Ich nicht.

»Tja«, sagte er laut. »Dann werd’ ich mal wieder.«