10
»Karin? Du bist es tatsächlich! Ich glaub’s nicht.« Toppe nahm sie in die Arme. Um sie herum drängelten sich die Reporter, Fotografen und Kripoleute aus dem Saal.
»Was machst du denn hier?« zog Toppe die Frau aus der Hauptverkehrsstraße.
Karin Hetzel – vor etlichen Jahren hatte er sie im Zusammenhang mit einem Mordfall getroffen und sich ein bißchen in sie verguckt. Fotojournalistin war sie, und schon kurz nachdem sie sich kennengelernt hatten, hatte sie eine Stelle in Hamburg angenommen.
»Ich hab mich in der Großstadt einfach nicht mehr wohlgefühlt«, lächelte sie ihn an. »Und außerdem hatte ich Heimweh nach meiner Ältesten und meinem Enkel.«
»Wie bitte?« Sie war doch mindestens fünf Jahre jünger als er.
»Ja, ich bin schon Oma. Ich hoffe nur, man sieht’s mir nicht an«, trat sie einen Schritt zurück.
Toppe strich ihr leicht über die kurzen, fedrigen Locken. »Wahrhaftig nicht.«
Sie war immer noch schlank, und ihr Gesicht mit den warmen, dunklen Augen und dem etwas zu großen Mund fand er noch genauso anziehend wie damals. Während des Pressetermins hatte er sie nicht bemerkt, aber es waren heute so viele Reporter da gewesen, daß er einzelne Gesichter gar nicht wahrgenommen hatte.
»Aber du hast dich verändert, Helmut. Ich mußte dreimal hingucken. Wo sind denn deine ganzen Kilos geblieben? Steht dir sehr gut.«
Toppe sah auf. Der Raum hatte sich geleert, aber an der Tür stand Charlotte Meinhard und beobachtete ihn. Er nickte ihr zu – »Ich komme gleich« –, faßte Karin Hetzel am Ellbogen und ging mit ihr hinaus.
»Wohnst du wieder in Kleve?«
»Ja, in unserem alten Haus. Ich habe eine feste Stelle als Redakteurin bei der Niederrhein Post gekriegt, allerdings bin ich jetzt bei der schreibenden Zunft. Sag, machst du heute Mittagspause?«
Er blieb stehen und sah ihr in die Augen. »Um zwölf im Steakhaus?«
»Immer noch euer Stammlokal? Ja gut, um zwölf.«
Im Büro schienen alle nur auf ihn zu warten, selbst Rother saß da. Die Stille war nicht gesund.
Charlotte Meinhard atmete hörbar ein. Wie so oft hatte Toppe das Gefühl, sie würde gleich energisch in die Hände klatschen und um Aufmerksamkeit bitten.
»Im großen und ganzen ist es sehr gut gelaufen«, sagte sie. »Nur über eins habe ich mich wirklich geärgert, Herr Toppe.« Der gereizte Ton war ihm neu. »Sie haben im Zusammenhang mit dem Überfall auf Birkenhauer wieder mehrfach von ›dem Täter‹ gesprochen.«
Sie wartete. Auf was? Auf eine Entschuldigung? Toppe wußte seit langem, daß es irgendwann zwischen ihnen beiden schrecklich krachen würde, aber dies war noch nicht der rechte Moment.
»Ach, Frau Meinhard …« Er hörte sich sehr müde an. »Es lag ganz gewiß nicht in meiner Absicht, Sie zu verärgern. Wenn ich von ›dem Täter‹ gesprochen habe, dann ist das unbewußt geschehen.«
Er setzte sich auf die Fensterbank. »Aber sehen Sie es doch positiv. Wir wollten doch die Aufmerksamkeit nicht allzu deutlich auf das organisierte Verbrechen lenken, um die Ermittlungen nicht zu gefährden. Jetzt haben die Pressefritzen wenigstens was zum Nachdenken.«
Die Meinhard wurde einer Antwort enthoben, weil Walter Heinrichs hereinkam.
»Tut mir leid«, fing er an, stockte und sah sich um. Er haßte Streit und konnte Spannungen nicht gut aushalten.
»Ich hatte noch einen Termin beim Arzt, und der hat leider etwas länger gedauert.«
»Kein Problem«, sagte Toppe ruhig. »Du hast nur die Pressekonferenz verpaßt.«
»Wirklich? Da bin ich aber beruhigt. Ich dachte schon, ihr hättet euch in der Wolle gehabt.«
Die Chefin setzte sich jetzt und faltete die Hände. »Bitte«, meinte sie dann bestimmt. »Die Spurensicherung hat neue Ergebnisse.«
»Nur ein Ergebnis«, entgegnete Rother, ohne von seiner Aktenmappe aufzuschauen. »Meine Tests haben ergeben, daß das Isolierband Birkenhauer und das Isolierband Postraub aus identischem Material sind. Leider habe ich bezüglich des Herstellers noch keine Rückmeldung vom BKA.«
»Ach, das kennen wir.« Heinrichs hatte es sich in seinem Sessel bequem gemacht. »Die Jungs in Wiesbaden haben viel Zeit. Ich kann denen ja mal ein bißchen Feuer unter dem Hintern machen. Das bringt zwar auch nichts, hebt aber die Laune.«
Rother sah ihn kurz an und nickte. »Ich werde im Labor gebraucht.«
Damit ging er.
»Warum redet der bloß immer so gestochen?« Van Appeldorn sah ihm mißmutig nach.
»Wissenschaftler«, antwortete Heinrichs. »Die sind doch alle ein bißchen verschroben. So wie ich gehört habe, ist seine Arbeit bei uns für ihn eher ein Nebenjob. Der soll an einer größeren Erfindung arbeiten, irgendein Forschungsprojekt. Jedenfalls hat der unten im Technologiezentrum ein Entwicklungslabor.«
Karin Hetzel zeichnete mit dem Fingernagel Linien auf ihr Platzdeckchen.
»Und was war das eben für eine seltsame Inszenierung bei euch?« fragte sie schließlich.
Toppe stocherte in seinem Essen herum; er hatte keinen Appetit mehr.
Eine Weile hatten sie sich gegenseitig von ihrem Leben in den letzten Jahren erzählt, aber mittlerweile war ihm klar geworden, daß Karins Interesse nicht nur privater Natur war.
Er antwortete nicht.
»Gab es da ein Skript? Habt ihr eure Rollen vorher auswendig gelernt?« forderte sie ihn heraus. »Wo kommt denn dieser ganze Mist plötzlich her? Von der neuen Chefin? Oder etwa von noch höherer Stelle? Ihr seid ja jetzt Musterbehörde, hat man mir erzählt. Modellcharakter hatte die Schau heute aber nicht. Wenn man nicht völlig verblödet ist, dann merkte man sofort, daß ihr Informationen zurückhaltet.«
»Karin«, meinte Toppe unbehaglich, und sie wußte sofort, warum.
»Spinnst du, Helmut? Denkst du im Ernst, ich würde unsere Freundschaft ausnutzen? Ich weiß, daß du nichts sagen darfst, und ich werde dich auch nicht fragen. Aber glaub mir, es war schon ein komisches Gefühl, dich in dieser neuen Rolle zu sehen.«
»Und glaub du mir, mein Gefühl bei dieser neuen Rolle ist alles andere als komisch«, sagte Toppe bitter, schob Teller und Glas weg und redete sich zwanzig Minuten lang den Frust von der Seele. Sie unterbrach ihn nur selten.
»Ich verstehe die Meinhard nicht«, sagte sie dann.
»Dieses Theater war mehr als ungeschickt. Früher wart ihr geradeaus. Da habt ihr uns schon mal gesagt: ›Okay, Leute, wir können euch leider nur wenig erzählen, weil wir kurz vor der Lösung stehen und die Pferde nicht scheu machen wollene, und das hat dann auch jeder geschluckt, weil wir wußten, ihr macht uns nichts vor. Aber heute mußte sich doch jeder verarscht fühlen. Selbst auf klassisch dämliche Fragen, wie: Stehen unmittelbar Verhaftungen bevor? kriegte man keine Antwort. Dafür unaufgefordert einen Vortrag über Kooperation, fachübergreifende Arbeit und was weiß ich. Soll ich das etwa schreiben? Meinst du, so was will jemand lesen?«
»Erzähl das der Meinhard.«
»Das werde ich auch, aber auf meine Weise. Über meinen Artikel wird die bestimmt nicht jubeln. Ich habe aber noch etwas anderes vor. Ich will ein Portrait von dir bringen.«
»Um Himmels willen!«
»Doch, doch, dieses ganze clevere Gewäsch hat mich darauf gebracht. Ich will was Griffiges mit Seele: Helmut Toppe, der erfahrene Kriminalist, der alte Hase – sein Leben, seine Arbeit.«
»Igitt!« Toppe schauderte es.
»Helmut«, beharrte sie. »Du kennst mich doch. Das wird kein Kitsch. Tu mir den Gefallen, ja? Ich möchte gern mal was schreiben, was mir selbst Spaß macht, wo ich hinterstehe. Wann gibst du mir das Interview?«
Er zögerte lange. »Na gut, dann bringen wir es gleich hinter uns.«
»Danke. Über euren Birkenhauer habe ich vor vierzehn Tagen übrigens auch ein Portrait geschrieben. Das war allerdings nicht so ganz einfach für mich.«
Auch sie regte sich darüber auf, daß man ausgerechnet einem Kiesgrubenbesitzer den Umweltpreis verliehen hatte. »Aber nachdem der Kreis sich auf ihn eingeschossen hatte, mußten wir natürlich groß was über ihn bringen. Der ist mir einigermaßen schmierig gekommen, aber ich glaube, meinem Artikel hat man’s nicht angemerkt.«
Sie holte ihren Recorder aus der Tasche. »So langsam kriege ich Übung. Hast du heute morgen meinen freundlichen Artikel über Eugen Geldek gelesen?«
»Geldek?« Toppe rümpfte die Nase. »Was gab’s denn über diesen Drecksack zu berichten?«
Eugen Geldek war der mächtigste Baulöwe vor Ort, ein Mann, der durch seine halbseidenen Geschäfte in der Stadt zu fragwürdigem Ruhm gekommen war.
Karin Hetzel lachte. »Sei vorsichtig mit dem Drecksack! Der Herr gehört zum Kreis der Museumsfreunde. Du weißt doch, am Samstag wird das Kurhausmuseum eröffnet, und am Freitag gibt’s vorab eine kleine Feierstunde für alle privaten Sponsoren. Soweit ich informiert bin, hat Geldek einen ganz besonders dicken Batzen gespendet. Es könnte durchaus sein, daß er am Freitag den städtischen Kulturpreis bekommt. Er ist jedenfalls nominiert.«
Der Morgen hatte sein Versprechen nicht gehalten. Den ganzen Tag waren von Westen her Wolken aufgezogen, bis der Himmel dicht verhangen und niedrig war. Toppes Stimmung hatte sich dem Wetter angepaßt. Als sich das K1 zum gemeinsamen Schießtraining aufmachte, waren seine Gedanken grau und bleischwer.
»Walter«, hielt er Heinrichs zurück. »Geht es dir besser?«
Der nickte. »Das EKG war ganz in Ordnung. Keine neuen Medikamente, nur ein bißchen Ruhe.« Er sah Toppe besorgt an. »Was ist los mit dir?«
»Ich geh nach Hause. Sag den anderen, ich habe wieder Rückenschmerzen.«
Als er zu Hause aus dem Auto stieg, bekam er endlich wieder Luft.
Obwohl es zu nieseln begonnen hatte und ein flackeriger, kalter Wind aufgekommen war, holte er Hacke und Spaten aus dem Schuppen, stieg in seine Gummistiefel und machte sich über das restliche Erdbeerbeet her. Bei den ersten Spatenstichen fiel es ihm noch schwer, aber dann schaffte er es tatsächlich, an gar nichts zu denken. Die gestochene Erde glänzte satt, und er genoß den Geruch und die kühle Nässe auf seiner Haut.
Er hatte die Frauen gehört, aber es war nicht in sein Bewußtsein gedrungen, und er fuhr heftig zusammen, als Astrid ihn von hinten umfaßte und ihre Wange an seine Schulter schmiegte.
»Rückenschmerzen, was?« murmelte sie. Toppe drehte sich in ihren Armen herum.
Auch Gabi guckte zärtlich und hielt ihm eine geöffnete Bierflasche hin. »Siehst du überhaupt noch was? Es ist doch stockfinster.«
Er blinzelte, hatte gar nicht gemerkt, wie spät es schon war. Das Bier tat gut.
»Immerhin ist das Beet jetzt fertig«, meinte er und wischte sich über den Mund.
»Dann können wir ja morgen die Pflanzen kaufen«, stellte Gabi zufrieden fest.
»Erdbeerpflanzen?«
»Klar«, lächelte Astrid. »Wir müssen uns nur noch über die Sorte einig werden.«
Toppe strich sich das Haar aus der Stirn. »Ihr könnt doch jetzt keine Erdbeeren pflanzen. Erdbeeren pflanzt man im August.«
»Ach was? Und ausgerechnet so ein Stadtkind wie du will sich da auskennen!«
»Mein Opa hatte einen Schrebergarten in Ilverich«, beharrte er störrisch. »Und da hab ich meine halbe Kindheit verbracht. Und ich will Senga Sengana. Das ist die beste Sorte.«
Astrid senkte den Kopf ein wenig und sah ihn herausfordernd an. »Wenn es die Sorte noch gibt«, wich sie zurück. »Deine Kindheit ist schließlich schon ein paar Tage her, oder?«
Er fing sie mühelos ein.
Sie gluckste vor Lachen und drehte sich zu Gabi um. »Mein Mann hier hat sich heute übrigens mit einer sehr attraktiven fremden Frau zum Mittagessen getroffen.«
Mein Mann – in letzter Zeit nannte sie ihn oft so, und Toppe lief dabei jedesmal ein warmes, nervöses Kribbeln über den Rücken.
»Karin Hetzel – kennst du die?«
»O je!« Gabi schaltete auf sehr beunruhigt. »Ist die wieder im Lande? Wenn das nur gut geht. Die waren damals ganz schön heiß aufeinander. Ich mußte zu dem alten Trick greifen.«
»Das hatte ich befürchtet«, nickte Astrid verständnisinnig.
Toppe sah argwöhnisch von einer zur anderen. »Was denn für ein Trick?«
»Na, du machst sie einfach zu deiner eigenen Freundin«, zuckte Astrid gelangweilt die Achseln.
»Karin Hetzel und ich – lächerlich!« Das Spiel machte ihm Spaß. »Und was ist mit deinem holländischen Verehrer, he? Unserem smarten Kollegen Lowenstijn, der dir andauernd Rosen schickt?«
»Andauernd! Nur zu Weihnachten und zum Geburtstag«, protestierte sie.
»Und zum Valentinstag!«
»Vater! Telefon!« rief Christian vom Haus her.
Toppe fluchte und blickte an sich herab. Seine Hose war völlig durchweicht und an den Gummistiefeln klebte daumendick der Morast.
»Kann ich nicht zurückrufen?«
Christian hob die Schultern bis zu den Ohren und wiegte mit einer komischen Grimasse den Kopf. »Es ist Charly, die oberste Majestät.«
Toppe tauschte einen Blick mit Astrid. Was hatte das zu bedeuten? Ob sie ihm noch mal die Meinung geigen wollte? Aber daß die Meinhard ihren Segen übers Telefon verteilte, paßte eigentlich nicht zu ihr.
Gemächlich schlenderte er zum Haus, beeilte sich aber mit dem Stiefelausziehen dann so sehr, daß eine Socke hängenblieb und er auf einem Bein in die Halle hüpfte. Christian, der den Telefonhörer wieder in der Hand hielt, konnte sich nur mühsam das Lachen verkneifen. »Ich habe ihn loseisen können, Frau Meinhard. Hier kommt er.«
»Guten Abend«, grüßte Toppe sachlich.
»Hoffentlich sind Sie mir nicht böse, daß ich Sie so spät noch zu Hause störe …«
Sie gurrte; das Spiel mit Zuckerbrot und Peitsche hatte sie drauf.
Toppe grinste in sich hinein. »Ich gehe einfach mal davon aus, daß Sie mich damit nicht ärgern wollen.«
»Touché! Aber das habe ich verdient, ich bin manchmal wirklich zu impulsiv. Es ist schön, daß Sie’s mit Humor nehmen. Ich will Sie gar nicht lange aufhalten, nur eine Frage. Ich komme gerade aus einer Konferenz mit der Staatsanwaltschaft.«
»Machen Sie irgendwann auch mal Feierabend?«
»Selten, und das wird auch noch ein paar Monate so bleiben. Aber ich bin das gewöhnt. Wenn man als Frau Karriere machen will, muß man doppelt so viel arbeiten wie ein Mann und dreimal so gute Ergebnisse bringen. Aber bedauern Sie mich bloß nicht! Wenn ich keine Arbeit habe, bin ich nicht glücklich und für den Rest der Welt unausstehlich.« Sie machte eine kleine Pause, aber Toppe fiel nichts ein; er räusperte sich.
»Also«, fuhr sie fort, und ihre Stimme wurde eine Nuance tiefer. »Herr Günther wird morgen zuschlagen, Razzia in der Anwaltskanzlei. Und da wir ab jetzt zusammenarbeiten wollen, ist es wichtig, daß einer von uns dabei ist. Mir wäre sehr daran gelegen, daß Sie das übernehmen. Wir brauchen bei der ganzen Geschichte Ihre Besonnenheit.«
Toppe biß für einen Augenblick die Zähne zusammen. »Morgen früh?« fragte er dann. »Ich nehme an, es wird eine Mitternachtsveranstaltung.«
»So kann man es nennen. Acht Uhr fünf.« Sie gab ihm den Namen und die Adresse.
»Dann komme ich vorher erst gar nicht mehr ins Büro. Müssen sich die anderen halt weiter um die Rhein-Maas-Ausstellung kümmern.«