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»Helmut, du? Ich habe schon zigmal im Präsidium angerufen, aber die erzählen mir, du wärest in Urlaub gefahren. Ich wollte mich schon bei dir zu Hause melden.« Zum Glück war Karin Hetzel in der Redaktion.

»Ich habe auch Urlaub, gewissermaßen, aber ich fahre nicht weg.«

Die Luft war zum Schneiden dick; auf den meisten Schreibtischen qualmten in proppevollen Aschenbechern halbgerauchte Zigaretten und angekokelte Filter vor sich hin. Wie konnte man in diesem Mief auch nur einen klaren Satz formulieren? Aber den vier Journalisten an ihren Plätzen schien das nichts auszumachen.

Karin erriet seine Gedanken. »Du befindest dich in der letzten Raucheroase Westeuropas. Aber ich muß gestehen, daß es manchmal sogar mir zuviel wird. Was gibt’s? Kann ich dir helfen?«

»Ja, kannst du. Ich würde gern mal in euer Archiv, wenn das geht. Rein privat, wohlgemerkt.«

Sie lachte. »Rein privat, natürlich. Erzähl das deiner Großmutter! Was ist eigentlich los bei euch? Die Spatzen pfeifen von den Dächern, daß in Bimmen ein Polizist angeschossen worden ist. Als wir bei euch nachfragen, wird uns erzählt, es handele sich um eine sehr sensible Phase der Ermittlung, man bitte um Verständnis und Zurückhaltung.«

Ach nein, wie interessant, dachte Toppe. Wäre doch nett gewesen, man hätte mich darüber auch informiert.

»Weißt du, wie man so was nennt? Nachrichtensperre!« ereiferte sich Karin. »Das gab’s auch noch nie. Haben wir es etwa mit der Mafia zu tun, oder was?«

Toppe lachte nur.

Sie legte den Kopf schief. »Ich weiß was, ich komme mit dir ins Archiv. Vielleicht kann ich mir dann alles selbst zusammenreimen.«

Aber Toppe schüttelte den Kopf. »Wenn ich dir verspreche, daß du die ganze Geschichte zu gegebener Zeit exklusiv kriegst, könntest du dann deine Neugier noch zügeln?«

»Möglicherweise, ich könnte es wenigstens versuchen.«

Er fand recht schnell, was er bestätigt haben wollte: Über alle drei Opfer war an den Tagen vor den Attentaten in der Presse berichtet worden, groß aufgemachte Artikel, viel Lob, viel Ehr’.

Das war ein verbindendes Element, ein Muster, in das sich auch Glöckner perfekt einfügte. Alle drei sollten auf einer Veranstaltung mit viel Öffentlichkeit in irgendeiner Weise geehrt werden.

Eulenspiegel hatte genau gewußt, womit er sie in die Falle locken konnte: Er hatte sie mit seinen Anrufen bei ihrer Eitelkeit gepackt. Eitel waren sie alle: Geldek war vollkommen überzeugt gewesen, daß er in dieser namhaften Zeitschrift erscheinen sollte, Birkenhauer hatte nicht einmal seiner Frau von dem Anruf erzählt, weil er sich nicht blamieren wollte, und Glöckner hatte, wenn man Ackermann hörte, überdeutliche Symptome von Selbstliebe gezeigt.

Kannte Eulenspiegel seine Opfer persönlich? Oder hatte er sie tatsächlich willkürlich nach den Presseartikeln rausgesucht?

Toppe trug die Zeitungen wieder zum Regal zurück.

Auch über ihn selbst hatte ja dieser Lobartikel in der Zeitung gestanden, auch auf ihn … nein, er fügte sich da nicht so recht ein. Er sollte nicht geehrt werden, es hatte keine Öffentlichkeit gegeben, und vor allem waren es zwei Attentate gewesen – bis jetzt.

Karin Hetzel saß im Mantel und rauchte. Sie war allein. »Eigentlich müßte ich längst unterwegs sein, aber ich konnte meine Neugier doch nicht zügeln. Hast du gefunden, was du gesucht hast?«

»Ja«, antwortete er und faßte einen Entschluß. »Darf ich mich noch ein paar Minuten setzen?«

Die Zigarette in den Mundwinkel geklemmt schälte sie sich aus ihrem Mantel. »Nur zu, nimm Platz.«

»Wenn du Eulenspiegel wärst, wo würdest du als nächstes zuschlagen?«

»Privater Natur, wie?« Sie schmunzelte, und um ihre Augen erschien ein Kranz fröhlicher Fältchen.

Auch Toppe lächelte. »Ich könnte deine Hilfe gut gebrauchen. Nur, vorerst müßte alles unter uns bleiben, sonst kann ich mir umgehend meine Papiere holen.«

Sie faßte über den Tisch hinweg nach seiner Hand und drückte sie. »Okay, ich schreibe keine Silbe, bevor du mir nicht grünes Licht gibst. Können wir uns darauf einigen?«

»Ja. Es ist mir viel lieber, wenn ich mit offenen Karten spielen kann«, erwiderte er ihren Händedruck. »Dann muß ich mich nicht so verrenken.«

»Du kannst dich auf mich verlassen.«

Er schilderte ihr, auf welchen Zusammenhang er gestoßen war, daß Eulenspiegel seiner Meinung nach wieder zuschlagen würde, und zwar auf einer größeren Veranstaltung.

»Darüber haben wir in der Redaktion auch schon diskutiert. Also, ich würde mir an seiner Stelle ›Moyland‹ aussuchen.«

»Ach ja, natürlich«, sagte Toppe. »Das müßte bald so weit sein. Nächste Woche?«

»Am 24., und da hätte Eulenspiegel so viel Öffentlichkeit wie nie zuvor.«

Das alte geschichtsträchtige Wasserschloß Moyland in Bedburg-Hau, das seit dem Krieg immer mehr verfallen war, hatte endlich eine neue Bestimmung bekommen: Es sollte in Zukunft eine Kunstsammlung beherbergen, vor allem eine bedeutende Beuys-Sammlung und das weltweit einzige Beuys-Archiv. Deshalb war das Schloß in den letzten Jahren mit großem Aufwand instandgesetzt worden, zu einem Großteil vom Land finanziert. Die Eröffnung war als Spektakel mit zahllosen Prominenten aus Kultur und Politik angekündigt. Sogar die Königin der Niederlande war geladen.

»Kommt Beatrix denn jetzt?« fragte Toppe.

»Nein, nein, soweit ich gehört habe, ist die Promiliste inzwischen deftig geschrumpft. Das Interesse scheint geringer zu sein als erwartet.«

Toppe schaffte es, die Redaktion normalen Schrittes zu verlassen, auch wenn es weh tat. Aber daß er der angeschossene Polizist war, mußte Karin Hetzel jetzt noch nicht unbedingt wissen.

Die nächste Telefonzelle befand sich vor dem Schätzlein-Markt, aber er hatte keine Telefonkarte. Wozu auch? Normalerweise hatte er sein mobiles Diensttelefon bei sich.

Also ging er langsam die Stadt hoch zur Post. An der linken Seite hatten zwei neue Läden aufgemacht. Er war ewig nicht in der Stadt gewesen. Wann hatte er schon mal Zeit dafür? Seit Jahren arbeitete er meist mehr als fünfzig Stunden in der Woche. Heute fragte er sich zum ersten Mal, warum eigentlich und für wen.

Etwas anderes drängelte sich in seine Gedanken: Was hatte Eulenspiegel von seinen Attentaten? Was brachte es ihm, wenn er die Leute bloßstellte, verletzte, sogar ihren Tod riskierte?

Es war Astrid, die den Hörer abnahm. »Bist du gerade schwer beschäftigt?«

»Eigentlich halte ich hier nur die Stellung. Du bist in einer Telefonzelle? Was ist denn los?« Sie hörte gespannt zu.

»Moyland? Das ist witzig. Genau dasselbe hatten wir uns eben auch überlegt, das heißt, eigentlich kam Ackermann heute morgen mit der Idee. Norbert hat schon mit dem zuständigen Öffentlichkeitsmenschen gesprochen und wollte eben los, um sich die Gästeliste zu holen und ein paar Takte zu reden, aber da tauchten zwei Typen vom BKA hier auf. Die sitzen jetzt mit Walter und Norbert in deinem Büro und sammeln unsere Ergebnisse ein.«

»Tust du mir einen Gefallen?«

»So gut wie jeden, das weißt du doch.«

»Frag Walter mal, ob ich mir bei ihm zu Hause ein paar Bücher ausleihen darf. Und ob seine Frau da ist.«

»Nur wenn du mir sagst, was in deinem Kopf vorgeht.«

»Du verwechselst da was. Ich habe von einem Gefallen gesprochen, nicht von einem Handel, um das schlimmere Wort zu vermeiden.«

»Ich warte.«

»Ich möchte nur was über Serientäter nachlesen.«

»Das ist einleuchtend. Bleib dran!«

Als sie wieder an den Apparat kam, lachte sie leise. »Die haben vielleicht blöd geguckt, die wichtigen Herren. Natürlich dachten die, es brennt, als ich mitten in die Sitzung platze. Und dann so was! Also, ich soll dir sagen, du kannst jedes Buch nehmen, das du brauchst. Seine Frau wäre zwar nicht zu Hause, aber du könntest einfach reingehen. Der Schlüssel liegt unter der Fußmatte.«

»Und so was schimpft sich Polizist!«

»Die Meinhard ist übrigens nicht damit einverstanden, daß man uns den Fall komplett aus der Hand nimmt. Sie ist heute früh nach Düsseldorf gestartet, von Kopf bis Fuß in kühlem Marineblau, und vermutlich hatte sie in Chanel gebadet.«

Den ganzen Nachmittag verbrachte Toppe zu Hause an seinem Schreibtisch und fühlte sich wohl dabei. Er las über Kürten und Bartsch und arbeitete sich langsam vor bis zu den grundsätzlichen Merkmalen eines sadistischen Gewalttäters.

Es tat gut, mal nicht am Bildschirm zu sitzen, sondern einfach nur Stift und Papier vor sich zu haben, zu schreiben und durchzustreichen und kryptische Zeichnungen an die Ränder zu malen, während er nachdachte.

Zwei Typen von sadistischen Tätern gab es. Der erste – unkontrolliert und asozial – fiel schon mal gleich flach. Von ›rasender Wut‹ konnte bei den Attentaten nicht die Rede sein. Auch sonst paßte nichts.

Es mußte sich also um den zweiten Typ handeln: kontrolliert und nicht-sozial. Diese Täter waren nach außen unauffällige, oft sogar höfliche Zeitgenossen, obwohl sie in ihrem Inneren Menschen eigentlich ablehnten und eine verantwortungslose, egoistische Einstellung hatten.

Da war die Rede von überkontrollierter Aggressivität. Einerseits waren diese Leute eher gehemmt und scheu, und ihre Umgebung beurteilte sie deshalb positiv, aber auf der anderen Seite waren sie höchst aggressiv, und dieses Verhalten wurde immer intensiver und sadistischer, die Tatzwischenräume wurden immer kürzer. Vor der Tat durchlebten sie intensive sadistische Phantasien, und ihre eigentliche Motivation war Feindseligkeit auf der einen und ein starkes Machtbedürfnis auf der anderen Seite. Bei ihren Taten gingen sie äußerst clever und methodisch vor. Die Statistik zeigte, daß die meisten von ihnen überdurchschnittlich intelligent waren. Viele kamen aus einem gesicherten, vordergründig normalen Elternhaus, das sich jedoch zumeist durch emotionale Kälte und wenig Fürsorge auszeichnete.

Er war gerade bei der sexuellen Motivation angelangt, die ihn schon so lange beschäftigt hatte, als Astrid ins Zimmer kam.

»Wieso machst du kein Licht an? Es ist doch stockfinster.«

»Warte mal, warte, hier, hör mal: Bei sadistischen Serientätern findet man eine kognitive Grundlage der Bereitschaft zur Gewalt, nämlich die Auffassung, selbst Opfer zu sein und deshalb logischerweise das Recht zu haben auf Rache, auch wenn dadurch Menschen leiden müssen, die am persönlichen Schicksal des Täters überhaupt nicht schuld sind.«

»Ah ja.« Sie knipste die Stehlampe und das Licht am Schreibtisch an und fuhr ihm durchs Haar. »Ich habe die Gästeliste für Moyland mitgebracht. Wenn du dich mal kurz von deiner Psychologie loseisen könntest.«

»Wie spät ist es eigentlich?«

»Halb neun, und ich habe Hunger.« Er klappte die Bücher zu. »Ich auch. Was ist geplant?« Sie warf ihre Tasche auf den Sessel, ließ ihre Jacke fallen und umarmte ihn von hinten. »Nichts. Die ganze Bande ist ausgeflogen. Gabi hat einen Zettel in die Küche gelegt, sie käme nicht vor Mitternacht, und wo sich die Brut rumtreibt, weiß der Himmel. Soll ich uns ein paar Brote überbacken?«

»Nicht schlecht«, rieb er seinen Hinterkopf an ihren Brüsten. »Noch besser allerdings kämen ›Astrids Spezialeier‹. Ich will Curry und Ananas und ganz dick Käse.«

Sie aßen am Schreibtisch, heute ohne Servietten und Rotwein, und dabei gingen sie die Gästeliste durch. Da stand offenbar schon wieder eine Ehrung an.

Weit kamen sie nicht, weil das Telefon sie unterbrach. »Ich gehe schon.«

Astrid mußte den Hörer einen halben Meter vom Ohr weg halten, so laut kreischte Ackermann. »Kommando zurück! Alles Kokelores mit de Gästeliste.«

»Was?«

»Ja! Können wer inne Tonne kloppen. Et gibt nämlich mehrere.«

»Mehrere was?«

»Mehrere Gästelisten. Ich dacht’ auch erst, et hackt, aber da gibbet nich’ nur eine vonne Stiftung, sondern au’ noch eine vonne Staatskanzlei, un’ wat weiß ich denn! Nur, dat ihr nich’ glaubt, wir hätten dat Ufer schon vor de Nase. Reicht et, wenn ich euch dat alles morgen in die Hand drück’? Weil, ich mein’, ich könnt auch jetz’ sofort, aber die Mutti, Sie verstehen schonn, un’ dat seh’ ich ei’ntlich genauso.«