15
Heinrichs war eigentlich ganz froh, daß er wieder Aktenführer sein konnte. Die letzten Tage hatten ihn angestrengt; es mußte einfach daran liegen, daß er so langsam in die Jahre kam.
Ach, da schau her, eine E-Mail war eingegangen. Mal was ganz Neues. Leider ließ sie sich nicht abrufen; auch beim dritten Versuch erzählte der Computer ihm, daß er keinen Zugriff hätte. Leise mosernd kramte Heinrichs einen Schlüssel aus der Dose mit den Büroklammern und schloß das Fach ganz unten im Schreibtisch auf, wo die Handbücher lagen, die er sich heimlich gekauft hatte.
Na bitte, er hatte alles richtig gemacht! Und was nun? Kein Mensch da, den er fragen konnte, außer … Nein, auf keinen Fall! Würde ja wohl nicht weglaufen, die E-Mail, und irgendwann mußte Astrid ja zurückkommen. Aber dann siegte doch seine Neugier, und er rief bei der Chefin an.
»Sie können gar keinen Zugriff haben, Herr Heinrichs. Dazu brauchen Sie das Paßwort. Waren Sie denn nicht beim letzten Großteam? Da habe ich das doch mitgeteilt.«
»Nein, äh, ich glaube, das war an dem Tag, als ich krank war.«
»Das Protokoll hängt seit einer Woche aus.«
»Ich nehme an, Sie kennen das Paßwort.«
»Ja, nur ich.«
So ein Schwachsinn! Wenn die morgen der Schlag traf, konnten sie sich erst mal einen Programmierer chartern.
»Dann sagen Sie es mir doch bitte, damit ich endlich vorankomme.«
Sie lachte. »Wo wäre da der Sinn? Nein, aber ich kann es von hier aus eingeben.«
»Ausgesprochen effektiv, das Ganze«, murmelte Heinrichs leise, aber die Meinhard hatte gute Ohren.
»Wenn Sie Einwände haben, sollten Sie die bei der nächsten Teambesprechung vorbringen. Deshalb habe ich diese Sitzungen doch eingeführt. Sie wissen, daß ich jederzeit ein offenes Ohr habe für konstruktive Kritik.«
»Natürlich, das wissen wir doch alle«, sagte er und legte auf. »Ja, ja«, murrte er, »und ’n Ei vom Konsum. Ich müßte tatsächlich mal den Mund aufmachen, dann aber gute Nacht, Marie.«
Die E-Mail kam vom BKA aus Wiesbaden. Sie hatten den Hersteller des braunen Isolierbandes ermittelt, das beim Postraub in Kleve und bei den beiden Attentaten verwendet worden war. Eine Firma Durocott in Saarbrücken.
Wie? Und das war alles? Nichts über das Klebeband bei den anderen Raubüberfällen? Und wieso landete die Nachricht eigentlich bei ihm und nicht beim ED?
Er ließ den Drucker schnurren. Das hier konnte eine heiße Spur sein. Wenn er rauskriegte, wo das Band verkauft wurde, konnte er möglicherweise auch erfahren, wer es gekauft hatte.
Und verdammt noch mal, es wurde höchste Zeit, daß sie die Kerle schnappten. Helmut mochte die Sache runterspielen, aber insgeheim wußte der genau, was die Uhr geschlagen hatte. Jeder von ihnen war wohl schon mal von irgendeinem Knacki, der sich rächen wollte, bedroht worden. Aber dieser Brandanschlag ging ein gutes Stück weiter: Helmuts ganze Familie war in Gefahr gewesen.
Heinrichs dachte an seine eigenen Kinder und spürte, wie sein Herz holperte.
Klaus van Gemmern las in einem Buch.
»Habt ihr die E-Mail auch gekriegt?« Heinrichs hielt ihm den Ausdruck hin.
Van Gemmern zuckte die Achseln. »Ich habe nicht nachgeschaut.« Sein Terminal war nicht mal eingeschaltet.
»Was ich wissen möchte: War das Isoband in Dormagen und Grevenbroich nun eindeutig dasselbe?«
»Darum hat sich Rother gekümmert, und der ist unterwegs. Aber ich kann mal nachgucken.«
Van Gemmern ging zu dem Glasschrank, in dem sie die Asservate zu den aktuellen Ermittlungen aufbewahrten. »Die Vergleichsproben sind da, und hier ist die Tüte vom Postraub.« Er wog den prallen Kunststoffbeutel in der Hand. »46KD-001 …«
In dem grauen Ordner an Rothers Platz fand er die Eintragung. »Ja, die Vergleichsproben haben ergeben, daß es sich mit 90%iger Sicherheit um dieselbe Materialzusammensetzung handelt.«
»Fein, fein«, meinte Heinrichs. »Dann werde ich mal loslegen.«
Aber van Gemmern war mit seinen Gedanken schon wieder woanders.
Die Dame bei Durocott fand es offenbar spannend, daß die Kripo etwas von ihr wollte. Ja, ihre Firma belieferte ausschließlich den Fachgroßhandel für Elektrobedarf, und zwar in Deutschland, Frankreich, Belgien und den Niederlanden. Aber natürlich würde sie ihm sofort eine Liste der Händler in ihrer Region faxen. Auch in den Niederlanden?
»Aber gar kein Problem, Herr Kommissar, dauert nur ein paar Minuten.«
In den nächsten Tagen klagte niemand über Langeweile. Die Befragungen liefen zügig und glatt, sie hatten alle nur einen Fehler: Sie führten zu nichts.
Heinrichs lernte viele Elektromeister kennen und kam günstig an eine neue Waschmaschine.
Astrid wurde von der Chefin immer mal wieder von den Ermittlungen abgezogen. Sie sollte die Räume für das neue Dezernat in Goch begutachten und Vorschläge für die Inneneinrichtung erarbeiten. »Sie müssen eine vertrauenerweckende Atmosphäre schaffen, in der sich die Kinder und die Frauen wohlfühlen.«
»Aber es ist doch noch Monate hin«, hatte Astrid sich wehren wollen.
»Haben Sie eine Ahnung, wie lange das dauert, bis die Mittel bewilligt sind!«
Dann trieb sie einen Kinderpsychologen auf, der Astrid beraten sollte.
Die Presse hatte sich auf Eulenspiegel eingeschossen. Gierig hatten fast alle Blätter den Namen übernommen, und jeden Tag erschien irgendwo ein Artikel mit neuen Spekulationen über seine Identität und seine Motive. Auf eine Verbindung zum organisierten Verbrechen kam niemand. Das Feuer auf Toppes Hof war in der Zeitung zwar kurz erwähnt worden, aber glücklicherweise hatte keiner herausgefunden, daß es Brandstiftung gewesen war.
Schuster lief stolz herum und erzählte jedem, daß er persönlich den Namen Eulenspiegel erfunden hatte. Das allgemeine Interesse an dieser Neuigkeit war eher bescheiden.
Toppe kaufte sich einen Clip für den Hosenbund und legte seine Waffe nur noch ab, wenn er zu Bett ging. Er ertappte sich dabei, daß er jeden Abend alle Türen und Fenster kontrollierte und nachts nie länger als zwei Stunden durchschlief.
Die Versicherung machte keine Schwierigkeiten, aber die Handwerker schienen alle ausgebucht zu sein. Der Dachdecker nagelte das Loch in der Tenne provisorisch mit Folie zu und verabschiedete sich bis Ende August. Mit dem neuen Hühnerstall würde es vor September nichts werden. Das Wohnhaus war wieder sauber und frisch gestrichen, aber ob sie den Räucherkammergestank jemals wieder loswurden, stand in den Sternen. Gabi kaufte kiloweise parfümierte Blüten und stellte überall Aromalichter auf, Astrid bestand bei jedem Wetter auf weit geöffneten Fenstern und Türen, solange einer im Haus war, Toppe kochte stundenlang Essigwasser und verspritzte Soda und Zitronensaft und Natron auf glühendheißen Herdplatten.
Charlotte Meinhard führte tägliche Teamsitzungen ein, an denen sie selbst teilnahm, und bei denen sie sich jeden Nachmittag weniger zu sagen hatten. Die Chefin sprach von dringend notwendiger Supervision.
Am Ende der Woche schlachtete Ackermann alle seine Kaninchen.
Der Frühling kam mit Macht, die Tage wurden länger, und an den hellen Abenden baute Toppe eine Gartenlaube, bepflanzte sie mit Knöterich und wildem Wein und nahm sich Zeit zum Nachdenken.
Am Freitag hatte er seine Entscheidung getroffen: »Was meinst du, Astrid, jetzt, wo wir sicher sind, soll ich mich nicht sterilisieren lassen?«
Sie sagte lange Zeit gar nichts, aber dann legte sie ihm die Arme um den Hals. »Nur wenn du es wirklich willst. Es wäre natürlich am einfachsten. Vor allem, weil ich in letzter Zeit immer Probleme habe, die Pille so regelmäßig zu nehmen, wie ich sollte. Und bei diesen neuen, leichten Dingern weiß man nie so genau.«
Christian wollte versuchen, sich im Herbst an der Uni Köln einzuschreiben. Wahrscheinlich für Jura, aber es konnte auch Architektur sein. Auf alle Fälle war Claras Dreizimmerwohnung für sie allein viel zu teuer und auch zu groß.
Oliver war fast vier Tage lang das gute Kind, dann sah Gabi ihn Hand in Hand mit Steffi im Wald verschwinden.
Am ersten Samstag im Mai rief Dr. Stein bei Toppe an. »Man hat mir gesagt, daß Sie Wochenenddienst haben, sonst hätte ich Sie nicht gestört. Frohe Kunde, Herr Toppe! Dank Ihrer Hilfe kann Günther am Montag beim Klever Pfannkuchenhaus zuschlagen.«
»Dank meiner Hilfe?«
»Tja, schon. Wenn Sie nicht so schnell die Verbindungen nach Grevenbroich und Dormagen aufgetan hätten. Dieselbe Restaurantkette, dieselben Drahtzieher. Endlich haben wir Namen. Günther startet seine Aktion am Montag um 16 Uhr. Sie wissen, er ist ein wenig eigen, aber ich habe angeregt, daß Sie dabei sind. Ich bin mir ziemlich sicher, daß Sie in den betreffenden Kreisen auch Ihre Brandstifter finden werden. Und meiner Ansicht nach muß bei den Vernehmungen ein erfahrener Mann ran, ein alter Hase.«
Toppe konnte es nicht mehr hören, aber er murmelte irgendeine Zustimmung.
»Wollen wir uns vorher treffen, Herr Toppe? Wenn Sie um 15 Uhr bei mir sind, können wir noch einen Tee miteinander trinken und ich liefere Ihnen ein paar Einzelheiten.«
Aber dazu sollte es nicht mehr kommen.
Am Sonntag morgen um kurz nach elf ging Toppes Piepser.
Der Mann hing mit ausgebreiteten Armen, das Gesicht zur Wand, die Handgelenke festgebunden an den beiden äußeren Flügeln des Triptychons neben dem Altar. Seine Fußspitzen berührten gerade noch den Boden. Auf seinem welken Hintern prangten links und rechts in Blutrot A und Q.
Der Mann war tot.
Van Appeldorn stand an der Kanzel und wartete, bis Toppe ihn anschaute. »Ich wollte, daß du es mit eigenen Augen siehst«, sagte er und nickte dann den beiden ED-Männern zu. »Ihr könnt ihn jetzt abnehmen.«
Rother mußte sich auf die Zehenspitzen stellen, um die beiden Seile durchzuschneiden. Van Gemmern hielt den Toten um die Hüften gefaßt und ließ ihn, als der zweite Arm herabfiel, vorsichtig zu Boden gleiten.
Man hatte dem Opfer die Hosen heruntergezogen, und die Handgelenke unter den Seilen waren mit Isolierband umwickelt, aber abgesehen davon war der Mann elegant: schwarzes Sakko, weißes, gestärktes Hemd mit silbergrauer Fliege, goldene Manschettenknöpfe, polierte Schuhe. Sein Haar war graumeliert und penibel gescheitelt, der kleine Schnurrbart frisch gestutzt. Die Augen hatte er halb geschlossen; das Erbrochene im aufgerissenen Mund war feucht.
»Lange kann er noch nicht tot sein«, meinte Toppe.
»Keine zwei Stunden«, antwortete van Gemmern. Auch er sprach leise.
»Habt ihr schon herausgefunden, wer der Mann ist?« wollte Toppe wissen.
»Hermann-Josef Glöckner«, las van Appeldorn von seinem Block ab. »Rentner, früher Konrektor an der Hauptschule. Dreiundsiebzig Jahre alt.«
Er gab dem Wachtmeister an der Kirchentür ein Zeichen, und kurz darauf kamen zwei Männer vom Bestattungsunternehmen herein. Vor dem Altar war nicht genug Platz, und so stellten sie den Sarg im Mittelgang ab und packten den Toten an Händen und Füßen. Toppe mochte nicht hinschauen und betrachtete statt dessen den hohen Altar: Ecce panis angelorum. Daneben auf einer Holzplakette: St. Martinus zu Bimmen.
Er hörte den Sargdeckel klappern und drehte sich wieder um. Die Kirche war klein mit einem schlichten, nicht sehr hohen Tonnengewölbe, nur neun Bänke auf der linken Seite, zwölf auf der rechten, alle aus altersdunklem Holz. Auch die Decke war holzvertäfelt, und es wäre sehr düster gewesen, hätte man die kleinen Fenster nicht in hellen Farben modern bleiverglast. Wie alt mochte das Gebäude sein? Sechzehntes Jahrhundert? Vielleicht noch älter.
»Ein pensionierter Lehrer«, sagte er langsam. »Wie der wohl ins Muster paßt?«
»Wir werden ja sehen«, meinte van Appeldorn achselzuckend und nahm seinen Block von der Kanzel.
»Gefunden hat ihn übrigens seine eigene Frau, zusammen mit dem Küster und zwei anderen Kirchgängern. Ich habe nur zwei Sätze mit ihr gewechselt, dann hat der Küster sie mit zu sich nach Hause genommen. Er wohnt gleich nebenan.«
»Entschuldigung«, unterbrach Rother ihn. »Aber wir brauchten jetzt ein wenig Platz hier.«
Van Gemmern hatte schon angefangen, das Triptychon einzupudern.
Als sie ins Freie traten, klickten Kameras los, und eine ganze Horde Reporter stürzte auf sie zu. Selbst Mikrofone hielt man ihnen unter die Nase. Alle redeten durcheinander.
»Ritualmord. Blasphemie«, hörte Toppe heraus und immer wieder: »Eulenspiegel.«
Auch Karin Hetzel war bei der Meute, aber sie hielt sich im Hintergrund.
»Ruhe, verflucht!« brüllte van Appeldorn und stieß mit der Schulter zwei Männer aus dem Weg.
»Bitte haben Sie Verständnis«, sagte Toppe, als es leiser wurde. »Im Augenblick können wir Ihnen lediglich Spekulationen anbieten, und daran dürften Sie kaum interessiert sein. Aber morgen früh um neun werden wir eine Pressekonferenz geben. Ich verspreche Ihnen, daß Sie dann alle Informationen bekommen. Und jetzt lassen Sie uns bitte unsere Arbeit tun und behindern die Ermittlungen nicht weiter!«
Murrend zogen sich die Presseleute nach und nach zurück, Autos fuhren ab, und allmählich wurde es ruhig. Übrig blieben zwanzig oder dreißig Menschen im Sonntagsstaat, die sich schweigend um den Pfarrer scharten und die beiden Kripoleute verstohlen beobachteten.
Toppe ging mit großen Schritten über den gekiesten Vorplatz zum Weg an der Nordseite und sah sich dann um. Die Kirche schmiegte sich an den Deich. In Halbkreisen gruppierten sich zwei Hände voll Häuser drum herum. Eine Hauptstraße, die Heerstraße, mit einem Wohnklotz, der wie ein Schlag ins Gesicht war, ein paar namenlose asphaltierte Wege. Bimmen, ein vergessenes Dörflein, hundert Meter bis zum Rhein, dreihundert vielleicht bis zur Grenze, und wenn zweihundert Seelen hier lebten, dann war das viel.
Hier blieb mit Sicherheit nichts unbeobachtet.
Er schnupperte: Bei den Leuten im rosa gestrichenen Haus gab es heute Rotkohl.
Die Kirchgänger standen immer noch da und glotzten ihn an. Es hatte keinen Sinn, sie gleich jetzt und hier zu fragen, ob sie etwas gesehen hatten, ob sie etwas wußten. Sie würden schweigen, vielleicht die Köpfe schütteln. Er kannte das schon, man log nicht, man hielt einfach den Mund. Eine Chance hatte er nur, wenn er mit jedem allein sprach und sich Zeit nahm für all das, was jeder von jedem hielt und dachte – »aber von mir haben Sie das nicht!« –, was man munkelte und was man mit eigenen Augen gesehen haben wollte – »Tatsache, Herr Kommissar! Da können Sie meine Frau fragen.« Eigentlich machten gerade diese Gespräche ihm immer Spaß, und er hatte auch ein Händchen dafür, die Leute zum Reden zu bringen und zwischen den Zeilen die wichtigen Informationen zu finden. Jetzt aber graute ihm davor, und das erschreckte ihn tief.
»Was stöhnst du denn so?« Van Appeldorn war ihm nachgekommen.
»Ach«, meinte Toppe nur und stopfte die Hände in die Taschen. »Hast du schon mit dem Pastor gesprochen?«
»Nein, der war eben noch nicht da.«
Der Pfarrer trat sofort aus der Menge, als die Kripomänner näher kamen. »Kann ich Ihnen helfen? Mühlenhoff, mein Name.«
Toppe nahm ihn beiseite. »Wohnte Herr Glöckner hier in Bimmen?«
»Nein, er kommt aus Rindern. Aber er sollte heute unser Ehrengast bei der Messe sein. Haben Sie das denn nicht in der Zeitung gelesen?«
Sie waren am Ende des Jägerzaunes, der den Friedhof einfaßte, angekommen und blieben stehen.
»Ich kann mich nicht erinnern«, sagte Toppe.
Mühlenhoff fing an zu erzählen. Das Triptychon, an dem man Glöckner aufgehängt hatte, war eine Kostbarkeit aus dem späten 17. Jahrhundert und seit jeher im Besitz der Gemeinde Bimmen. In den Wirren des letzten Krieges war das mittlere Stück, wie viele andere Schätze aus den Kirchen am Niederrhein auch, verschwunden. Offenbar hatte Glöckner es kurz nach dem Krieg irgendwo gekauft. Dieser hätte sich allerdings niemals Gedanken über die Herkunft oder den Wert des Kleinods gemacht. Erst nach seiner Pensionierung habe er die Zeit gefunden, Nachforschungen anzustellen, und nach etlichen Mühen herausgefunden, wohin das Kunstwerk eigentlich gehörte. Selbstverständlich hatte er es sofort an die Kirchengemeinde zurückgegeben, und heute nun hatte die erste Messe mit dem nun wieder kompletten Triptychon abgehalten werden sollen.
»Die Leute sagen, das könnte nur Eulenspiegel gewesen sein«, sagte Mühlenhoff. »Warum muß der sich ausgerechnet meine Kirche aussuchen, frage ich Sie.«
»Und warum ausgerechnet Glöckner?« ergänzte Toppe.
Der Pastor legte die Stirn in Falten. »Da fragen Sie den Falschen. Einen anderen zu töten, das liegt jenseits meiner Vorstellungskraft. Für mich sind alle Mörder Psychopathen.«
»Helmut!« Van Appeldorn winkte ihn mit dem Handy heran. »Bonhoeffer will die Obduktion sofort machen. Er war sowieso gerade im Krankenhaus. Soll ich hinfahren?«
Aber Toppe tastete seine Taschen schon nach seinem Autoschlüssel ab. »Nein, laß mal. Ich bin schon längst mal wieder dran. Sprich du mit Frau Glöckner und dem Küster. Und sieh zu, daß wir die Personalien von allen Kirchgängern kriegen. Die kommen bestimmt nicht alle aus dem Dorf.«
»Okay, dann sehen wir uns nachher im Büro. Soll ich Astrid und Walter rufen?«
»Wozu? Wir haben doch noch keinen Anhaltspunkt.« Toppe ließ seinen Blick über die Leute schweifen, die sich jetzt zögerlich auf den Heimweg machten. »Ich hatte die ganze Zeit schon so ein mieses Gefühl. Der Typ steigert sich. Wenn das Mord ist …«
Aber es war kein Mord. Glöckner war an seinem Erbrochenen erstickt.
»Vielleicht ist ihm vom Chloroform schlecht geworden«, schlug Bonhoeffer vor, als er nach der Obduktion mit Toppe beim traditionellen Calvados saß. Und Chloroform hatte der Attentäter benutzt, diesmal sicher, denn der Pathologe hatte Spuren davon ausmachen können. »Oder aber, er hat vor lauter Angst gekotzt, was ich für wahrscheinlicher halte. Gekotzt und sich in die Hosen gemacht, wie du ja gesehen hast.«
»Ja.« Toppe hielt sich das Glas mit dem Calvados unter die Nase. In den letzten Jahren hatte er sich an manchen Anblick in der Pathologie gewöhnt, aber die Gerüche machten ihm immer noch zu schaffen. »Todeszeitpunkt?«
»Zwischen neun und halb zehn heute morgen.« Bonhoeffer trank sein Glas mit einem großen Schluck leer. »Mehr kann ich dir nicht bieten. Der Mann war für sein Alter geradezu unverschämt gesund. Nur leider offenbar ein Hasenherz.« Sein Telefon bimmelte. »Jaa? Aha, gut, danke, Henry.« Er legte auf. »Ich muß dich enttäuschen, Helmut. Die Buchstaben auf dem Hintern sind nicht mit Blut gemalt worden, sondern mit Lackfarbe.«
»Wäre ja auch zu schön gewesen.«
»A und Q«, grinste Bonhoeffer. »Euer Eulenspiegel hat wirklich Phantasie. Ein wenig morbide, zugegeben, aber trotzdem. Ich weiß zwar nicht, ob er besonders intelligent ist, aber zumindest verfügt er über ein gerüttelt Maß an Bildung und eine ordentliche Portion Zynismus.«
»Ich halte ihn für ausgesprochen intelligent«, sagte Toppe nachdenklich. »Aber diese Eulenspiegelfigur ist eine Erfindung der Presse, da muß ich dich nun enttäuschen, Arend. Unser Team arbeitet mit einer ganz anderen Hypothese.«
»Unser Team? Wie redest du denn? Sag mal, Helmut, was ist eigentlich los mit dir? Seit Monaten schleichst du rum, als hättest du die Last der ganzen Welt auf den Schultern.«
»Mir geht es beschissen«, antwortete Toppe, und sein sachlicher Ton machte den Satz besonders schlimm. »Aber nicht jetzt, Arend. Wir reden irgendwann mal in Ruhe darüber, ja? Weißt du was? Ich hätte Lust, meine Laube einzuweihen. Wie wär’s an einem der nächsten Wochenenden?«
Bonhoeffer guckte ihn skeptisch an. »Na gut«, meinte er langsam, »wie du meinst. In Ordnung, laß uns mal wieder ein bißchen Spaß haben. Nur, dieses Wochenende geht es nicht. Sofia eröffnet am Freitag ihre Ausstellung in Rom, und da möchte ich gern dabei sein. Lädst du Henry auch ein?«
»Henry?« fragte Toppe verblüfft. Henry war Bonhoeffers Pathologieassistent, Belgier, ein über zwei Meter großer Bär, erschreckend stark. Mit seinem breiten Gesicht und den langen schwarzen Haaren, die er im Pferdeschwanz trug, erinnerte er Toppe immer an einen der »guten« Indianer aus den alten Western. Nur daß Henry wesentlich mehr sprach und wesentlich lustiger war. »Warum soll ich denn Henry einladen?«
»Na, wenn du’s nicht tust, dann wird Gabi ihn wohl einladen«, zwinkerte Bonhoeffer.
»Gabi?«
Bonhoeffer nickte nur langsam und ließ Toppe Zeit. »Gabi und Henry? Ich meine, ich wußte, daß es mit Peter nicht mehr so lief, aber … Wie haben die sich denn, ich meine, wie sind die …«
Bonhoeffer lächelte nachsichtig. »Das entzieht sich meiner Kenntnis. Ich weiß nur, daß Henry über den Wolken schwebt und zu nichts zu gebrauchen ist. Scheint ernst zu sein.«
Van Appeldorn hatte seinen Bericht beinahe fertig eingegeben, aber sein Magen wollte nicht aufhören zu knurren, und langsam wurde ihm übel. Nach dem gestrigen leichten – er betonte es noch einmal für sich selbst: leichten – Absturz bei Coenders an der Theke hatte er heute morgen, als die Zentrale ihn aus dem Bett holte, außer schwarzem Kaffee und einer halben Scheibe trockenem, verbrannten Toast, die Marion ihm so liebevoll hingeknallt hatte, noch nichts zu sich nehmen können. Mittlerweile war es Viertel vor zwei. Wo sollte er jetzt was zu essen herkriegen? Die Tankstelle gegenüber hatte heute geschlossen.
In Heinrichs’ Schreibtisch fand er zwei Schokoriegel und ein Salamiwürstchen. Besser als nichts. Er leckte sich die Finger ab und setzte sich wieder an die Tastatur, als die Tür aufging. Na endlich!
»Hallo, Norbert.« Toppe wirkte auch nicht gerade frühlingsfrisch. »Kein Kaffee da?«
»Siehst du doch.«
»Dann mache ich welchen.«
»Nun komm schon«, drängte van Appeldorn. »War es nun Mord oder nicht?«
»Nein, war es nicht. Glöckner ist an seinem Erbrochenen erstickt.«
»Hatte ich mir fast gedacht. Ich habe den Bericht fertig. Soll ich ihn dir ausdrucken?«
»Nein, erzähl es mir lieber.«
Van Appeldorn legte die Füße auf den Schreibtisch.
Hermann-Josef Glöckner war gleich nach dem Krieg in den Besitz des Mittelstücks vom Bimmener Triptychon gekommen. Wie genau, das wußte seine Frau nicht, denn sie hatte ihren späteren Mann erst 1949 kennengelernt, und da hatte er das Ding schon gehabt. Wie der Pastor schon gesagt hatte, sollte heute um elf Uhr die Rückgabe mit einer Messe gefeiert werden, und Glöckner war dazu als Ehrengast eingeladen worden. Gestern abend gegen acht Uhr hatte die Niederrhein Post bei Glöckner angerufen: Sie würden gern vor der Messe noch ein Foto von ihm und dem Triptychon machen und ihn kurz interviewen. Deshalb hatte sich Glöckner schon früh auf den Weg gemacht, um den Fotografen und den Redakteur pünktlich um Viertel nach neun zu treffen.
»Der Anrufer war also wieder ein Mann?«
»Davon geht Frau Glöckner aus, aber sicher weiß sie es nicht, weil ihr Mann das Telefonat nur beiläufig erwähnt hat.«
Frau Glöckner war gegen Viertel nach zehn in ihrem eigenen Auto nach Bimmen gefahren, um mit ihrem Mann rechtzeitig, bevor die anderen Kirchgänger kamen, die Ehrenplätze einnehmen zu können. Vor der Kirche hatte sie den Küster und ein älteres Ehepaar getroffen und war gemeinsam mit den Leuten hineingegangen.
»Die war komisch, die Frau«, sagte van Appeldorn. »Ziemlich kühl und die ganze Zeit sehr diszipliniert.«
»So was gibt’s doch öfter.«
»Wenn du gerade erst deinen Alten gefunden hast, mit nacktem Arsch quasi gekreuzigt?«
Aber Toppe ging nicht weiter darauf ein. »Wie steht es mit Glöckners Beziehungen zu dieser Unternehmermafia?«
»Schlecht. Seine Frau ist sicher, daß er keinen von denen persönlich gekannt hat.«
»Und was sagt der ED?«
»Nichts, bis jetzt. Das braune Isoband, wie gehabt. Keine Fingerabdrücke, auch wie gehabt. So weit ich weiß, ist Rother noch draußen. Er hat sich wohl in den Kopf gesetzt, doch noch Schuhspuren zu finden. Und was machen wir?«
»Fragst du mich das im Ernst?«
Van Appeldorn nahm die Beine vom Tisch. »Ich kann keine Leute mehr sehen.«
»Geht mir ähnlich, aber was hilft’s?«
Toppe sah auf seine Uhr. »Also los, auf nach Bimmen! Jeder eine Häuserreihe, und um fünf Uhr machen wir Feierabend.«
»Ich habe übrigens Charly noch nicht benachrichtigt.«
»Sag bitte nicht Charly! Das klingt so harmlos. Ich werde sie von unterwegs aus anrufen.«