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»Mann, dat is’ doch wohl Ehrensache, Chef!« Ackermann lachte. »Kommt ga’ nich’ in die Tüte, dat Sie den ganzen Rummel hier alleine wegmachen.« Er räumte die vollen Aschenbecher zusammen, zog sich den Hemdsärmel über die Faust und wischte damit die Tischplatte ab.

Helmut Toppe, der Leiter der Klever Mordkommission, öffnete erst einmal beide Fenster weit und atmete tief durch. Die Nachtluft war feucht und erfrischend kühl. Wolkenfetzen fegten über den mondhellen Himmel. Auf der Obstwiese neben dem Haus blökte ein Lamm.

»Richtich«, meinte Ackermann aufgekratzt, »ers’ ma’ den Rauch ablassen. Dat die Jungs auch immer so paffen müssen! Haben Se ir’ndwo ’n Tablett? Inner Küche vielleicht?«

»Das steht hier.« Toppe legte eine Hand ins Kreuz und bog den Rücken durch. Den ganzen Tag hatte er nur gesessen. »Aber ich mach’ das schon.«

Er nahm das Tablett, das neben dem Kamin an der Wand lehnte, stapelte die schmutzigen Gläser, die leeren Chips- und Erdnußschälchen darauf und trug alles in die Küche.

Ackermann wieselte mit den Aschenbechern hinter ihm her. »Spülen tu ich, da bin ich Fachmann drin. Sie können abtrocknen.«

Die Geburtstagsfeier – »nichts Großartiges, nur ein paar Kollegen auf ein Bier, schließlich ist es ein ganz normaler Wochentag« – war etwas aus dem Ruder gelaufen, es war kurz vor drei.

»Sie haben aber auch die goldene Partyregel nich’ beachtet, Chef«, meinte Ackermann und spritzte großzügig Spülmittel ins brühheiße Wasser. »Keine harten Sachen! Davon kriegen die Leute Sitzfleisch.«

Toppe verkniff sich ein Grinsen. Der liebe Kollege vom Betrugsdezernat, der sich hier so energisch die Ärmel aufkrempelte, hatte nur zwei Bier getrunken und trotzdem am längsten durchgehalten.

Er nahm ein Küchenhandtuch von der Heizung und gähnte. »Den Aquavit hätte ich wohl besser nicht getrunken. Ich habe das Gefühl, ich werde langsam zu alt für solche Gelage.«

»Ha!« schnaubte Ackermann. »Grad’ ma’ Fuffzich un’ schon rumschwätzen. Aber dat Mädken hat früh schlappgemacht, wa?« Der Blick, den er Toppe über die Schulter zuwarf, konnte sich zwischen neugierig und besorgt nicht entscheiden.

»Dat Mädken« war Astrid Steendijk, Toppes Freundin, die heute ihren vierunddreißigsten Geburtstag gefeiert hatte.

»Na ja«, lächelte Toppe, »die war auch seit heute früh auf einer Fortbildung in Krefeld.«

»Ah so«, meinte Ackermann, »dat kenn’ ich: den ganzen Tach zugelabert werden, macht einen mehr kaputt wie fünf Stunden Holzhacken.«

Er hielt Toppe ein tropfendes Glas hin und zwinkerte. »Aber et bringt ja au’ wat, oder etwa nich? Ich mein’, wir machen doch echt wat her. Jetz’ is et vorbei mit dat verpennte Präsidium am Rande der Stadt. Wir sind jetz’ ’n Modell, dat muß man sich ma’ wegtun!«

Toppe knurrte mißmutig.

Charlotte Meinhard, die neue Chefin, die vor einem Jahr angefangen hatte, war wie ein Wirbelsturm über sie gekommen: Sie hatte dafür gesorgt, daß das ganze Präsidium mit Computern ausgestattet worden war, die nicht nur untereinander, sondern auch mit dem LKA vernetzt waren. Sie nannten sich jetzt »Musterbehörde« und waren ein Modellversuch, der vom Land finanziert und angeblich von der ganzen Polizeination neidvoll beobachtet wurde.

»Ja, ich weiß, Sie ham et nich’ so mit de Computers«, nickte Ackermann und zog den Stöpsel aus dem Spülbecken. »Aber für mich, wenn ich wat zu prüfen un’ zu rechnen hab’, sind die Dinger echt Gold wert.«

Toppe brummelte nur. Er hatte keine Lust mehr zu reden, aber Ackermann hörte nicht auf.

»Im Moment is’ et vielleicht noch ’n bisken viel mit de alten Daten eingeben, aber demnächst! Dat is’ für euch doch auch super. Stellen Se sich ma’ vor, da können wer mit Täterprofile arbeiten un’ mit Tatortprofile, un’ wat weiß ich noch alles. Warten Se ma’, dat dauert nich’ lang’, da sind wer genauso gut wie die Amis.«

»Das befürchte ich auch«, antwortete Toppe leise und räumte die sauberen Gläser in den Schrank. »Übrigens kriegen wir jetzt auch noch einen ›Personal Manager‹, wie es sich für jedes moderne Unternehmen gehört.«

»Klasse!« feixte Ackermann. »Un’ wat is’ dat für ’n Ding?«

»Tja, da mußte ich mich auch erst mal aufklären lassen. Ein Personal Manager analysiert die Karrieren der Mitarbeiter und stellt dann fest, welche Fortbildungen man zum Beispiel noch besuchen muß.«

Ackermann legte nachdenklich die Stirn in Falten. »Ach wat? Ich dacht’, et würd’ keiner mehr eingestellt.«

»Wird ja auch nicht«, sagte Toppe. »Das übernimmt einer von uns.«

Ackermann schüttelte den Kopf und wischte langsam das Spülbecken aus. »Einer von uns? Is’ der dann nich’ mehr Polizist, oder wie?«

Toppe zuckte die Achseln.

»Moment.« Ackermann ging ein Kronleuchter auf. »Heißt dat etwa, ich müßt’ mir von so ’nem Arsch wie Flintrop erzählen lassen, wat ich zu tun hab’?«

»Genau«, griente Toppe.

»Oder von Look! Na, dat wüßt ich aber! Dat wollen wer doch noch ma’ sehen!«

»Wie?« Toppe konnte es sich nicht verkneifen. »Wollen Sie etwa keine Karriere machen?«

Aber Ackermann blieb ernst. »Ich weiß et noch nich’ so genau«, grübelte er. »Die Chefin sacht, ich soll End’ der Woche ma’ ’n Termin bei ihr machen. Dann könnt’ man dat bekakeln.«

Er wischte sich die Hände an der Hose trocken und sah sich um. »Ich glaub’, dat Gröbste ham wer jetz’. Bloß noch … wo steht denn Ihr Staubsauger?«

Toppe winkte ab. »Das hat Zeit bis morgen.« Er wollte endlich ins Bett.

»Nix da! Wat ich mach’, mach’ ich gründlich. Da is’ Asche auffem Teppich, un’ dat stinkt.«

Er hielt inne und machte große Augen.

Astrid kam schlaftrunken in die Küche getappt. Sie hatte eins von Toppes weißen Oberhemden übergezogen, sich aber nicht die Mühe gemacht, es zuzuknöpfen. Ihr langes, schwarzes Haar fiel offen über ihren Rücken. Sie stand am Türrahmen, gähnte und streckte sich ausgiebig.

»Komm doch endlich ins Bett.«

Dann rieb sie sich die Augen. »Ach, Ackermann«, seufzte sie und drehte sich langsam zur Tür. »Na dann, gute Nacht.«

Ackermann stand mit offenem Mund und schwieg ergriffen. Aber das dauerte nicht lange.

»Boah«, flüsterte er. »Ich mein’, dat ganze Präsidium weiß, dat die Kollegin bombig aussieht, un’ man hat ja auch schon immer ma’ spekuliert mit de Körbchengröße, aber dat die so scharf. un’ auch die schwarzen Löckskes … Au Mann, da würd’ sich der Playboy aber de Finger nach lecken!«

Dann schlug er sich auf den Mund und blickte Toppe erschrocken an. »Ach du Scheiße, dat war jetz’ wohl nix«, meinte er reumütig. »Meine Dicke sacht immer: Deine große Klappe bringt dich noch ma’ in ’t Grab. Hat se wohl recht mit. Ich glaub’, dat mit dem Staubsaugen, dat lassen wer lieber. Sie haben jetz’ andere Pflichten. Wo hab’ ich denn meine Jacke hingetan? Obwohl, wenn dat Pflichten sind, dann weiß ich nich’, wat …«

Toppe schob ihn schmunzelnd vor sich her in die Halle.

»Astrid.« Walter Heinrichs klang so betont beiläufig, daß bei Astrid Steendijk sofort alle Alarmglocken schrillten, und sie hatte sich nicht geirrt.

»Wenn auf einmal der Bildschirm schwarz wird, ist dann irgendwas abgestürzt?«

Astrid zählte langsam bis fünf und drehte sich dann kopfschüttelnd um. »Du treibst mich noch mal in den Freitod, Walter, weißt du das?«

Heinrichs lächelte schief und hob hilflos die Schultern.

Der Mann war sechsundfünfzig Jahre alt, gestandener Vater von fünf Kindern und ein ausgefuchster Kriminalist, aber wenn er dieses Gesicht machte, vergaß man das alles und konnte ihm unmöglich böse sein.

»Was hast du denn jetzt wieder gemacht?«

»Wenn ich das wüßte! Diese blöden Dinger stellen sich aber auch zickig an. Da tippt man aus Versehen mal auf eine falsche Taste …«

»Ich schwöre dir, das kann nicht nur eine Taste gewesen sein. Laß mich mal ran.«

Ächzend hievte Heinrichs seinen schweren Körper aus dem nagelneuen Bürosessel und machte Astrid Platz.

»Soll ich uns einen Kaffee kochen?«

Astrid nickte; dabei konnte er kaum was falsch machen. Sie war bis vor kurzem die einzige im 1. Kommissariat gewesen, die mit Computern arbeiten konnte, aber jetzt durfte sich keiner mehr davor drücken. Alle hatten sie mehrere Kurse besucht, aber die hatten bei Walter Heinrichs kaum Spuren hinterlassen. Er war an die Sache rangegangen wie an jede neue Aufgabe: mit großer Neugier und kindlicher Freude und dem Motto: »Mut zur Lücke«.

»Machst du mal das Fenster auf, Walter? Es ist so stickig hier.«

Heinrichs beeilte sich; sein Gewissen schlug wohl doch, weil er mal wieder alles vermasselt hatte. »Mm«, reckte er die Nase in die Frühlingsluft, »ein Wetterchen wie im Hochsommer. Ah, da kommt ja auch Norbert endlich.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Der reizt die Gleitzeit aber auch bis zum letzten aus.«

Heinrichs war seit Jahren immer der erste im Büro. Er versorgte frühmorgens seine Kinder, lieferte sie bei den verschiedenen Schulen ab und fuhr dann gleich durch zum Präsidium. Auch Astrid war heute schon vor acht gekommen. Wenn Helmut bei ihr schlief, wachte sie meistens schon um sechs Uhr auf, weil es ihr im Bett zu eng wurde.

Norbert van Appeldorn kam ins Büro geschlackst. »Morgen«, muffelte er und ließ sich in seinen Sessel fallen. »Oh, was sehe ich? Miss Troubleshooter schon wieder fleißig am Werk!«

Genau, dachte Astrid. Es wurmt dich mächtig, daß du mich manchmal um Hilfe bitten mußt. Aber sie hielt den Mund; auf ein Wortgefecht mit van Appeldorn hatte sie so früh am Tag noch keine Lust.

»Guten Morgen«, meinte sie nur knapp über die Schulter.

Norbert van Appeldorn tat sich mit der Computertechnik von allen am schwersten. Nach wie vor hantierte er mit Schmierzetteln herum, gab Daten erst im Nachhinein in den PC ein und schimpfte ständig über doppelte, schwachsinnige Arbeit. Astrid hatte den Eindruck, daß er sich aktiv bemühte, nichts zu kapieren.

»Na, wie war der Osterurlaub?« fragte Heinrichs aufgeräumt.

»Ging so. Liegt was an?« hoffte van Appeldorn.

»Nichts Besonderes, Datenkram eben.«

Van Appeldorn knurrte was von Zeitvergeudung und schaltete sein Terminal ein. Aber dann lächelte er plötzlich, ging zu Astrid hinüber und streckte ihr die Hand hin. »Hätte ich doch fast vergessen. Du hattest ja gestern Geburtstag. Glückwunsch!«

»Danke. Schade, daß du nicht kommen konntest.«

Er zuckte die Achseln. »Vaterpflichten. Und wie alt ist man geworden?«

»Vierunddreißig.«

Van Appeldorn zog die Augenbrauen hoch. »Vierunddreißig? Donnerwetter, hätt’ ich nicht gedacht!« Dann grinste er breit. »Sag mal, ich kenne mich da nicht so aus. Wie ist das denn so als Frau? Ich meine, tickt deine biologische Uhr in dem Alter nicht schon heftig?«

Astrid sah ihm fest in die Augen. Wie so oft hatte van Appeldorn mit blinder Sicherheit seinen Finger in eine offene Wunde gelegt.

»Tja«, gab sie aber nur kühl zurück, »bei mir tickt sie wenigstens noch.«

Heinrichs lachte laut auf. »Geht das bei euch eigentlich nie ohne Kabbelei?«

»Macht doch Spaß«, antwortete van Appeldorn und schlurfte zu seinem Platz zurück. »Mir jedenfalls.«

Es klopfte.

»Herein!« riefen sie gleichzeitig.

Helmut Toppe steckte den Kopf zur Tür rein. »Störe ich?«

»Hast du sie noch alle?« rief Heinrichs. »Seit wann klopfst du denn an?«

Van Appeldorn starrte erwartungsvoll auf den Zettel, den Toppe in der Hand hielt. »Kann es sein, daß Rettung naht?«

Toppe runzelte verwirrt die Stirn. »Rettung?« Dann sah auch er auf den Zettel. »Ach so! Nein, mit einem neuen Fall kann ich nicht dienen. Ich mußte nur mal raus aus meinem Führerbunker. Habt ihr noch einen Kaffee für mich?«

Charlotte Meinhard hatte darauf bestanden, daß Toppe ein eigenes Büro bekam: »Sie sind der Leiter des Kommissariats, und das möchten wir auch demonstrieren.«

Toppe hatte sich im gemeinsamen Büro sehr wohl gefühlt, und er wollte und brauchte den Austausch mit den anderen. Seit mehr als elf Jahren war er Leiter seiner Abteilung; es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, das betonen zu müssen. Doch die Chefin hatte alle seine Argumente weggewischt, freundlich zwar, aber sehr bestimmt. »Es geht um den Eindruck, den wir in der Öffentlichkeit machen. Wir wollen doch an unserem Image arbeiten. Und wenn Sie sich erst einmal eingewöhnt haben, werden Sie mir recht geben, da bin ich sicher.«

Heinrichs öffnete die Schranktür der neuen Kühl-Spül-Soft Drink ’n’ Snack-Einheit und nahm einen Kaffeebecher heraus, weißes Porzellan mit Silberrand.

Vorbei waren die Zeiten, wo sie sich an zweieinhalb Schreibtischen beinahe auf den Schößen gesessen hatten, wo das Faxgerät unter dem alten Garderobenständer auf einem wackeligen Tisch balancierte, die Zeiten der selbstgekauften Kaffeemaschine auf der Fensterbank, gleich neben den Aktenstapeln, der angestoßenen Keramiktassen, die irgendwer mal mitgebracht hatte.

Zwar würde das Präsidium erst in einem Jahr in den Neubau an der Kanalstraße umziehen, aber die Meinhard hatte die Mittel für die Inneneinrichtung vorzeitig lockermachen können, wie auch immer sie das geschafft hatte. Pünktlich mit den Computerterminals waren die Möbel geliefert worden: weiß und zartblau mit einem Schuß Lichtgrau; funktionell, motivierend, positiv. Der feuchte Muff in den verwohnten Räumen war geblieben, schien sogar schlimmer geworden zu sein, und der Kontrast konnte einen schwermütig machen, wenn man einen schlechten Tag hatte.

Toppe war mit der Kaffeetasse zur Fensterbank hinübergegangen und hatte es sich dort gemütlich gemacht. »Die Chefin hat mich gebeten, euch daran zu erinnern, daß der Vortrag von Herrn.« Er griff nach seinem Zettel. »… von Herrn Jacobi von der Akademie Hiltrup heute um 14 Uhr obligatorisch ist. Thema …«

»Sag es nicht«, warnte van Appeldorn.

»Oh doch«, grinste Toppe. »Polizei im Wandel – das neue Steuerungsmodell …«

Er hob einen unsichtbaren Taktstock und nickte auffordernd.

»Produkt Sicherheit«, setzten die anderen ein.

»Sehr richtig!«

Van Appeldorn schlug die Augen gen Decke. »Vielleicht«, murmelte er, »vielleicht hat der liebe Gott ein Einsehen und schickt uns eine kleine Körperverletzung oder einen netten, fetten Raubüberfall.«

Heinrichs brummte. »Laß den lieben Gott aus dem Spiel, ja?«