23
Bergfeld war auch am Abend noch nicht vernehmungsfähig. Immer noch liefen Bluttransfusionen, immer noch lag er in tiefer Bewußtlosigkeit.
»Es ist doch wie abgebissen!« Van Appeldorn schlug mit der Faust auf den Tisch, daß alle zusammenzuckten.
Niedergeschlagen hatten sie sich alle im K 1-Büro versammelt. Alle, bis auf Toppe, natürlich, und bis auf die Meinhard, die den ganzen Tag tapfer ein Interview nach dem anderen gegeben hatte und jetzt vermutlich in irgendeinem Fernsehstudio saß. Ob Eulenspiegel sich diese Popularität erträumt hatte?
»Ich verstehe nicht, wie der Typ durch unser Netz schlüpfen konnte«, meinte Heinrichs. »Der muß das durchgezogen haben, als op den Hoek sein Interview gegeben hat und wir alle nur darauf gespitzt waren.«
»Oder während der Reden«, überlegte Astrid. »Aber wann auch immer, wir waren seit gestern im Schloß, haben jeden überprüft, der da rumlief, und auf der Videoüberwachung in allen Treppenhäusern war auch nichts Ungewöhnliches.«
»Im Kurhaus war es doch genauso«, grübelte Heinrichs weiter. »Und wenn es doch einer aus dem internen Kreis ist? Einer von den Promis? Oder von der Presse? Wir müssen nachgucken, wieviele Leute zu allen drei Veranstaltungen geladen waren: Die Ausstellung, das Kurhaus und Moyland.«
»Und ich wüßte zu gern«, unterbrach ihn van Appeldorn, »was Bergfeld eigentlich in diesem Raum verloren hatte. Der Rundgang durch die Ausstellung war doch noch gar nicht angesagt. Er war allein auf der Veranstaltung, soweit wir wissen. Aber trotzdem muß der doch mit irgendwem geredet haben. Irgendwer muß doch gesehen haben, wann der sich abgesetzt hat.«
»Logo«, kam es von Ackermann. »Ich weiß nich’, wie et bei euch is’, aber ich für mein Teil hab mich schonn auf lange Tage un’ kaputte Füße eingestellt. 216 Menschen, denen wer auffen Zahn fühlen müssen. Aber wat sollet, wen’stens tut man sich inne besseren Kreise um un’ nich’ wie sons’ inne sogenannte Halbwelt.«
»Klappe, Ackermann«, fuhr van Appeldorn ihm wie gewohnt dazwischen. »Ob Bergfeld auch einen Anruf gekriegt hat? Vermutlich ja. Was, zum Teufel, ist überhaupt passiert? Das soll der Typ uns gefälligst erzählen, und zwar schnellstens. So, einer von uns wird sich jetzt an dessen Bett setzen, und sobald der die Augen aufschlägt, kriegt der ein Mikro unter die Nase.«
Astrid zog langsam die letzte Haarnadel aus ihrer Frisur und legte müde die Stirn in die Hände. »Ich wäre dir dankbar, wenn du nicht mich schickst. Mir ist immer noch schlecht. Ich weiß auch nicht, was mit mir heute los ist.«
Wieder einmal war es Ackermann, der bereitwillig einsprang. Er verbrachte eine lange, sinnlose Nacht neben Bergfelds Bett auf der Intensivstation. Um halb sechs in der Frühe klingelte er van Appeldorn aus dem Bett. »Ich kann nich’ mehr, ich penn’ dauernd ein. Du muß’ kommen un’ mich ablösen.«
Van Appeldorn duschte in aller Ruhe und besorgte sich am Bahnhof erst noch zwei Sonntagszeitungen, bevor er zum Krankenhaus fuhr.
Ackermann stand auf dem Flur an der Wand und schlief. Sein Zottelhaar war filzig, und in seinen langen Bart hatte er lauter Löckchen gedreht. Mit Mühe hob er die schweren Lider, als er Schritte hörte.
»Bisse über Tokio gefahren? Ich geh’ echt auffem Zahnfleisch. Mor’n, trotzdem. Halt, halt, wir können jetz’ nich’ in dat Zimmer rein. Da is’ wat am Bach.«
Bergfeld war ins Leberkoma gerutscht.
»Das könnte eine Reaktion auf das Chloroform sein, und dann noch die ganzen Transfusionen«, erklärte der Arzt. »Wir werden ihn nach Essen verlegen.«
»Fährst du mit, Norbert?« fragte Ackermann.
»Was denkst du denn? Bergfeld ist im Moment unsere einzige Karte im Spiel.«
»Aber ob die ’n Trumpf is’?« wiegte Ackermann zweifelnd den Kopf.
»Wann wird er verlegt?« wandte sich van Appeldorn wieder an den Arzt.
»So schnell wie möglich. Aber an Ihrer Stelle würde ich nicht gleich mitfahren. Die Untersuchungen in Essen dauern auch ihre Zeit.« Er war wirklich hilfsbereit. Auch er wußte, wie jeder andere in der Stadt, bestens über Eulenspiegel Bescheid. »Warten Sie mal eben. Vielleicht kann ich Ihnen die Durchwahl von einem Kollegen in der Essener Klinik besorgen. Bei dem könnten Sie sich dann auf dem laufenden halten.«
Der Arzt in Essen entpuppte sich als arroganter Schnösel, der es für nötig erachtete, van Appeldorn geschlagene zehn Minuten lang darüber aufzuklären, daß er in erster Linie der Medizin verpflichtet und nicht Handlanger der Polizei wäre. Außerdem sei seine Zeit kostbar.
Nun war diplomatisches Geschick noch nie van Appeldorns Stärke gewesen, und so endete das Gespräch mit der Gewißheit, daß der Arzt sich auf keinen Fall melden würde, wenn Bergfeld aufwachte.
»Du bis’ vielleicht ’ne Knalltüte«, schimpfte Ackermann. »Un’ wat nu’?« Er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten.
»Ich hole mein Rasierzeug und ein paar Klamotten zum Wechseln und fahre nach Essen. Da kriegen mich dann keine zehn Pferde mehr weg, und wenn ich bei denen auf der Fußmatte übernachte.«
Aber dazu kam es dann doch nicht. Bergfeld starb in den frühen Abendstunden, ohne noch einmal das Bewußtsein zu erlangen.
Helmut Toppe war sehr froh, daß Lowenstijn ihn am Montag morgen anrief und um Hilfe bat. Seine Stimmung lag weit unter dem Gefrierpunkt, und ein bißchen körperliche Arbeit würde ihm gut tun.
Die Villa lag auf dem Eltener Berg, gleich in der Nähe vom Drususbrunnen. Toppe fand sie nicht sofort und kurvte eine Weile bergauf, bergab durch den Ort. Was für eine seltsame Mischung von Häusern. Viel Neues, Protzgleichförmiges wie überall, aber von den älteren Gebäuden sah ein Teil sehr deutsch, der andere eindeutig holländisch aus. Er wußte nicht, wie oft dieser Berg seine Nationalität gewechselt hatte, aber in den Sechziger Jahren war er zum vorerst letzten Mal an Deutschland gefallen. Endlich entdeckte Toppe die Hausnummer neben einem schmiedeeisernen Doppeltor und konnte hinter hellem Laub ein Haus erahnen: eine zweigeschossige, gelb getünchte Jugendstilvilla mitten in einem weitläufigen Park mit jahrhundertealten Buchen, Eiben und Ilexbäumen.
Toppe folgte der gewundenen Auffahrt bis zur großen Freitreppe und parkte neben dem maronenfarbenen Jaguar.
Sofort öffnete sich das Portal und ein bulliger Mann von Ende Fünfzig in ausgeleierten Cordhosen und kariertem Flanellhemd trat hinaus. Er hatte Hände wie Kohlenschaufeln und einen beeindruckenden roten Schnurrbart, der sich an den Enden kunstvoll nach oben bog. Nach einem kritischen Blick auf den Besucher verschwand er, ohne ein Wort zu verlieren, wieder im Haus. Toppe blieb verwundert auf der untersten Treppenstufe stehen und wartete unschlüssig, bis Lowenstijn endlich auftauchte.
»Komm nur herein, wir beißen nicht.«
»War das gerade dein Butler?«
»Ja, das war Daniel. Du mußt ihn entschuldigen, er schämt sich. Sein Deutsch ist noch sehr schlecht, meint er.«
Sie schüttelten sich die Hände. »Wie ein Butler sieht er nicht gerade aus.«
»Laß ihn das nur nicht hören. Er war auf einer der besten Butlerschulen der Welt, in London, und er ist sehr stolz auf sein Diplom. Warte nur, bis du ihn in seiner Kluft siehst.«
Toppe folgte ihm in die mahagonigetäfelte Eingangshalle.
»Allerdings«, flüsterte Lowenstijn, »hat er diese Schule erst vor vier Jahren besucht. Mein Geschenk zu seinem Fünfzigsten. Es war sein Lebenstraum. Früher war er Schweißer in Birmingham.«
»Und wie bist du an den gekommen?«
»Ach, das ist eine lange Geschichte. Erzähle ich dir mal bei Gelegenheit. Soll ich dich herumführen?«
Das Haus war prachtvoll, die Möbel ausgesuchte Kostbarkeiten, und natürlich hatte ein Umzugsunternehmen längst alle Arbeit erledigt.
»Du hast doch gesagt, du brauchst meine Hilfe.«
Mittlerweile waren sie in der Küche angekommen, und Lowenstijn holte zwei Flaschen belgisches Bier aus dem Kühlschrank und goß es in schlanke Gläser.
»Brauche ich auch. Komm mit nach draußen. Und nimm dein Bier mit, wir setzen uns ein wenig in die Sonne.«
Neben dem Haus standen ein paar große Pflanzkübel mit Oleander und Jasmin. »Die müssen auf die hintere Terrasse. Der Gartenbaumann liefert nur bis vor die Haustür. Er ist Holländer.«
Sie setzten sich auf eine verwitterte Steinbank unter einen Baum.
»Und deshalb sollte ich kommen?« lachte Toppe. »Die schafft dein Daniel doch ganz allein mit Links.«
Lowenstijn nippte an seinem Bier. »Der Mensch braucht Freunde. Und jetzt, wo ich in Deutschland wohne … Du und ich, wir haben einiges gemeinsam.«
Toppe antwortete nicht. Er lehnte sich gegen den Baumstamm und ließ den Blick über die Ebene schweifen. In der Ferne konnte man die Silhouetten der Schwanenburg und der Stiftskirche erahnen. »Es ist herrlich hier, aber meinst du nicht, es könnte ein bißchen zu groß sein für einen allein?«
Lowenstijn lächelte mit den Augen. »Vielleicht will ich ja eine Familie gründen.«
»Du? Nie im Leben!«
»Wieso nicht? Ich denke, fünfzig ist genau das richtige Alter dafür.«
»Da habe ich so meine Zweifel. Außerdem braucht man im allgemeinen dazu eine Frau.«
»Es gibt Anwärterinnen. Obwohl meine Favoritin ja leider dir vollkommen verfallen ist. Und davon läßt sie sich nicht abbringen.«
Toppe verschluckte sich und mußte husten. »Hattest du nicht gerade etwas von Freundschaft gesagt?«
Lowenstijn schaute ihn unschuldig an. »Bitte, ich habe immer mit offenen Karten gespielt und mit fairen Mitteln. Und ich akzeptiere eine Niederlage.«
Ein Kleinwagen kam den kopfsteingepflasterten Weg hochgerollt. Er war rot und hatte vier postgelbe Kotflügel. Das konnte nur Karin Hetzel sein.
»Da kommt eine Anwärterin«, nickte Toppe in ihre Richtung.
»Nein«, entgegnete Lowenstijn ernsthaft. »Ich bevorzuge jüngere Frauen, genau wie du. Für ernste Beziehungen jedenfalls.«
Karin kam gelaufen und umarmte beide Männer herzlich. »Das ist ja traumhaft hier. Darf ich mich umsehen? Kann ich ein paar Fotos machen?«
»Nur zu, fühl dich ganz wie zu Hause. Helmut und ich haben sowieso noch etwas zu besprechen.«
»Haben wir?« fragte Toppe, als Karin zum Auto gegangen war, um ihre Kameras zu holen.
Lowenstijn nickte. »Ich habe heute morgen Zeitung gelesen. Moyland ist euch ja wohl ganz schön in die Hose gegangen.«
»Das kannst du laut sagen«, antwortete Toppe finster.
»Wieso nimmst du diesen Fall eigentlich so persönlich?«
Toppe lachte auf. »Wie würdest du ihn denn nehmen, wenn dir jemand dein Haus anzündet und auf dich schießt?«
»Ich habe den Eindruck, daß mehr dahinter ist.« Lowenstijn malte mit der Schuhspitze Streifenmuster auf den Sandboden. »Sag mal, ist dir noch nie der Gedanke gekommen, daß dieser Eulenspiegel einer von euch sein könnte?«
»Flüchtig, aber ich hab’s sofort wieder verworfen.«
»Das solltest du nicht. Seit Astrid mir auf eurer Party die ganze Story erzählt hat, denke ich darüber nach. Wer wußte eigentlich, daß du zu dem Zeitpunkt in Bimmen warst?«
»Die Leute im Dorf haben mich gesehen. Ansonsten wußten nur die Kollegen, daß ich hin wollte, eine ganze Menge sogar«, gab Toppe widerstrebend zu.
»Siehst du, das meine ich. Oder gehst du davon aus, daß euer Eulenspiegel aus Bimmen kommt?«
»Nein, bis jetzt weist nichts darauf hin. Aber ein Maulwurf bei uns? Das ist absurd, Wim.«
»Ist es das? Ihr habt doch erzählt, daß so viele neue Kollegen gekommen sind.«
»Schon, aber es ergibt alles keinen Sinn.« Toppe stellte das leere Bierglas neben sich auf der Bank ab und stand auf. »Laß uns endlich die Blumenkübel schleppen. Ich komme mir schon ganz nutzlos vor.«
»Du bist ein Dickschädel, aber nun gut.«
Beim ersten Kübel klappte alles prima, aber als Toppe den zweiten mit Schwung anhob, fuhr ihm ein Schmerz mitten durch seinen Körper, die Beine knickten weg, und er lag am Boden wie ein hilfloser Käfer.
»Oh verflucht, nicht schon wieder!«
Lowenstijn hatte die Augen aufgerissen. »Was machst du denn?«
»Hexenschuß. Nein, bitte, nicht anfassen. Ich muß allein hochkommen.«
Er packte den wulstigen Rand des Pflanzkübels mit beiden Händen und holte ein paarmal Luft. »Kannst du mich ins Krankenhaus fahren?«
»Quatsch, Krankenhaus! Leg dich wieder hin, und dreh dich auf den Bauch.«
»Was hast du vor?« In Toppes Augen mischten sich Schmerz und Angst.
Lowenstijn hockte sich neben ihn. »Ist ein Trick, den mir ein alter Freund aus Schweden beigebracht hat. Der funktioniert immer. Ich werde mit meinem ganzen Gewicht langsam über deinen Rücken gehen, dicht an der Wirbelsäule lang. Das ist im Moment ein bißchen unangenehm, aber dafür fühlst du dich nachher wie neugeboren.«
Toppe hatte seine Zweifel, aber einen Versuch war es wert. Schaden würde es hoffentlich nichts.
Ein bißchen unangenehm? Es fühlte sich an, als würde er in Stücke gerissen, es krachte, und er stieß einen sehr langen, sehr lauten Fluch aus. Dann war es vorbei.
Karin Hetzel kam gerannt. »Was ist passiert? Was macht ihr denn da?«
»Physiotherapie«, grinste Lowenstijn. »Komm hoch, Helmut.«
Toppe stand langsam auf und machte zwei Schritte. Es war unglaublich, keine Spur von Schmerz. Ein bißchen steif, ja, aber er konnte sich gut bewegen.
Karin lachte. »Also wirklich! Ich habe tatsächlich gedacht, mein Chef wäre hier. Bei seinem wöchentlichen Wutanfall hört der sich genauso an, wie du gerade eben.«
Toppe durchzuckte es wie ein Blitz.
»Was bin ich doch für ein Idiot!« murmelte er, und dann lief er, ohne sich zu verabschieden oder auch nur daran zu denken, zu seinem Auto.
»Leichtfüßig wie ein Reh«, kommentierte Lowenstijn versonnen.
»Was ist denn jetzt schon wieder los?« fragte Karin.
»Das sah mir ganz nach einer Erleuchtung aus.« Lowenstijn legte den Arm um ihre Schultern und lächelte charmant. »Darf ich dir jetzt mein Heim zeigen? Ich habe auch eine sehr interessante Briefmarkensammlung.«
»Davon bin ich überzeugt«, lächelte sie ebenso charmant zurück. »Worauf warten wir?«