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Für Astrid waren die nächsten Tage die schlimmsten in ihrer gesamten Dienstzeit. Die anderen hatten schon öfter Durststrecken erlebt und nahmen es mit mehr Gleichmut hin, ein wenig mehr Gleichmut.
Die Vernehmungen verliefen zäh und unergiebig, und schon am ersten Tag hatte Ackermann all seine Tricks verspielt.
Frau Albers weinte die ganze Zeit vor Erschöpfung; sie hatte seit mehr als zwei Wochen aus Sorge um ihre jüngste Tochter kaum geschlafen. Am 9. Februar hatte sie um 19
Uhr in der Frauenhilfe einen Diavortrag gehalten über das kleine afrikanische Dorf, an das der Erlös vom Weihnachtsbazar gegangen war. Als sie danach nach Hause kam, mußte sie sich um Clara kümmern, die mit Fieber im Bett lag.
Astrid fand sich in Grieth wieder, bekam prompt alle Angaben bestätigt und unaufgefordert noch einen Lobgesang auf die christliche und selbstlose Familie Albers, die das Vorbild und die Seele der Kirchengemeinde war.
Die Schwiegertochter hatte sich am 9. Februar den ganzen Tag schon nicht wohlgefühlt und war, gleich nachdem sie ihre Kinder ins Bett gebracht hatte, selbst schlafen gegangen. Dasselbe hatte auch schon ihre Schwiegermutter erzählt.
Für Donnerstag bestellte Heinrichs auch Klinger und Schmitz, die ihren Berichten nichts hinzuzufügen hatten. Auch Ackermann fiel auf, daß sich die Aussagen der vier Männer im Wortlaut immer ähnlicher wurden.
Obwohl Haus Barbara nach wie vor verwaist war, erlebte van Appeldorn am Dienstag ein kleines Zwischenhoch. Er hatte endlich Kirsten Glade ausfindig gemacht, ein fünfzehnjähriges Mädchen aus Wachtendonk. Aber als er dann mit ihr und ihren Eltern sprach, erfuhr er lediglich, daß sie im Juli im Haus Barbara an Exerzitien teilgenommen hatte, eine der Veranstaltungen, bei der in Mühlenbecks Unterlagen die Teilnehmerliste fehlte. Angeblich war nichts Ungewöhnliches vorgefallen. Van Appeldorn wußte, daß sie log, aber auch sein zähes Drängen brachte sie nicht zum Reden. Von Frank Toenders wollte sie in ihrem Leben nie etwas gehört haben.
Am Mittwoch war endlich die Fahndung erfolgreich.
Mühlenbecks hatten sich in die Obhut des Mutterhauses begeben, und die ›Gemeinschaft‹ hatte inzwischen eine bundesweit prominente Anwaltskanzlei mit der Vertretung von Mühlenbecks Interessen betraut. Auch van Appeldorn hatte vorläufig das Ende einer Sackgasse erreicht.
Toppe kochte allabendlich gegen seinen Frust an. Er hatte sich ein zweites italienisches Kochbuch gekauft und noch mehr köstliche Vorspeisen entdeckt. Als Gabi am Donnerstag abend den Kühlschrank und die Vorratskammer inspizierte, entschied sie, die Pasta, die sie als Hauptgericht geplant hatten, zu streichen, und machte statt dessen ein zweites Tiramisu.
Astrid hatte ihre längst vergessene Liebe zum Joggen wiederentdeckt.
Jeder ging jedem aus dem Weg.
Schon seit Stunden atmete Opa Czesnik nur noch unregelmäßig, mit langen Pausen, und er war offenbar nicht bei Bewußtsein. Trotzdem hielt Christian seine Hand und streichelte ihm hin und wieder über den Kopf.
Er schrak zusammen, als der alte Mann die Augen aufschlug. »Hast du es geschafft, Junge?« Seine Stimme war heiser, aber gut zu verstehen.
»Noch nicht«, beugte Christian sich über ihn. »Aber heute, als ich am Fenster stand, da hat sie so getan, als müßte sie auf die Toilette, und als sie am Fenster vorbeikam, hat sie die Hand an die Scheibe gelegt und genickt. Ihre Augen haben ein bißchen gelächelt.«
»Das ist sehr gut«, flüsterte Opa Czesnik.
»Und für morgen habe ich einen neuen Spruch aufgeschrieben«, redete Christian weiter. »Wer den Schuldigen gerecht spricht und den Gerechten schuldig, die sind beide dem Herrn ein Greuel.«
Er wartete, aber der alte Mann sagte nichts mehr. Der nächste Atemzug blieb aus.
Christian weinte.
Am Freitag rief Toppe mittags das Team zusammen.
»Wir sehen alle aus wie die Vogelscheuchen«, begann er, und nicht mal Ackermann lachte.
»Am Montag fängt die neue Chefin an, und da sollten wir doch ein etwas frischeres Bild abgeben. Deshalb schicke ich uns jetzt alle ins Wochenende. Dies ist nicht der erste Fall, bei dem wir uns totgelaufen haben. Also sehen wir zu, daß wir die Köpfe leer kriegen und dann am Montag noch mal ganz von vorn anfangen. Und wenn ihr morgen abend bei uns auf der Einweihung erscheint, dann will ich entspannte Gesichter sehen.«
Astrid kümmerte sich nicht um die anderen und umarmte ihn. Er streichelte ihren Rücken. »Und wir beide gehen jetzt den Wein für morgen einkaufen. Wein und Schnaps.«
»Ach ja, Chef«, meinte Ackermann. »Ich wollt mich noch ma’ bedanken, auch im Namen von meine Frau, dat Sie uns auch eingeladen haben.«
Die Halle war prächtig. Wie hatten die beiden Frauen das bloß gezaubert?
Die langen Biertische sahen aus wie eine Prunktafel in einem Nobelhotel, dabei hatten sie statt Damast nur weiße Bettlaken decken können, aber die hatten sie gestärkt und geplättet. Bänke waren ihnen zu popelig und zu unbequem gewesen, also war Astrid losgefahren und hatte bei allen Bekannten Stühle organisiert, je älter, desto besser. Auch das weiße Porzellan, die Gläser und das Besteck waren aus mehreren Haushalten zusammengesucht, und sie hatten alles auf Hochglanz poliert. Gabis Blumendekoration und die Servietten paßten farblich perfekt zu den Kacheln, die vielen Kerzen und vor allem Astrids Kronleuchter waren das Tüpfelchen auf dem i.
»Hee«, kam Astrid aus ihrem Zimmer. »Es ist Viertel vor, und du bist noch nicht umgezogen.«
»Umgezogen?« Toppe betrachtete ihr sehr enges, sehr kurzes, sehr schwarzes Kleid und merkte, wie sein Puls schneller wurde.
»Das ist ein Festessen, Süßer«, küßte sie ihn. »Du willst doch nicht in diesem buffigen Pullover bleiben.«
Er schnupperte. »Du hast ein neues Parfüm.«
Sie boxte ihm gegen die Brust. »Schande auf dein Haupt! Das habe ich schon seit drei Tagen.«
Ackermanns waren die ersten, und beim Anblick der Festtafel verstummte selbst Jupp Ackermann. Seine Frau hingegen brach in lautstarke Begeisterung aus. Sie trug ein hautnahes Etwas aus weißer Spitze, mit hellrotem Taft unterlegt. Astrid schnappte kurz nach Luft, eine gewagte Wahl bei einer Körpergröße von 1,82 in und mindestens neunzig Kilo Gewicht.
Alle waren blendender Laune. Sogar van Appeldorn erzählte witzige Geschichten von der Pampersmannschaft seines Fußballclubs, und seine Frau strahlte ihn verstohlen an.
Bonhoeffer lobte jedes einzelne Gericht und machte sich einen Spaß daraus, alle Zutaten herauszuschmecken.
Gabi hatte zu Anfang kurz geschmollt. »Christian hat versprochen, daß er dabei ist.«
Aber Toppe hatte sie schnell auf den Mund geküßt. »Wart’s ab, der kommt noch.«
Um halb zehn öffnete Toppe den Kühlschrank und überprüfte besorgt den Weißweinvorrat.
»Da ist noch eine Kiste in der Kammer«, sagte Astrid, die ihm nachgekommen war und sich von hinten an ihn schmiegte.
Er drehte sich um und umfaßte sie. »Dann ist es ja gut. Ich hab schon gedacht, es würde eng.«
Sie schob ihren Schenkel zwischen seine Beine und sah ihm herausfordernd in die Augen. Er hielt ihren Blick fest, zog langsam ihr Kleid hoch und legte ihr die Hand auf den Po. »Ich hasse Strumpfhosen.«
»Wo bleibt der Wein?« rief Gabi von der Tür her und schüttelte dann kichernd den Kopf. »Also wirklich! In der Küche!«
Toppe gab Astrid frei. »Stellst du noch ein paar Flaschen kalt? Ich trage die zwei hier schon mal rein. Es hat geklingelt!« rief er, aber Gabi war schon gelaufen.
Es war Christian. Er sah an seiner Mutter vorbei zu Toppe hin. »Papa?« Seine Augen brannten.
Toppe stellte die Flaschen auf den Tisch. »Was ist passiert?«
Die Gespräche verstummten.
Christian blieb an der Tür. »Hast du mal zwölf Mark für das Taxi? Und kannst du mir helfen?«
Toppe schob sich an den Stühlen vorbei und folgte seinem Sohn nach draußen.
Alle sahen sich an.
»Kommt, Kinder«, rief Heinrichs. »Bloß keine Aufregung. Vielleicht hat der Junge nur einen über den Durst getrunken.«
Aber da öffnete sich die Haustür schon wieder, und Astrid hielt die Luft an. Ihr lief ein Schauer über den Rücken.
Christian und Toppe kamen langsam herein. In der Mitte, vorsichtig gestützt, Clara.
Sie war schwach, ging sehr vorsichtig, aber ihr Blick, der über die Anwesenden glitt, war klar und fest.
Van Appeldorn, der am Ende des Tisches saß, stand leise auf und schob seinen Stuhl vor.
Clara setzte sich und legte die Hände im Schoß zusammen. Christian trat sofort hinter sie und hielt sie bei den Schultern.
»Du hast sie einfach aus dem Krankenhaus geholt?« fragte Toppe fassungslos.
»Durch das Fenster«, nickte Christian. »Als ihr Bruder draußen rauchen war.«
Astrid kam langsam näher und ging dann neben Clara in die Hocke.
»Geht es dir gut, Clara?« fragte sie leise.
»Ich weiß es nicht«, flüsterte sie.
Christian drückte seine Hände fest auf ihre Schultern. »Sie hat alles gesehen. Wie ihr Vater und ihr Bruder und die beiden Nachbarn, wie sie Ralf … sie ist fast gestorben, Papa … und das mit dem Boot …«
»Mein Bruder hat das Motorrad in der Scheune versteckt.« Clara schaute auf den Tisch. »Ich habe Hunger.«