23

Opa Czesnik lag im Bett und sah aus, als ob er fest schliefe, aber sein Geist war hellwach.

»Und dann?« drängelte er, ohne die Augen zu öffnen.

»Nichts«, antwortete Christian bedrückt. »Das ist es ja eben. Gestern hat mich der Arzt nicht zu Clara gelassen, weil sie noch zu schwach war. Heute sagt mir die Krankenschwester, ich könnte ruhig zu ihr gehen für ein paar Minuten. Aber da sitzt Claras Mutter am Bett, springt sofort auf, als sie mich sieht und schickt mich wieder raus. Die tun alle so, als hätte ich die Pest, als könnte ich Clara mit meiner Anwesenheit verseuchen.«

Opa Czesnik lachte gurgelnd.

»Ich hab Clara nicht mal ansehen können, weil die Mutter davorstand.« Christians Stimme wurde rauh. »Aber dann bin ich einfach hintenrum in den Park. Claras Zimmer liegt im Erdgeschoß und hat ein schönes, großes Fenster. Und dann konnte ich sie endlich sehen. Sie liegt da wie tot. Einmal hat sie ganz kurz die Augen aufgemacht, aber ich glaube, sie hat mich gar nicht erkannt.«

Opa Czesnik murmelte etwas, aber Christian konnte es nicht verstehen. Er beugte sich über den alten Mann und lauschte.

»Kämpfen …« flüsterte Czesnik. »Du mußt um dein Mädchen kämpfen … gesund … wegholen von denen …«

Christian ließ sich wieder auf den Stuhl fallen. »Wie soll ich das denn machen? Opa? Ich hab so ein ganz blödes Gefühl, und ich weiß nicht, ob., wie ich.«

Aber der alte Mann war eingeschlafen.

Der Verputzer, den Ackermann geschickt hatte, war ein munterer Geselle. Schon um acht Uhr am Samstag morgen stand er auf der Matte, verkündete, er nehme achtzehn Mark die Stunde und machte sich ohne großes Federlesen ans Werk.

Bis zum Mittag kannten sie seine ganze Lebensgeschichte, die Krankheiten seiner Frau im Detail und waren bestens unterrichtet über die Schulkarrieren seiner vier Kinder und die Alkoholprobleme seines Schwiegervaters. Um zwei Uhr betrachtete er zufrieden sein Werk, kassierte seinen Lohn, schüttelte ihnen die Hände wie ein langjähriger Freund, der zu einer Weltreise aufbricht, und ließ sie allein mit fünf leeren Bierflaschen und einer unglaublichen Menge Dreck.

Astrid stand mitten in der Halle und betrachtete resigniert das Chaos. »So langsam hängt mir die Bauerei zum Hals raus.«

Toppe kam schon mit dem Putzeimer. »Und wie immer ist keiner zu Hause, wenn’s Arbeit gibt«, brummte er. »Genau das, was man sich an einem geruhsamen Wochenende so vorstellt.«

»Geruhsam?« meinte sie gereizt. »Du wirst wirklich immer komischer. Im Fall Poorten überschlagen sich die Dinge, und du spielst Wochenende.«

Er zog es vor, darauf nicht zu antworten, sondern fing an, mit einer Maurerkelle die feuchten Putzreste in den Eimer zu schaufeln.

Kurze Zeit später kam Christian nach Hause, schob sich mit einem leisen Gruß an ihnen vorbei, überlegte es sich dann aber, als er schon auf der Treppe war. »Kann ich euch helfen?«

Toppe grunzte nur, doch Astrid schaute erstaunt hoch. »Danke, aber wir sind sowieso jetzt fertig.«

Der Junge sah traurig und verwirrt aus. Sie ließ den Aufnehmer in den Eimer gleiten. »Trinkst du einen Tee mit?« Er zuckte die Achseln, kam aber mit in die Küche.

»Seid ihr schon weitergekommen mit Ralf?« fragte er beiläufig.

Astrid stutzte. »Na ja, ein bißchen schon, aber der große Durchbruch ist es noch nicht.«

Toppe hatte sich eine Zigarette angezündet und stand gegen den Türrahmen gelehnt. »Gut, daß du fragst, Christian. Dieses Haus Barbara, wir haben da ein paar Hinweise gekriegt. Der Laden gefällt mir nicht. Wußtest du, daß bei denen neulich ein Junge gestorben ist, weil sie nicht darauf geachtet haben, daß der krank war?«

Christian riß die Augen auf, aber sein »Was?!« klang schlapp.

Toppe setzte sich an den Tisch und erzählte auch von den anderen Zwischenfällen.

»Und ich muß dir sagen, mir wird ziemlich flau, wenn ich sehe, wie sehr die Leute Einfluß auf Minderjährige nehmen. Die meisten sind ja noch jünger als du. Mir wäre es wirklich lieb, wenn du nicht mehr dort hingingest.«

»So oft war ich doch gar nicht da, Vater«, meinte Christian beschwichtigend, und er blieb auch ganz ruhig, als Toppe über ›Opus Dei‹ und über Sekten sprach.

»War Clara eigentlich auch immer auf den Seminaren?« fragte Astrid.

»Ja, ich habe sie dort erst richtig kennengelernt. Ich meine, ich kannte sie vom Sehen in der Schule und im Altenheim, aber so richtig näher gekommen bin ich ihr erst bei der Gemeinschaft.«

»Ich denke, dort wird man nach Geschlechtern getrennt«, wunderte sich Toppe.

»Ach was, doch nur, wenn Exerzitien sind.«

»Wir haben einen Zeugen gefunden, der Ralf an dem Abend, als er getötet wurde, zusammen mit Clara gesehen hat«, sagte Astrid.

Christian schüttelte stumm den Kopf.

»Doch. Und er sagt auch, die beiden hätten geknutscht.«

Der Junge blickte auf seine gefalteten Hände, die Knöchel wurden weiß. »Kann ich mir nicht vorstellen, Clara und Ralf. Das kann einfach nicht sein! Clara … nein«, entgegnete er gequält.

Norbert van Appeldorn hätte seine Aktion am liebsten schon vor Tagesanbruch gestartet, aber dafür wollte sich der Staatsanwalt nicht erwärmen lassen. Wie der Einsatz konkret ablaufen sollte, hatte van Appeldorn wohlweislich nicht mit Stein abgesprochen.

Die sechs uniformierten Kollegen machten ihre Sache denn auch wirklich gut. Wie sie den Einsatzwagen mit quietschenden Reifen auf dem Hof zum Stehen brachten, wie die Türen an beiden Seiten aufglitten, wie sie alle gleichzeitig heraussprangen und sich in Sekundenschnelle rechts und links von der Eingangstür postierten, all das hätte jedem Unterrichtsfilm alle Ehre gemacht.

»Könnte man sagen, daß Sie vielleicht ein klein wenig übertreiben, lieber van Appeldorn?« fragte Stein, aber man hörte, daß er sich nur mit Mühe das Lachen verkniff.

»Das einzige, was ich wirklich bedauere, ist, daß es hier keine Nachbarn gibt«, meinte van Appeldorn und streckte die Hand nach der Klingel aus. »So ein kleiner Menschenauflauf käme noch besser.«

Mühlenbeck war nur einen kurzen Moment lang sprachlos, dann spuckte er Gift und Galle. »So etwas muß ich mir nicht bieten lassen! Ich rufe meinen Anwalt an.«

»Das bleibt Ihnen selbstverständlich unbenommen«, entgegnete Stein gelassen. »Aber einstweilen werden wir unsere Arbeit erledigen. Meine Herren«, forderte er die sechs Beamten mit einer einladenden Handbewegung auf, »Ihr Kollege van Appeldorn wird Ihnen zeigen, was er benötigt.«

Magda Mühlenbeck stand auf der Treppe und rang die Hände. »Wir sind doch keine Verbrecher«, flüsterte sie.

»Das muß sich erst noch rausstellen«, meinte van Appeldorn im Vorbeigehen und schüttelte den Kopf über ihren Aufzug. Die Tunika hing schlapp an ihrem Körper und hatte die Farbe eines alten Feudels.

Sie räumten das ganze Büro leer, kein Blatt Papier, das sie nicht mitnahmen.

»Gibt es noch weitere Unterlagen im Haus?« wollte Stein wissen.

»Nein!« bellte Mühlenbeck zurück.

»Davon würde ich mich lieber selbst überzeugen«, drängte van Appeldorn, und Stein nickte dazu.

Die Polizisten schwärmten aus, und van Appeldorn bekam die Gelegenheit, einen Blick in die »Gästezimmer« zu werfen, die ihn stark an die Zellen für die U-Häftlinge im Präsidium erinnerten: nackte Wände, blanker Steinboden, eine gemauerte Pritsche mit einer dünnen Matratze.

Mühlenbecks Privaträume waren nur wenig bequemer ausgestattet. Ein Schlafzimmer mit Doppelbett, Schrank und Gebetbank. Im zweiten Zimmer ein Tisch, zwei Stühle, ein Sofa, ein Schreibtisch. Auch darin nur christliche Schriften, Entwürfe für Seminarprogramme, keinerlei private Korrespondenz. Es gab keinen Fernseher, nicht einmal ein Radio.

Im winzigen Badezimmer, eine halbe Treppe tiefer, gab es nur ein Klo und ein Waschbecken, auf einem Brett einen Rasierapparat, ein Stück grünliche Seife und eine Haarbürste. Die beiden Handtücher waren grau und hart.

Van Appeldorn kehrte in die Halle zurück. Stein stand mit dem Rücken gegen die Haustür gelehnt und schaute ihm fragend entgegen.

»Nix«, sagte van Appeldorn. »Und bei den anderen?«

»Auch nichts. Sie sitzen schon im Wagen.«

»Dann war’s das wohl. Wo stecken denn der Hirte und seine Betschwester?«

Stein runzelte die Stirn. »Mühlenbecks? Die sind weggefahren. Wir sollen die Haustür hinter uns zuziehen.«

»Weggefahren?«

»Zu ihrem Anwalt. Ich konnte sie nicht davon abhalten«, zuckte Stein die Achseln und zeigte dann auf das Fenster, das zum Kolk hinausging. »Haben Sie den schon gesehen?«

Am Wasser stand der Mönch mit zum Himmel gestreckten Armen. Um seine nackten Füße scharten sich Enten.

»Ach, der«, meinte van Appeldorn nur. »Der gehört hier zum Inventar. Vater Immanuel, oder so ähnlich. Hat ’ne ganz schöne Schacke weg, wenn Sie mich fragen.«

Etwa zur selben Zeit zerschlug Heinrichs Ackermanns schöne neue Theorie. »Das kann nicht hier auf dem Deich passiert sein, Jupp, tut mir leid.«

»Un’ wieso nich’, bitte schön?«

»Ralf Poorten ist direkt neben seinem Motorrad zusammengeschlagen worden. Und hier ist kein befestigter Weg, hier kann man doch kein Motorrad abstellen.«

»Bestimmt kann man dat«, erwiderte Ackermann trotzig. »Et gibt nix, wat et nich’ gibt.«

»Ach, Jupp, Mensch, bei dem Eis, das wir vor vierzehn Tagen hatten, wärst du mit einem Motorrad doch gar nicht hier hochgekommen.«

»Ja, un’ dann? Dat kann doch bloß heißen, dat uns einer anlügt, oder?«

Heinrichs wiegte zweifelnd den Kopf. »Aber deine andere Idee, die mit dem Ruderboot, die gefällt mir.« Er sah zum Fluß hinunter. »Was hältst du davon, wenn wir am Montag mal einen kleinen Schuß ins Blaue wagen? Vorausgesetzt, van Gemmern hat Zeit.«

Ackermann fühlte sich sofort getröstet. »Guter Plan, un selbs’ wenn nix rauskommt dabei. Et tut einem ja schon gut, wenn man die Bande hier ’n bisken aufscheucht.« Aber schon runzelte er wieder die Stirn. »Sach ma’, Walter, meinste, der Chef is’ sauer wegen de Schau hier gestern mit de Duckies?«

Heinrichs lachte. »Bei dem kann man das im Moment nie so genau sagen, aber bis jetzt hat er noch keinem den Kopf abgerissen.«

»Weiß ich ja, et is’ nur, ich kann den echt leiden, den Chef.«

Christian stand wieder am Fenster. Er hatte einen guten Platz gefunden; halb verdeckt von einer Eibe konnte er nur einen kleinen Ausschnitt vom Zimmer sehen: Claras Kopf und Schultern, den Nachtschrank und die Tür zum Bad. Das genügte ihm völlig. Claras Bruder, der am Tisch saß und Zeitung las, wollte er nicht sehen, vor allem wollte er von ihm nicht entdeckt werden.

Seit gut zehn Minuten starrte er die schlafende Clara an und betete sich vor: Mach die Augen auf, guck mich an, mach die Augen auf, guck mich an. Sie sah klein aus und traurig.

Plötzlich schlug sie tatsächlich die Augen auf und schaute ihn an. Und er wußte genau, daß sie ihn erkannte. Erschrocken legte er den Zeigefinger vor die Lippen. Sie reagierte nicht, guckte nur. Er hielt den Kopf schräg und lächelte, wollte irgendwas mit den Händen sagen, wußte nicht, wie. Unsicher ließ er sie wieder sinken.

Und da wurde ihr Blick auf einmal weich, war beinahe wie früher. Er winkte, und sie bewegte die linke Hand ein bißchen. Dann schloß sie schnell die Augen. Der Bruder kam ins Blickfeld, beugte sich über sie. Sie hielt die Augen geschlossen und rührte sich nicht.

Christian blieb. Der Bruder verschwand wieder am Tisch, aber Clara lag nur da, eine Ewigkeit. Christians Finger wurden taub vor Kälte.

Dann schlug sie die Augen erneut auf. Er schob sich näher an die Scheibe. »Clara«, formte er, so gut es ihm mit seinen steifen Lippen möglich war. »Ich komme wieder. Ich komme wieder, Clara.«

Ihre Augen glänzten. Er hatte sie noch nie weinen sehen.

Es gab einen Weg, vielleicht gab es einen Weg. Aber wenn er unrecht hatte, dann würde sie ihn nie mehr ansehen, nie mehr in seinem ganzen Leben. Er konnte nicht unrecht haben, er wußte es.

Opa Czesnik hatte Morphium gekriegt.

»Scheiße, Toppe«, brummte er sich an, »du mußt das allein durchziehen.«

Christian schwang sich auf sein Fahrrad und machte sich auf den Heimweg. Warum war er beim Jugendkreis bloß nie zur Bibelstunde gegangen, verflucht? Den Text kannte er so ungefähr, aber wo stand der? Er lachte hinterlistig; er wußte doch genau, warum er nie zu den Bibelstunden gegangen war: Clara hatte immer parallel dazu in einer anderen Gruppe über Gebete gesprochen.

Er würde die Stelle finden, und wenn er Tage brauchte!

Am späten Sonntag nachmittag kamen Gabi und Peter aus Amsterdam zurück, aufgekratzt vor lauter Versöhnung. Oliver hatten sie auf dem Heimweg bei seinem Freund abgeholt, wo er übernachtet hatte. »Festessen!« brüllte er durch die Halle und schleppte eine Kiste herein. »Mama hat uns was mitgebracht!«

Toppe lugte in den Karton und leckte sich die Lippen: Vanillevia, Dubbelvla, bunter Zuckerstreusel, Schokoflocken, Huzarensla, Kletskoppen, Krabbenbrot, all die perversen Köstlichkeiten, die die holländische Küche zu bieten hatte.

Eine halbe Stunde später saßen sie in Gabis Wohnzimmer und löffelten Vla. Nur Astrid machte sich überhaupt nichts aus dem süßen Puddingzeugs. Christian war mit seiner Portion in seinem Zimmer verschwunden.

»Bleibt es jetzt bei nächstem Samstag für unser Einweihungsessen?« fragte Gabi und streute noch mehr Schokoflocken über ihren Vla.

Astrid nickte. »Ich habe die Einladungen schon alle fertig. Sie brauchen nur noch eingetütet und abgeschickt zu werden.«

»Dann müssen wir spätestens Mittwoch mit den Vorspeisen anfangen«, mummelte Toppe mit vollem Mund. »Gemüse marinieren und Sud kochen.«

Astrid war die ganze Zeit schon nur halb bei der Sache, jetzt stand sie entschlossen auf. »Ich fahre ins Krankenhaus.«

»Ins Krankenhaus?« sah Gabi sie besorgt an.

»Es ist nur wegen einer Zeugenaussage«, meinte Astrid und winkte ab, als Toppe auch aufstehen wollte. »Bleib ruhig hier. Du kannst schließlich nichts dafür, wenn es mich umtreibt. Ihr könnt doch schon mal die Einladungen fertigmachen.«

Sie klopfte und öffnete gleichzeitig die Tür. Zwei Köpfe fuhren herum: Vater und Mutter Albers saßen an Claras Bett und hielten sich bei den Händen.

»Guten Tag«, sagte Astrid forsch. »Die Schwester meinte, Ihrer Tochter ginge es ein wenig besser, und ich könnte sicher kurz mit ihr sprechen.«

Sie schenkte dem Vater, der sofort aufgesprungen war und breitbeinig dastand, keine Beachtung, sondern trat an ihm vorbei ans Bett heran.

»Hallo, Clara.« Das Mädchen lag auf dem Rücken und sah sie aus großen Augen an: tiefblaue, wunderschöne Augen, todtraurige Augen.

Im linken Handrücken steckte eine Kanüle, der Schlauch führte zu einer Infusionsflasche.

Astrid strich vorsichtig über die Hand. »Wir haben einen gemeinsamen Freund: Christian, Christian Toppe. Ich lebe mit seinem Vater zusammen.«

Clara nickte langsam und öffnete den Mund. Ihre Lippen zitterten. Die Mutter drängte Astrid hastig zur Seite und fing an, Claras Gesicht mit einem feuchten Waschlappen abzutupfen.

Albers’ Hand legte sich fest auf Astrids Schulter und zog sie ein Stück zurück. »Lassen Sie unser Kind endlich in Ruhe. Sehen Sie nicht, wie krank sie ist?« Seine Stimme war belegt.

Astrid drehte sich zu ihm um und schüttelte dabei seine Hand ab.

»Bitte«, sagte sie eindringlich, »nur fünf Minuten. Es ist so wichtig. Ich verspreche Ihnen, daß ich sofort aufhöre, wenn es Clara zuviel wird.«

Aber er schüttelte unerbittlich den Kopf.

Erst jetzt fiel Astrids Blick auf den Tisch an der Wand, der überquoll von Blumensträußen, Gebetbüchern, Karten mit betenden Händen und Marienbildern, manche mit Glitzerdruck, und vor allem Kerzen jeder Art in verschnörkelten Ständern. Auf einem zweiten Tischchen stand ein Clara-Kreuz, zwei Kerzen brannten rechts und links davon, davor lag ein Rosenkranz.

Die Mutter hatte fertiggetupft, und Astrid ergriff ihre Chance. »Ich arbeite bei der Polizei, Clara. Du weißt, daß Ralf Poorten gestorben ist, nicht wahr?«

Clara sah an die Decke. »Ja«, hauchte sie kaum hörbar.

»Er ist ermordet worden, Clara. Wir haben gehört, daß du an dem Abend.«

Clara zuckte, krümmte sich und bäumte sich auf, ein tiefes Stöhnen, dann würgte sie.

»Guter Gott«, schrie die Mutter, »es geht wieder los!« Sie hastete um das Bett herum, riß die Nierenschale vom Nachtschrank, umfaßte Claras Kopf mit festem Griff und hielt ihr die Schale vor den Mund. »Lauf, hol die Schwester, Werner!«

Albers packte Astrids Handgelenk und zog sie hinter sich her. Er war stark.

»Und Sie verschwinden endlich! Sehen Sie nicht, was Sie unserem Kind antun?«

Auf dem Gang ließ er sie los und lief zum Schwesternzimmer. Astrid blieb stehen, lehnte sich an die Wand und atmete gegen ihr Herzklopfen an. Durch die offene Zimmertür konnte sie Claras krampfartiges Würgen hören und die Mutter, die laut und deutlich begann: »Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt …«

Albers kam mit der Schwester, sah an Astrid vorbei, aber sie hielt ihn am Arm zurück. »Wieso tu ich Ihrem Kind das an?«

Er schnaubte nur.

»Wir sehen uns dann morgen früh, Herr Albers.« Damit ging sie und fühlte sich miserabel.

Es war kurz nach Mitternacht, als van Appeldorn endlich das Präsidium verließ und sich auf den Heimweg machte. Er zitterte vor Müdigkeit und Kälte, seine Augen brannten vom vielen Lesen; ihm war klar, daß ihm in zehn Minuten ein saftiger Ehekrach bevorstand, weil er sich das ganze Wochenende lediglich zum Schlafen nach Hause begeben hatte, aber all das konnte seiner guten Laune nichts anhaben.

In Mühlenbecks Unterlagen gab es ganz einwandfrei Lücken, sehr aufschlußreiche Lücken.