18
Heinrichs spielte ihnen die Nachricht auf dem Anrufbeantworter vor: »W … wie? Ähem … Mich laust der Affe! – Klack«, und freute sich: »Daß ich einmal erleben darf, wie Norbert die Fassung verliert! Allein deswegen hat sich die Anschaffung schon gelohnt.«
»Warum hast du eigentlich so scheußlich gute Laune?« meinte Toppe gereizt.
»Hab ich allen Grund zu«, gab Heinrichs gelassen zurück. »Die Sache mit den Booten sieht nämlich gar nicht so übel aus.« Er ging zu seiner Rheinkarte. »Es kommen viel weniger Boote in Frage, als wir befürchtet hatten. Guckt mal hier, der Grietherorter Altrhein, zum Beispiel, und auch die Kiesbaggerei davor sind seit Wochen dick zugefroren. Da kommt kein Boot raus. Die anderen Seitengewässer, Reeser Ward und so, müssen wir uns in den nächsten Tagen noch anschauen, aber eigentlich kann es da auch nicht viel anders aussehen.«
»Du meinst also, es kommt nur ein Boot in Frage, das direkt am Rhein liegt«, stellte Toppe fest. »Und wie viele sind das?«
»Weiß ich noch nicht. Wir haben doch gerade erst angefangen.« Heinrichs drückte ihm einen Stapel Fotos in die Hand. »Hat Ackermann heute gemacht, von jedem Motorboot das rechtsrheinisch zwischen Kilometer 845 und 847 liegt. Den Abschnitt hätten wir schon mal.«
»Fotos?« wunderte sich Astrid.
»Ja, geht doch viel fixer, als wenn wir alles notieren müssen, Bootstyp, Nummer, Liegeplatz.«
So würden sie weiter vorgehen, über Duisburg die Eigner feststellen und jeden einzelnen auf eine mögliche Verbindung zu Ralf Poorten abklopfen.
»Und wenn uns jemand verdächtig vorkommt, dann soll van Gemmern dessen Boot unter die Lupe nehmen.«
Astrid seufzte aus tiefstem Herzen. »Haben wir jemals so einen bescheuerten Fall gehabt? Ich meine, wir wissen ziemlich genau, was passiert ist. Wir wissen auch ungefähr, wo es passiert ist. Aber kann mir einer sagen, warum es passiert ist?«
Toppe nickte. »Ich sehe auch weit und breit kein Motiv, und das ist ein ziemlich dämliches Gefühl.«
»Wat denn für ’n dämliches Gefühl, Chef? Hängen Se neben de Preise?« In der Tür stand Ackermann. »Ich dacht ei’ntlich, hier wär Jubel, Trubel, Heiterkeit inne Bude, wo wer endlich vorankommen.«
Toppe sah ihn müde an. »Ist ja auch ganz prima. Macht ihr ruhig mit den Booten weiter.«
»Und wir machen in Grieth weiter«, meinte Astrid resolut. »Grieth ist die einzige Ortschaft am fraglichen Flußabschnitt, und Grieth scheint auch der einzige Ort zu sein, in dem Poorten private Kontakte gehabt hat. Ich würde gern wissen, wen der außer den Jugendlichen noch so gekannt hat. Wir könnten zum Beispiel mal mit deren Eltern reden. Wer weiß, vielleicht hat Poorten ja ein Mädchen geschwängert, und dessen Vater ist durchgetickt.«
Toppe mußte nun doch lachen. »Ich hab gar nicht gewußt, daß du Courths-Mahler liest. Nein, im Ernst, ich habe vorhin gedacht, Grieth ist so eng, die Straßen sind schmal. Und die Häuser stehen so dicht, daß man sich gegenseitig in den Kochtopf spucken kann. Wenn Poorten dort zusammengeschlagen worden ist, dann hat das garantiert jemand mitgekriegt.«
»Da is’ wat dran«, bestätigte Ackermann und feixte dann. »Mensch, dat is’ überhaupt die Idee, die MegaIdee! Wie war et denn, wenn wer dat einfach ma’ antesten? Wir markieren ’ne kleine Schlägerei un’ kucken, ob dat einen ausse Stube lockt.«
Toppe tippte sich an die Stirn. »Wie wäre es, wenn wir einfach den normalen Weg gehen und die Leute fragen?«
»Langweilig wär dat«, knurrte Ackermann.
Es war deutlich wärmer geworden, und Astrid ließ ihren Schal im Auto. »Heute ist hier ja richtig was los.«
Auf dem Griether Marktplatz stand ein Reisebus mit Kölner Kennzeichen. Menschen waren unterwegs, eine Gruppe Rollstuhlfahrer, mehrere alte Leute an Stöcken, zwei jüngere mit Gehstützen, Frauen mit kleinen Kindern. Alle strebten in dieselbe Richtung.
Bei Lambertz hatte man die Fenster geputzt und auf dem Bürgersteig ein Schild aufgestellt: Devotionalien – täglich Sonderangebote.
Toppe schaute die Schloßstraße entlang. Nicht nur Lambertz machte seine Geschäfte. Seidenblumen und Gestecke, Ihr persönliches Foto – vom Fachmann, Kerzen – handgezogen. Echt Bienenwachs, überall standen jetzt Schilder und Tafeln vor den Häusern.
Sie sahen sich an. »Das ist ja fast schon wie in Kevelaer«, meinte Astrid verwundert. »Was soll’s? Wo fangen wir an?«
»Egal, eigentlich.« Toppe zuckte die Achseln. »Bleiben wir doch gleich in dieser Straße. Die haben wir schnell durch.«
Das stimmte, an der ganzen rechten Seite zog sich die Mauer entlang, hinter der der Albershof lag.
»Wir trennen uns. Immer ein über das andere Haus.«
»Ja, gut, ich nehme das erste«, sagte Astrid und schielte schon nach dem Klingelschild.
»Warte.« Toppe hielt sie fest und grinste über ihren Eifer. »Um halb eins treffen wir uns in dem Restaurant am Deichtor.«
»Sehr wohl, Chef«, knickste sie und legte den Finger auf den Klingelknopf.
Es dauerte eine Zeit, bis sie endlich schlurfende Schritte im Haus hörte und jemand sich daran machte, die Sicherheitskette und eine Anzahl von Riegeln zu lösen. Ein älterer Mann mit geschorenen Haaren und einem Chaplinbart öffnete die Tür. »Bitte?«
»Guten Morgen. Sind Sie Herr Schmitz?«
Er musterte sie vom Kopf bis zu den Füßen und wieder zurück. »Der bin ich. In voller Lebensgröße.«
So weit ist es damit ja nicht her, dachte Astrid. »Steendijk von der Klever Kripo.«
Sofort verschwand das Wohlwollen aus seinem Blick. »Und?« Er schloß die Knöpfe an seiner braunen Strickjacke. Sie spannte über dem Bauch und hatte mehrere Brandlöcher. »Was wollen Sie von mir?«
»Vielleicht können Sie uns helfen. Wir ermitteln in einem Mordfall und hätten da ein paar Fragen.«
»Kommen Sie rein«, drehte er sich um und überließ es ihr, die Haustür zu schließen.
Das Wohnzimmer war lange nicht gelüftet worden. Auf dem Teppichboden lag ein greller Perserteppich, darauf an der Tür noch ein Läufer in anderem Muster. Mit dem schwarzen Schrank, einer Musiktruhe, auf der der Fernseher stand, einem durchgesessenen Sofa mit Tisch und dem Ohrensessel war der Raum gepackt voll.
Schmitz ließ sich schwerfällig im Sessel nieder und deutete auf das Sofa. Astrid setzte sich vorsichtig auf die Kante, sank aber trotzdem tief ein. Sie nahm ihren Notizblock aus der Tasche und legte ihn vor sich auf den Tisch. Die Tischdecke war aus wolliger Synthetik und irgendwann einmal hellgelb gewesen. In einem großen Handelsgold-Aschenbecher qualmte eine Zigarre vor sich hin. Die Tageszeitung lag aufgeschlagen.
Schmitz war achtundsechzig Jahre alt und Rentner; früher hatte er als Dachdecker gearbeitet.
»Sie waren schon ein paarmal hier im Dorf, wie?« Es war eine Feststellung. »Und es soll um die Wasserleiche von Spyck gehen.«
»Ja«, bestätigte Astrid, »genau. Kannten Sie den jungen Mann?«
»Ich?« Er lachte tonlos. »Woher soll ich den denn gekannt haben? Nee, nee, Frau, da sind Sie bei mir an der falschen Adresse.«
Sie fragte ihn nach dem Abend des 9. Februar.
»Wann soll das gewesen sein? Vor vierzehn Tagen? Und was war das für ein Wochentag?«
»Ein Freitag.«
»Und ich soll heute noch wissen, was da war? Erinnern kann ich mich an nichts. Aber ich will Ihnen mal was sagen: Bei uns im Dorf gibt es keine Schlägereien. Hier wohnen noch anständige Leute.«
»Ihnen ist also nichts Ungewöhnliches aufgefallen?«
»Ganz bestimmt nicht. Ich höre sowieso nicht mehr so gut.«
Den Eindruck hatte sie bisher nicht gehabt.
»Und wenn ich abends Fernsehen guck, dann hab ich meine Kopfhörer auf. Da höre ich noch nicht mal die Türklingel.«
»Vielleicht erinnern Sie sich ja an das Motorrad. Ralf Poorten war oft mit seinem Motorrad hier in Grieth. Eigentlich müßte er immer bei Ihnen am Haus vorbeigekommen sein. Haben Sie es womöglich irgendwo stehen sehen?«
»Als wenn ich auf jedes Motorrad achte!« Schmitz winkte weit ausholend ab. »Gehen Sie mir bloß weg mit den stinkenden Karren. Ist schlimm genug, daß wir jedes Jahr dieses Motorradtreffen hier haben.«
»Wohnt außer Ihnen noch jemand im Haus?« fragte Astrid und klappte ihren Block zu.
»Nein, bloß ich. Meine Frau ist letztes Jahr gestorben, und meine Tochter wohnt in der Stadt.«
Toppe mußte sich erst ausgiebig durch den Türspion beäugen lassen, etwas, was er verabscheute. Jedesmal verkrampfte er sich völlig in seinem Bemühen, besonders vertrauenerweckend auszusehen.
Die Frau mit dem Baby auf dem Arm war nicht mehr ganz jung und so gepflegt, daß es steril war.
»Frau Klinger?«
»Ja.«
Er sagte seinen Spruch auf.
»Mein Mann ist auf der Arbeit«, meinte sie steif.
Toppe runzelte die Stirn. »Ich würde auch gern mit Ihnen reden.«
Zögernd öffnete sie die Tür ein Stück weiter und hob das Kind auf die andere Hüfte. Der kleine Junge steckte die Finger in den Mund und kaute darauf herum. Er hatte abstehende Ohren und einen platten Hinterkopf. Die Mutter zog ihm heftig die Hand aus dem Mund und hielt sie fest.
»Augenblick«, sagte sie, ließ Toppe vor der Tür stehen und verschwand im Haus. Er hörte, wie Rolladen hochgezogen wurden.
»So, bitte«, kam sie dann wieder in den Flur zurück.
Im Wohnzimmer, in das sie ihn bat, war es behaglich wie in einem Schaufenster. Nirgends ein Stäubchen, kein Deckchen, das nicht bretthart gestärkt war, selbst die vier gleich großen Topfpflanzen waren mit Blattgrün besprüht. Die cremeweißen Übertöpfe hatten einen Goldrand.
Das Kind saß in einem leeren Laufstall, sein brauner Strampelanzug harmonierte mit dem Muster der Unterlage. Es sah zu Toppe hoch und stopfte sich beide Händchen in den Mund. Wieder ging die Mutter hin und hielt die Hände fest. »Nein, nein«, wisperte sie, »nein, nein!«
Sie bot Toppe keinen Platz an und hatte offenbar in ihrem ganzen Leben noch nie etwas gehört oder gesehen. »Wir schlafen nach hinten raus«, sagte sie und sah ihn nicht an. »Ich gehe sehr früh zu Bett. Kevin schläft noch nicht durch.«
»Und Ihr Mann, könnte der eventuell etwas beobachtet haben?«
Sie beugte sich über den Laufstall und nahm das Kind heraus. »Mein Mann geht spätestens um neun Uhr ins Bett. Er arbeitet in Duisburg und muß um halb fünf aufstehen.«
Das nächste Haus, vor dem Astrid stand, fiel, wenn man etwas genauer hinschaute, ein wenig aus dem Rahmen: Da hingen keine Gardinen an den Fenstern, statt dessen waren sie zugewuchert von prächtigen Grünpflanzen. Die Haustür war lila lackiert, und es gab kein Namensschild aus dem Töpferkurs, sondern eine fein eingefaßte Platte aus mattem Stahl: Ursula Günther.
Die Frau, die ihr die Tür öffnete, hatte einen verschossenen Morgenrock an, grün mit Rosenmuster, Wollsocken an den Füßen und ein Handtuch um den Hals gewickelt. Sie roch nach Eukalyptus und Kamille. Ihr dickes, graues Haar war rundherum auf eine Länge geschnitten, aber sonst hatte sie nichts Verschrobenes an sich.
»Ich habe eine fürchterliche Grippe und wollte mir gerade ein Dampfbad machen.« Das gerollte »r« war beeindruckend.
Astrid entschuldigte sich und wollte gern ein andermal wiederkommen.
»Dummes Zeug! Wenn Sie mich schon von meinem Krankenlager holen, dann trinken Sie jetzt auch einen Tee mit mir. Ich hoffe, Sie mögen Kräutertee.«
»Den mag ich besonders«, lachte Astrid und folgte der Frau in den Wohnraum.
»Setzen Sie sich schon mal. Und ziehen Sie, um Himmels willen, Ihren Mantel aus, sonst gehen Sie hier ein.«
Das Zimmer war recht klein, die Decke niedrig. Um einen runden Tisch gruppierten sich vier Sessel, ein Kaminofen bullerte, jeder freie Platz war von wuchernden Pflanzen besetzt. An den Wänden hingen gerahmte Kinderzeichnungen und -malereien. Durch die Sprossenfenster sah man genau auf den Eingang zum Albershof.
Ursula Günther brachte ein Tablett mit zwei dampfenden Steingutbechern, einer Schale Kandiszucker und einem Teller mit Pfefferkuchen.
»Meine Kinder haben mir zu Weihnachten so viel Selbstgebackenes geschenkt, daß ich bis zum Sommer damit auskomme. Probieren Sie ruhig, die schmecken noch prima.«
Astrid ließ sich gern von der Frau überfahren, sie gefiel ihr, und für eine ganze Weile war sie diejenige, die Fragen beantwortete: Was denn so eine attraktive Frau bei der Polizei machte, ob ihr die Arbeit gefalle, ob sie eine Waffe bei sich hätte, ob sie Familie habe und Kinder?
»Ach, wegen dem Jungen sind Sie hier. Ich habe das in der Zeitung gelesen und sein Foto gesehen. Bekannt kam er mir nicht vor. Wie kommen Sie denn gerade auf mich?«
»Ralf Poorten war im Griether Jugendkreis und hat anscheinend seine ganze Freizeit hier verbracht«, antwortete Astrid.
Ursula Günther kicherte. »Nicht gerade meine Altersgruppe.«
»Er ist am Freitag, dem 9. gestorben, und mit ziemlicher Sicherheit hat man ihn vorher zusammengeschlagen. Haben Sie an dem bewußten Abend hier im Ort etwas beobachtet oder entsprechende Geräusche gehört?«
Frau Günther schüttelte den Kopf, überlegte aber noch.
»Das war vorletzte Woche, nicht wahr? Da war ich überhaupt nicht hier, das ganze Wochenende nicht. Ich habe meine Freundin in Koblenz besucht.« Sie guckte gewitzt. »Und Sie glauben, der Junge ist hier in Grieth umgekommen? Donnerschlag, das würde mich aber wundern!«
Astrid machte eine vage Kopfbewegung. Draußen vor Albers’ Tor hatten sich ein paar Pilger eingefunden und schauten zum Turm hoch.
»Was haben Sie? Ach, die Leute da draußen.« Ursula Günther lachte leise und stand auf.
»Ja«, nickte Astrid. »Ich bin immer noch ein bißchen durcheinander. Der ganze Rummel hier. Von dieser Clara-Geschichte hatte ich bis vor ein paar Tagen noch nie was gehört. Kennen Sie Clara?«
»Na, und ob. Warten Sie. Ich hole uns noch etwas Tee.«
Sie war schnell wieder zurück mit einer braunglänzenden Kanne in der Hand. »Sie auch noch?«
Astrid beugte sich vor und schaute in ihren Becher. »Gern, aber nur noch halbvoll, bitte.«
Frau Günther goß nach, brachte die Kanne zum Ofen und stellte sie im Fach über der Feuerklappe ab. Dann setzte sie sich wieder.
»Clara kenne ich von Geburt an, und ich war vier Jahre lang ihre Lehrerin. In der Grundschule.«
»Das war ja zu der Zeit, als sie ihre Erscheinung hatte«, sagte Astrid gespannt.
»Ach ja, die Erscheinung …«
»Glauben Sie nicht daran?«
Die Lehrerin betrachtete die Tasse, die sie in der Hand hielt. »Ich glaube das, was ich sehe«, meinte sie schließlich und stellte die Tasse auf den Tisch. »Ich weiß, daß die ganze Familie Albers sehr religiös ist, und ich weiß, daß Clara schon als kleines Kind eine ungewöhnlich lebhafte Phantasie hatte.«
Aufmüpfig sah sie Astrid ins Gesicht. Die spürte ein leises Kitzeln im Bauch.
»Dann glauben Sie wohl auch nicht an die Wunderheilung und all den Kram?«
Aber Ursula Günther ging nicht darauf ein. »Als Clara meine Schülerin war, hatte ich öfter mal Ärger mit den Eltern. Ich war nämlich nicht damit einverstanden, daß sie das Kind ständig aus der Schule ließen wegen irgendeiner kirchlichen Veranstaltung, oder was weiß ich. Dabei ist Clara wahrhaftig hochintelligent, und das sollte man fördern, hab ich immer gesagt. Die hätte Großes vor sich, wenn sie es nur wüßte.«
Astrid fand ihren Faden nicht gleich wieder. »Ich habe bisher nur Fotos von Clara gesehen«, meinte sie nachdenklich, »aber selbst da ist mir ihre starke Ausstrahlung aufgefallen. Und alle, die mir von ihr erzählen, kriegen so einen verklärten Blick. Mir wird dabei ganz eigentümlich.«
Es war schwer zu sagen, was die Lehrerin dachte, aber schließlich nickte sie. »Ja, ich verstehe, warum Ihnen seltsam zumute ist. Aber wissen Sie, seltsam ist eigentlich nur, was man drübergestülpt hat. Es gibt nun mal Menschen mit einer starken Ausstrahlung, Menschen, denen die Herzen zufliegen. Das ist ein Geschenk, aber doch kein Wunder. Clara gehört sicher zu diesen Menschen, das ist keine Frage.«
»Ralf Poorten hatte ein Foto von Clara. Er hatte es aus einem Gruppenfoto ausgeschnitten und in eine Hülle gesteckt. Es lag auf seinem Nachttisch. Verstehen Sie, was ich meine?« Astrid stockte. »Ich glaube, daß Clara ihm viel bedeutet hat. Ich denke sogar …«
»Kann ich mir nicht vorstellen«, fiel ihr Frau Günther ins Wort, lächelte aber sofort entschuldigend. »Es liegt auf der Hand, daß Sie daran denken, aber nein, das würde Clara nicht in den Sinn kommen. Sie ist von klein auf anders geprägt worden durch die Familie, durch das ganze Umfeld. Eine entscheidende Rolle spielt wohl ihr Bruder Ludwig. Der ist Priester in Bad Kreuznach, fast zwanzig Jahre älter als Clara, und zu ihm hat sie eine sehr enge Beziehung, immer schon gehabt. Gerade in den letzten Monaten ist er oft hier gewesen, und die beiden sind stundenlang über den Deich spaziert und haben geredet.«
Sie schaute an Astrid vorbei. »Ich weiß nicht, aber jetzt, wo Sie es ansprechen … Vielleicht orientiert sich Clara in letzter Zeit wirklich ein wenig mehr nach außen. Wenn ich sie so angucke, dann wirkt sie ein bißchen freier, lockerer irgendwie. Aber gut, sie ist siebzehn. Da kippt die ganze Chose vermutlich vom wunderbaren Kind zur wundertätigen Frau. Ich frage mich, ob sie wohl nach dem Abitur in ein Kloster geht. Das war jedenfalls mal im Gespräch.«
Sie sah Astrid wieder mit diesem frechen Blick an. »Können Sie mir erklären, warum sie dann überhaupt das Abi macht? Ich glaube, ich muß dringend mal wieder mit dem Kind reden.«
»Im Moment ist Clara krank«, sagte Astrid, »irgendein Virus. Deshalb habe ich auch noch nicht mit ihr sprechen können.«
Sie sah wieder zu den Pilgern hinaus, die sich endlich anschickten zu gehen. »Grieth macht offensichtlich ganz gute Geschäfte mit ihr.«
Ursula Günthers Lachen klang fast bitter. »Oh ja, und es wird täglich mehr. Ich wollte mir schon ein Schild ins Fenster hängen: ›Ich war ihre Lehrerin und Vertraute‹ und mich dann, gegen Entgelt, versteht sich, mit den Pilgern fotografieren lassen. Wäre doch ein nettes Zubrot, oder was denken Sie?«
Ackermann ließ sich vorn am Bug genüßlich den Wind um die Nase pfeifen. »Als alter Segler darf ich dat ja nich’ sagen«, brüllte er nach hinten.
»Wie?« Schneider, der am Ruder stand, legte die Hand hinters Ohr. »Ich kann nichts verstehen.«
»Euer Böötken is’ ga’ nich’ so ungeil«, kam Ackermann nach hinten. »Sach, kannste nich’ noch ’n kleinen Zacken zulegen? Muß man doch ma’ ausnutzen, dat man Bulle is’ un’ brettern kann wie ’ne gesengte Sau.«
Schneider lachte nur und zog schnittig an einem holländischen Frachtschiff vorbei. Der Matrose in der Kajütentür sah neugierig zu ihnen hinunter.
Ackermann winkte mit großer Geste und brüllte aus voller Kehle: »Gute Jagd, ihr Himmelhunde! Mensch, Philip! Haben sie dich auch wieder rausgejagt?«
Der Matrose schrie irgendwas zurück und zeigte ihnen seinen Mittelfinger.
»Kaaskopp!« schnaubte Ackermann. »Wat versteht der schon vom deutschen Film? Wenn wer ’n bisken mehr Gischt hätten, kam ich noch besser wie der Kaleu Prochnow.«
Schneider hatte keine Miene verzogen. »Rohr eins bewässern?« fragte er.
»Eins un’ drei, würd ich sagen«, freute sich Ackermann und schlug Schneider auf die Schulter. »Du bis’ richtich, Kollege.«
Schneider drehte bei und hielt auf die Hafeneinfahrt zu. »Wird Zeit für mich. Du hast doch jetzt alles gesehen, oder?«
»Für heut muß et gut sein.«
»Und im Hafen brauchst du dich nicht mehr umzutun. Wir sind hier schon bei Kilometer 852.«
»Jau, is’ klar, weiß ich. Ab morgen bin ich auf unsere Seite zugange. Heißt dat bei euch auch Gönnekant?«
»Wie sonst?«
»Nich’, dat ich dir auffe Zehen treten will, aber et is’ schon ’ne Schand, dat so ’n netter Kerl wie du in so ’nem Stinknest wohnen muß«, grinste Ackermann und duckte sich schnell.