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»Mor’n, Franz.«
»Tach.«
»Hasset auch so kalt?«
»Dat kannste wohl sagen! Für deine Knochen muß dat ja Gift sein.«
»Ja, obwohl trockene Kälte war ja noch nich’ so schlimm, sagen die, aber dat gibbet bei uns ja nich’.« Ernst Willi ließ sich ächzend auf einer Holzkiste nieder.
»Eins sach ich dir, mit dem Rheuma, lang mach ich dat hier nich’ mehr. Nächs’ Jahr laß ich mich kaputt schreiben.«
»Wenn de ma gescheit bist!«
Die Frühschicht der Ölwerke Spyck machte ihre erste Pause, und wie jeden Morgen trafen sich Ernst Willi und Franz beim großen Fenster zum Fluß.
»Ir’ndwie wird et überhaupt nich’ hell heut.«
Ernst Willi nickte. »Kein Wunder, bei der Milchsuppe da draußen.«
Über dem Rhein waberte der Nebel so dick, daß man das gegenüberliegende Ufer nicht sehen konnte.
Franz klappte sein Butterbrot auseinander und schnaubte unwirsch.
»Wat is’, Jung? Haste schlechten Sinn?« wollte Ernst Willi wissen.
»Dat kannste mir glauben. Meine Karre is’ im Arsch.«
»Ha, hab ich et doch richtich gehabt vorhin. Ich denk noch, dat is’ doch der Franz, der da mit de Fiets kommt, aber dat konnte ja nich’. Is’ et wat Ernstes?«
»Kupplung.«
»Pottverdekke, dat haut rein! Haste den Hans schon ma’ gefracht?«
»Wie? Den Hans?«
»Hans Mölders, der macht doch so wat unter de Hand.«
Franz grunzte nur und spähte durch das halbblinde Fenster hinaus in den griesen Morgen.
»Ma’ kucken.« Dann stutzte er, sprang auf und drückte die Stirn gegen die Scheibe.
»Komm ma’ her.«
Schwerfällig erhob sich Ernst Willi und schlorrte mit gebeugtem Rücken heran. »Wat is’ denn?«
»Da vorne. Da liecht doch wat im Wasser.«
»Un’? Da liecht doch immer wat im Wasser.«
»Aber doch nich’ so wat! Kuck dir dat doch ma’ an.«
Auch Ernst Willi mußte das Gesicht ans Fenster pressen, um das Ufer am Fuß des Gebäudes sehen zu können.
»Has’ recht. Dat is ’n Mensch, wenn de mich frachs’.«
»Red doch nich’! So sieht doch kein Mensch aus.«
Sie sahen sich an.
»Los, komm!«
Franz stürmte aus der Halle die Treppe hinunter, besann sich dann und wartete auf seinen Freund. Gemeinsam erreichten sie die Eisentür, stießen sie auf und standen im Sand. Eine flache Welle schwappte über ihre Arbeitsschuhe.
Der Körper hatte sich in der Verladeanlage verfangen und dümpelte auf und ab.
»Kommste dabei, Franz?« krächzte Ernst Willi.
»Warte, halt mich ma’ fest hinten. Ja, so. Warte – jetz’! Gottsameliev, den es doot!«
Franz stemmte beide Füße in den Sand, und sie zogen mit aller Kraft.
Der Tote hatte nur ein halbes Gesicht.
Ernst Willi drehte sich weg. Franz rieb die Handflächen an der Jacke und schaute den Fluß hinauf.
»Wat jetz’?« meinte Ernst Willi schließlich.
»Kripo«, antwortete Franz tonlos.
»Wat haben die denn für ’ne Nummer?«
»Wat weiß ich? Einfach die Bullen.«
Der Tag im K 1 begann wie jeder Montag mit einer Teambesprechung.
Walter Heinrichs, der am Wochenende Dienst gehabt hatte, erstattete Bericht. Toppe lehnte an der Fensterbank. Neben ihm gluckerte die Kaffeemaschine, und es war angenehm warm im Büro. Er war immer noch gern an seinem alten Arbeitsplatz.
Vor einem Jahr hatte man ihren Chef, Stanislaus Siegelkötter, weggelobt, und die Stelle war bis jetzt unbesetzt geblieben. Für den 1. März war eine neue Leitung angekündigt, und wenn man den Gerüchten glauben konnte, würde es sich um eine Frau handeln. Siegelkötter hatte, als letzte Amtshandlung gewissermaßen, Toppe sein schniekes Chefbüro überlassen. Schließlich sei Toppe Leiter des ersten Kommissariats, und es wäre doch höchste Zeit, daß das endlich mal jedem klar würde. Seitdem hatte Helmut Toppe das, wovon er so viele Jahre geträumt hatte: Platz, frische Luft und Ruhe zum Nachdenken. Aber er gewöhnte sich nur langsam daran. An seinen Aufgaben hatte das neue Büro übrigens nichts geändert. Vor anderthalb Jahren war ihr Kollege Breitenegger bei einem Unfall ums Leben gekommen, und man hatte dessen Stelle einfach gestrichen. Jetzt bestand das K 1 nur noch aus vier Leuten, und Toppe mußte genauso viel lästige Beinarbeit leisten wie die anderen.
Walter Heinrichs war seitdem der Aktenführer im Team, das war ein Schreibtischjob, den er nur zähneknirschend übernommen hatte. Trotz seiner 55 Jahre und erheblichen Übergewichts war er immer in Bewegung und am liebsten draußen vor Ort tätig. Aber nach einem schweren Infarkt vor fünf Jahren war sein Herz schwach, und jeder, außer ihm selbst, sah ein, daß er kürzer treten mußte. Deshalb hatte Toppe ihn, in stiller Übereinkunft mit den anderen, auf den ruhigeren Posten verbannt, obwohl wahrlich niemand behaupten konnte, daß Heinrichs dafür die optimale Besetzung war. Sein Ordnungssinn war eigenwillig und deckte sich in keiner Weise mit dem der anderen. Sein Schreibtisch, auf dem sämtliche Unterlagen, Berichte, Notizen zu einem Fall sortiert und abgeheftet werden sollten, sah immer aus, als sei gerade eine Windhose darüber hinweggefegt. Man mußte Heinrichs allerdings zugute halten, daß er selbst die Sache im Griff hatte und auf Anhieb fand, was er suchte. Problematisch wurde es immer dann, wenn er Urlaub hatte oder ein paar Tage krank war.
»Was meinst du, Helmut, sollen Astrid und ich das übernehmen?«
»Wie bitte?« Toppe lächelte verlegen. Er hatte keine Ahnung, was Heinrichs von ihm wollte.
Norbert van Appeldorn, der wie immer lässig, die Beine auf dem Schreibtisch, da saß, grinste frech: »Ich würde zu gern wissen, wo du wieder mit deinen Gedanken warst.«
Heinrichs schlug die Augen zur Decke und fing noch einmal von vorn an. Gestern abend war ein sechzehnjähriges Mädchen auf einem Parkplatz an der Hoffmannallee vergewaltigt und schwer verletzt worden. Jemand mußte zum Krankenhaus fahren und mit dem Mädchen und den Ärzten sprechen.
Toppe sah Astrid fragend an; die nickte.
Heinrichs fackelte nicht und griff nach seiner Jacke, bevor Toppe es sich womöglich anders überlegte und ihm irgendwelchen Schreibkram aufs Auge drückte. Er schob Astrid vor sich her zur Tür.
Die beiden waren kaum weg, als das Telefon auf Heinrichs’ Schreibtisch klingelte. Van Appeldorn erhob sich gemächlich und nahm den Hörer ab. Er lehnte sich gegen den Tisch und kreuzte die Beine. Toppe betrachtete ihn aus den Augenwinkeln. Seit fast zwanzig Jahren arbeiteten sie zusammen, und wenn man bedachte, wie verschieden, wie fremd sie einander oft waren, lief es erstaunlich gut. Van Appeldorn war zehn Jahre jünger als er, Akademiker, hatte mal Jura studiert; er war sehr groß mit langen dünnen Beinen, hatte pechschwarzes, immer ein bißchen zu langes Haar und einen gelangweilten, oft müde herablassenden Gesichtsausdruck. Toppe stellte fest, daß der Kollege so langsam seine dürre Schlacksigkeit verlor. Das Hemd spannte deutlich über dem Bauch. Man konnte sehen, daß er schon seit einer Weile nicht mehr aktiv Sport trieb, wohl aber immer noch mit den alten Fußballkameraden in der Vereinskneipe vom SV Siegfried Materborn seine Bierchen trank.
Van Appeldorn legte den Hörer auf die Gabel. »Eine Wasserleiche bei den Ölwerken in Spyck«, meinte er säuerlich.
Sie fuhren nach Griethausen, am Ortsende durch das dicke Tor im alten Deich, das bei Hochwasser geschlossen und mit Sandsäcken verstärkt wurde, um den Ort vor den Fluten des Rheins zu schützen. In den letzten beiden Jahren waren diese Bollwerke überall am Niederrhein bitter nötig gewesen. Sie überquerten den Altrhein, und Toppe staunte. »In all den Jahren, in denen ich jetzt hier wohne, war der aber noch nie so dick zugefroren.«
»Es war ja auch schon ewig nicht mehr so lange richtig kalt bei uns«, meinte van Appeldorn, »aber als ich klein war, sind wir eigentlich jeden Winter Schlittschuh gelaufen. Auch auf dem Altrhein.«
Er zeigte nach links auf die Eisenbahnbrücke, die schon vor etlichen Jahren stillgelegt worden war. »Das Ding haben die doch jetzt tatsächlich unter Denkmalschutz gestellt.«
Toppe nickte. »Die hat ja auch was.«
»Findest du?« Van Appeldorn bremste. »Für mich ist das bloß ein Haufen Schrott, der die Landschaft verschandelt.« Er schmunzelte. »Man muß wohl aus der Großstadt kommen, wenn man so was schön findet. Von wegen Industrieromantik.«
Toppe hielt den Mund; er kannte das Spiel. Auch nach zwanzig Jahren galt man hier immer noch als Zugereister.
Links ab ging es über den großen Banndeich nach Schenkenschanz. Die Wiesen dahinter waren gesprenkelt mit Bleßhühnern; gelbstrohige Felder an der rechten Seite, hin und wieder konnte man die Spuren des Pfluges in der gefrorenen Erde erkennen.
Die verschachtelten Gebäude der Ölwerke tauchten vor ihnen auf, und die schmale Straße gabelte sich. Schräg links führte sie weiter zum Städtischen Klärwerk, geradeaus ging es direkt aufs Werksgelände. Toppe rümpfte die Nase. Der satte organische Geruch in der Luft war schwer zu ertragen. An der Weggabelung standen zwei niedrige Wohnhäuser. Toppe schüttelte sich. »Wie kann man hier bloß wohnen! Den Gestank hält doch kein Mensch aus, oder glaubst du, man gewöhnt sich daran?«
Van Appeldorn zuckte die Achseln. »Das liegt am Ostwind, und den haben wir hier ja so gut wie nie.«
Er fuhr durch das breite Tor auf den Hof. Die Verladerampe an der Rückseite des Hauptgebäudes hing wie ein abgeknickter Finger über dem Fluß, dicke, schmutziggelbe Schläuche wanden sich an den Seiten entlang.
Vor dem Eingang standen dicht zusammengedrängt Männer in Arbeitskleidung. Sie waren bleich, und man konnte ihre Atemwolken sehen. Einer trat aus der Gruppe heraus, kaum daß Toppe die Wagentür aufgestoßen hatte.
»Franz Claassen«, stellte er sich vor. »Ich und mein Freund haben die Leiche gefunden. Wenn Sie da um die Ecke rumgehen, kommen Sie direkt ans Ufer.«
Van Appeldorn runzelte die Stirn, nickte knapp und verschwand in der angegebenen Richtung.
»Guten Morgen«, gab Toppe dem Mann die Hand. »Um wieviel Uhr haben Sie die Leiche gefunden?«
Franz Claassen überlegte gründlich.
»Um Viertel nach neun«, sagte er schließlich. »Kann auch zehn nach gewesen sein.«
»Gut«, meinte Toppe, »dann will ich auch erst mal schauen.«
Er bog um die Ecke, sah van Appeldorns blasses Gesicht.
Früher war es Toppe schwer gefallen, einen Leichnam genau zu betrachten, er hatte sich immer zwingen müssen, besonders bei Sektionen. In den letzten Jahren hatte er es sich angewöhnt, das Gesamtbild wie ein Foto in sich aufzunehmen, aber bei diesem Toten war das schwer. Jetzt wußte er auch, warum die Arbeiter so bleich aussahen; wahrscheinlich hatte jeder von ihnen einen Blick auf die Leiche werfen wollen.
Er atmete tief durch, aber es half nichts, der fette Gestank in der Luft machte es nur noch schlimmer.
Auf dem Strom war reger Verkehr. Ein schweres Containerschiff kämpfte sich stetig gegen die Strömung den Rhein hinauf, zwei kleinere Frachtschiffe glitten flußabwärts. Am Fuß einer Buhne, keine hundert Meter entfernt, klemmte schief das ausgebrannte Gerippe eines Lieferwagens.
Eine männliche Leiche, das war das einzige, was man mit Sicherheit sagen konnte. Der größte Teil des Schädels fehlte, ein Stück Gesicht war noch da, ein Auge, zerfetzte Lippen, ein Ohr.
»Rufst du den ED?« drehte sich Toppe zu van Appeldorn herum.
»Was willst du denn hier für Spuren finden?«
»Das sehen wir dann.« Toppe vergrub die Hände in den Manteltaschen und stand mit hochgezogenen Schultern.
Van Appeldorn zündete sich eine Zigarette an. »Soll ich auch den Transport in die Pathologie anleiern?«
»Nein, Bonhoeffer will sich Wasserleichen immer erst mal an Ort und Stelle ansehen. Ich weiß nicht mehr, warum. Hat irgendwas mit Beschädigung beim Transport zu tun.«
Arend Bonhoeffer, der Pathologe am Emmericher Krankenhaus, der für sie die gerichtsmedizinischen Untersuchungen machte, war Toppes Jugendfreund. Ihre Berufe hatten sie beide zufällig zur selben Zeit an den Niederrhein verschlagen.
Van Appeldorn ging zum Auto zurück, um den Erkennungsdienst herzubestellen, und Toppe machte sich im Betrieb auf die Suche nach einem Telefon.
Bonhoeffer war gleich selbst am Apparat, ausgeglichen und so guter Laune, daß es Toppe schon ärgerte.
»Helmut, grüß dich. Na, wie läuft dein Harem?«
»Jetzt fängst du auch noch an!«
Bonhoeffer lachte. »Ich warte immer noch auf die Einladung zur Einweihungsparty.«
»Die kommt schon noch«, gab Toppe lahm zurück.
»Na gut«, Bonhoeffer wurde ernst. »Deinem Ton nach geht es um was Dienstliches. Und wenn ich mich nicht täusche, ist es nicht gerade erbaulich, oder?«
»Stimmt. Wir haben eine Wasserleiche, männlich. Mehr kann ich dir nicht sagen, nicht mal das ungefähre Alter.«
»Hm, ein Selbstmörder?«
»Das hoffe ich doch sehr. Ich hoffe wirklich, daß da nur Schiffsschrauben und Aale am Werk waren.«
»Wo liegt er?«
»Ölwerke Spyck, gleich unter der Verladerampe.«
»In Ordnung, ich komme raus, und die Sektion mache ich dann direkt im Anschluß. Kannst du dich schon mal um den Transport kümmern? Ach, noch was, Helmut, ich werde Hilfe brauchen, und von hier kann ich niemanden loseisen. Ist van Gemmern bei dir?«
Toppe schmunzelte. »Wir haben den ED verständigt. Wer von denen kommt, weiß ich nicht, aber vielleicht hast du ja Glück.«
»Hoffen wir’s. Also, in zwanzig Minuten dann.«
Van Appeldorn saß im Auto und machte sich Notizen.
»Norbert.« Toppe klopfte gegen die Scheibe. »Bonhoeffer kommt sofort und will danach auch gleich mit der Sektion anfangen. Sag mal, macht es dir was aus, wenn du das diesmal übernimmst? Ich würde dann schon mal zum Präsidium fahren. Die Presse wollte kommen wegen der Vergewaltigung.«
Van Appeldorn klappte den Notizblock zu, stieg aus und hielt Toppe die Wagenschlüssel hin. »Regelst du das mit dem Transport?«
Toppe nickte. »Ich rufe den Bestatter an.«
»Brauchst du meine Beschreibung von dem Toten?« wedelte van Appeldorn mit seinem Block.
Toppe verzog den Mund. »Wohl kaum. Sag dem ED, er soll Bonhoeffer zur Hand gehen.«