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»Liebe Frau Kommissarin, Sie verstehen doch sicherlich, daß ich die meditative Übung mit den jungen Leuten jetzt nicht abbrechen kann, um mich mit Ihnen zu unterhalten.« Sein gütiges Lächeln war wie in Beton gegossen.

»Nein, das verstehe ich nicht!« Astrid war blitzwütend. Seit nachmittags um vier hatte sie x-mal hier im Haus Barbara angerufen, um ihren Besuch anzukündigen, aber es war immer besetzt gewesen. Wahrscheinlich hatten sie den Hörer ausgehängt. Und jetzt hatte sie sich zehn Minuten lang die Finger wund geklingelt und geklopft, bis endlich dieser Kauz in seiner lächerlichen Kutte erschienen war. Sie hatte schon Helmut anrufen wollen, schließlich war Christian irgendwo da drinnen, und das Haus war stockfinster, verriegelt und verrammelt und ganz schön unheimlich.

»Ich habe Ihnen gerade gesagt, daß ich in einem Mordfall ermittele, und da kann ich nicht warten, bis es Ihnen in den Kram paßt. Sind Sie der Leiter hier?«

»Ja, ich bin der Hirte des Hauses.« Er rang die Hände. »Kommen Sie herein.«

Sie folgte ihm zögernd in die hohe, düstere Halle. Nur ein paar Pechfackeln an den Wänden spendeten flackerndes Licht. Der Mann bat sie nicht weiter hinein. »Worum geht es denn?«

»Ralf Poorten«, gab sie forsch zurück.

»Ach ja, davon habe ich gehört, aber ich wüßte nicht, wie wir Ihnen da weiterhelfen könnten.«

»Soviel ich weiß, hat er mehrfach an Ihren Seminaren hier teilgenommen.«

»Das ist richtig.« Er fuhr mit der Hand unter die Kutte und zauberte eine Taschenuhr hervor. »Sie sollten mit meiner Frau sprechen. Ich denke, sie müßte mit den Mädchen schon in der Stille sein.«

Astrid hatte jedes Wort gehört, aber nichts verstanden. »Stille?«

Er sah sie nachsichtig an. »Nach der Meditation schweigen wir bis zum Morgengebet«, erklärte er. »Bitte warten Sie einen Moment, ich hole meine Frau.«

»Augenblick noch. Ihre Frau ist bei den Mädchen, sagten Sie. Heißt das, daß die Jugendlichen hier nach Geschlechtern getrennt werden?«

»Selbstverständlich.« Der Fackelschein spiegelte sich in seinen Augen. »Während der Exerzitien sind sie in verschiedenen Flügeln des Hauses untergebracht.«

»Keine gemeinsamen Mahlzeiten, gar nichts?«

Wieder lächelte er. »Wir fasten. Heute haben wir gemeinsam gespeist, und jetzt bleiben wir getrennt bis zum Mahl am Sonntag. In dieser Zeit fasten wir, und die Türen bleiben verschlossen. Aber jetzt muß ich wirklich gehen.«

Er entfernte sich schnell und lautlos. Astrid sah ihm nach, er war barfuß. Sie zog die Schultern zusammen, im Haus war es totenstill. Verschlossene Türen? Konnte man auch nicht nach draußen?

Die Frau trug die gleiche graue Kutte. Sie war gut einen Kopf kleiner als Astrid, und das blonde Haar reichte ihr bis über die Hüften.

»Guten Abend«, sagte sie leise und streckte Astrid ihre schmale Hand entgegen. »Bitte, kommen Sie mit.« Eine Stimme wie Seidenpapier.

Sie führte Astrid in ein Arbeitszimmer und schaltete die Schreibtischlampe ein – der Lampenschirm war aus gegerbter Haut. Es gab also doch elektrisches Licht.

»Nehmen Sie Platz«, deutete sie auf den Ledersessel und setzte sich gegenüber hin, so daß ihr Gesicht im Halbschatten war. »Ich habe von Ralfs Schicksal gehört, aber bis gerade eben wußte ich nicht, daß er eines gewaltsamen Todes gestorben ist. Sie müssen verzeihen, aber ich habe mich immer noch nicht gefaßt.«

»Erzählen Sie mir von Ralf Poorten«, lehnte Astrid sich zurück.

Ein Schatten huschte über das helle Gesicht. Aha, dachte Astrid, da ist irgendwas. Sie holte ihren Block aus der Tasche. »Ist es Ihnen recht, wenn ich mir ein paar Notizen mache?«

Astrid war die einzige im K 1, die stenographieren konnte und deshalb auch in ihre Berichte oft gern wortgetreue Zitate einbaute.

Die Frau nickte nur.

»Erst einmal brauchte ich Ihren Namen und die genaue Adresse hier.« Sie schrieb beides auf.

»Was soll ich Ihnen über Ralf erzählen? Er hat bei uns an einigen Seminaren und Exerzitien teilgenommen. Wenn Sie die genauen Daten brauchen, kann ich sie raussuchen.« Die Frau wollte schon aufstehen.

»Danke, das ist nett, aber das machen wir später.«

»Er war ein sehr liebenswerter Mensch, offen und bescheiden.«

»Hatte er sich auch für dieses Wochenende angemeldet?«

»Oh nein. Wir haben ihn schon längere Zeit nicht mehr bei uns gehabt. Freunde haben uns berichtet, daß Ralf in den letzten Monaten schwankend geworden ist, zweifelnd in seinem Glauben. Das hat uns alle sehr traurig gemacht.«

»Uns alle?« Astrid sah von ihrem Block auf. »Wer arbeitet eigentlich alles hier?«

»In der Regel nur mein Mann und ich und Bruder Ignatius.«

»Bruder?«

»Er ist Franziskaner. Wenn wir größere Seminare mit vielen Teilnehmern haben, können wir aber jederzeit Unterstützung von der Mutterkirche bekommen.«

»Auch finanzielle Unterstützung?«

Die Frau richtete sich ein wenig auf. »Wenn es nötig wäre, natürlich, aber bisher tragen wir uns selbst.«

»Wieviel kostet so ein Seminar den Teilnehmer?« fragte Astrid und ärgerte sich, daß sie jetzt auch schon so gestelzt redete.

»Das ist verschieden. Wochenendexerzitien zum Beispiel kosten hundertfünfzig Mark.«

»Na ja, größere Kosten für Verpflegung fallen dabei für Sie ja auch nicht an«, bemerkte Astrid.

»Das würde ich nicht sagen.« Die Frau war nicht aus ihrer Sanftmut zu bringen.

»Gut«, meinte Astrid, »erzählen Sie mir ein bißchen was von Ralfs Freunden. Mit wem war er näher zusammen?«

Die Frau verzog den Mund und sah auf ihre Hände. »Frau Kommissarin«, meinte sie schließlich, »ich glaube, Sie mißverstehen etwas. Unser Haus bietet keine Jugendfreizeiten oder ähnliches an. Wir sind ein katholisches Haus, und unser Hauptauftrag ist die Evangelisation.« Ihre Stimme klang jetzt voller. »Sehen Sie, Exerzitien bedeuten für viele unserer Jugendlichen die Rückkehr zu sich selbst, zum Glauben. Insofern erfüllen wir unseren Auftrag. Der Zweck ist, daß alle, die zu uns kommen, Jesus begegnen, und es ist ganz entscheidend, daß unsere Exerzitien charismatisch sind, also vom Heiligen Geist geleitet und beseelt. Verstehen Sie, hier werden keine privaten Freundschaften gepflegt. Obwohl es für uns sehr wichtig ist, daß aus dem Zusammensein hier Jugendgruppen entstehen, die sich auch außerhalb unseres Hauses gegenseitig im Gebet und in ihrer christlichen Lebensführung unterstützen.«

»Wie in Grieth?« warf Astrid ein.

»Ja.« Die Frau lächelte. »Wir waren die Keimzelle für den Jugendkreis. Unsere Aufgabe ist es, den Jugendlichen einen Sinn in ihrem Leben zu geben und die Kraft, sich in ihrer alltäglichen Umgebung für Gott einzusetzen.«

Astrid schluckte – an welcher Stelle, um alles in der Welt, sollte man da ansetzen? Doch die Frau redete schon weiter: »Wir arbeiten hauptsächlich mit Jugendlichen, aber wir machen auch Familienexerzitien für ganz junge Paare mit Kindern.«

»Mit Kindern?« Astrid konnte ihre Bestürzung nicht verbergen, aber die Frau lächelte nur. »Ja, mit Kindern. Und glauben Sie nicht, daß die Kinder hier einfach nur betreut werden. Nein, wir bieten geistliche Aktivitäten an: Hostienbacken, Ikonenbasteln, Rosenkranzfädeln, kleine Prozessionen. Dadurch entdecken schon die Kleinsten das einfache Leben mit Jesus.«

Astrids Magen krampfte sich zusammen. Sie klappte den Block zu. »Kennen Sie Clara Albers?«

Die Frau stutzte kurz, dann strahlten ihre Augen warm. »Ja, natürlich kennen wir Clara!«

»War sie Ralf Poortens Freundin?«

»Freundin? Sie sind beide im Jugendkreis … ach, jetzt verstehe ich.« Und dann lachte sie. Astrid wartete.

»Sie kennen Clara nicht, oder?«

»Nein, bis jetzt noch nicht. Warum?«

»Weil Sie sonst niemals auf solch eine Idee gekommen wären.«

»Warum nicht?«

»Clara ist eine reine Seele. Clara ist … ach, wenn Sie sie kennenlernen, werden Sie wissen, was ich meine.«

»Ist Clara heute auch hier?«

»Nein, leider nicht. Sie ist ganz plötzlich krank geworden. Wir bedauern das sehr. Wenn sie dabei ist, ist alles anders.«