25

Sie schellten noch ein zweites Mal und warteten, aber im Haus rührte sich nichts. Dann hörten sie die Stimme. An dem großen Kolk stand der Mönch, Bruder Ignatius, und sprach mit den Enten. Er warf ihnen Brotrinden zu. Als er Toppe und van Appeldorn kommen sah, lächelte er breit. Auf Toppe hatte er schon beim letzten Mal einen reichlich verwirrten Eindruck gemacht, aber der Mann war wohl einfach nur sehr alt. Seine Kutte war es jedenfalls – sie verströmte einen jauchigen Geruch. Langsam kam er näher, er bewegte sich linkisch, achtete auf jeden Schritt.

»Wir wollen zu Mühlenbeck«, erklärte van Appeldorn.

Der Mönch sperrte den Mund auf, sagte aber nichts, vielleicht hörte er schlecht.

»Ach so«, antwortete er dann doch, legte die Stirn in Falten und versuchte, sich zu konzentrieren. »Der Hirte ist mit der Frau im Mutterhaus in Köln.«

Van Appeldorn wollte sich schon wieder zum Gehen wenden – der Alte war ohne Zweifel nicht ganz richtig im Kopf – aber Toppe hielt ihn zurück.

»Bei Ihnen im Haus ist vor einem Jahr ein Junge gestorben, nicht wahr?« fragte er.

Es dauerte wieder.

»Nein«, kam es dann deutlich zurück.

»Kennen Sie Alexander Wirtz?« beharrte Toppe.

»Jaa!« Der Mönch breitete die Arme aus und hüllte sie ein in eine Wolke seines Gestanks. »Ich kenne sie alle.«

»Alle wen?« fragte van Appeldorn verdutzt.

»Alle Kinder, die zu uns kommen. Der Alexander, ja, der war im letzten August bei uns, ein guter Junge.« Er schrabbte sich über die grauen Bartstoppel. »Sie sind nicht alle gut, wissen Sie?«

»Alexander Wirtz ist in einer psychiatrischen Anstalt«, versuchte es Toppe. »Er hat einen Gotteswahn.«

»Oh, oh«, jammerte der Alte.

»Den er sich bei euch hier eingefangen hat«, stichelte van Appeldorn, aber darauf reagierte der Mönch nicht.

Er jammerte, und jetzt sprudelten seine Worte nur so. »Der arme, arme Junge. Krank! Ich will gleich für ihn beten. Ich will den Hirten bitten – wir müssen eine Messe für ihn lesen, oh, und Clara natürlich. Clara kann helfen. Der gute Junge. Er ist …« Ihm war etwas eingefallen. Er legte die Hand auf Toppes Schulter. »Er war ein Freund, ein Freund von dem toten Jungen.«

»Ja, das wissen wir«, antwortete Toppe, aber der Alte brabbelte weiter: »Sie haben sich ein Zimmer geteilt, und ich fühlte, wie ihre Freundschaft wuchs.«

»Was?« Van Appeldorn sah verwirrt aus.

»Wann haben Sie Ralf Poorten zuletzt gesehen?« fragte Toppe, aber der Mönch hatte seine Konzentration verloren, und es dauerte eine Weile, bis die Antwort kam. »Im vorigen Sommer, als das Ferienseminar war. Danach nicht mehr.«

»Das Seminar, an dem auch Alexander Wirtz teilgenommen hat?«

Bruder Ignatius nickte.

»Sagen Ihnen die Namen Kirsten Glade und Frank Toenders etwas? Sie kennen doch alle Kinder.«

»Frank und Kirsten.« Der Mönch sah auf seine Füße. »So etwas gibt es nicht unter unserem Dach.«

»Was meinen Sie damit? Was gibt es nicht unter Ihrem Dach?«

Der Alte lächelte.

»Kannten Sie Kirsten und Frank?«

»Wen?« Immer noch das weltabgewandte Lächeln.

»Kirsten Glade und Frank Toenders, kannten Sie die beiden?«

»Nein.«

»Wann kommen die Mühlenbecks zurück?« fuhr van Appeldorn dazwischen.

»Später.« Unvermittelt wandte der Mönch sich ab und stakste zu seinen Enten zurück. Am Wasser drehte er sich noch einmal um und winkte.

»Die Adresse vom Mutterhaus«, wollte van Appeldorn ihm nachsetzen, aber Toppe hielt ihn auf. »Die steht in jedem dieser Pamphlete, die Astrid aus Poortens Zimmer mitgebracht hat.«

Er atmete tief durch. »Laß uns ein Stück gehen, ich brauche ein bißchen frische Luft. Ich hab gedacht, ich kotze dem gleich auf die Füße.«

Sie wanderten den Weg entlang, der zu dem kleineren Kolk führte.

»Glade und Toenders waren hier«, sagte van Appeldorn heftig. »Und irgendwas ist zwischen den beiden gelaufen.«

»Vermutlich«, bestätigte Toppe.

»Die haben miteinander gepennt!«

»Kann sein. Kann aber genauso gut was anderes gewesen sein. Diese Leute sind mir so fremd. Wer weiß, was die alles verdammen.«

Aber van Appeldorn hörte ihn gar nicht. »Jetzt ist auch klar, warum Poorten erst im August bei den Eltern von Karsten Bülow aufgetaucht ist.«

»Ja«, überlegte Toppe. »Das macht Sinn. Im Januar 95 stirbt Bülow an einem epileptischen Anfall, und Poorten ist dabei. Claudia Hamaekers Zuckerkoma war zwei Monate später. Vielleicht hat Poorten das ja auch mitgekriegt. Und die Geschichte mit Wirtz hat ihm dann offensichtlich den Rest gegeben.«

»Richtig, er wollte mit der ganzen Sache an die Öffentlichkeit. Und das hat er dem Mühlenbeck auch verklickert. Verdammt gute Idee, das mit der Presse.«

»Eben, eine gute Idee«, meinte Toppe. »Erzähl mir nur eines: Wenn er das sowieso an die Presse geben wollte, warum sollte er es dem Mühlenbeck überhaupt noch vorher erzählen?«

»Rache«, schlug van Appeldorn vor. »Kann ich gut verstehen, daß er sehen wollte, wie der große Hirte zum winselnden Hündchen wird. Wer jault denn da?«

Auch Toppe blieb stehen und horchte. Es war das Funkgerät in ihrem Wagen, das wie verrückt jodelte. Rasch liefen sie zum Auto zurück.

»Helmut? Na endlich!«

»Walter? Was machst du denn in der Zentrale? Brennt es?«

»Lichterloh, glaub mir. Ihr müßt sofort kommen! Hört zu: auf Albers’ Hof …«

Van Appeldorn beugte sich rüber. »Bitte wahren Sie Funkdisziplin.«

»Da pfeif ich drauf, du Affe! Auf Albers Hof liegt unten am Wasser ein Ruderboot, eins mit einem Motor. Van Gemmern hat sich das heute morgen zur Brust genommen. Am Rand hing ein Büschel Wolle, hellrot. Da ist jemand mit irgendwas hängengeblieben. Es sind Webpelzfasern, und sie stammen von.«

»Ralf Poortens Weste«, vollendete Toppe.

»Ja, kapierst du? Mit dem Boot haben die.«

»Ja, Walter, schon verstanden. Hat van Gemmern sich festgelegt, wie lange die Fasern schon da hängen?«

»Allerhöchstens drei Wochen, sagt er.«

»Wir sind in fünf Minuten da.«

Claras Eltern wollten offenbar wegfahren. Der Vater saß schon im Auto, und die Mutter stieg gerade ein, hielt aber inne, als Astrid auf den Hof kam.

»Kann ich Ihnen helfen?« fragte sie freundlich, aber ihr Gesicht blieb ausdruckslos. »Wir wollten gerade ins Krankenhaus fahren und unsere Schwiegertochter ablösen.«

Auf der Rückbank saßen zwei Kinder. Das Mädchen, vielleicht vier Jahre alt, lächelte Astrid verschmitzt an. Frau Albers folgte Astrids Blicken. »Das sind unsere Enkelkinder.«

Der Junge war älter, sicher schon zehn. Er mußte das Kind sein, das Clara damals »geheilt« hatte.

»Ich wollte eigentlich Ihren Sohn sprechen, Frau Albers. Ist der zu Hause?«

»Er wollte den Traktor reparieren. Wenn Sie da um die Scheune rumgehen, dann finden Sie ihn bestimmt.«

Albers Junior kam ihr schon entgegen. »Oh, die schöne Frau Kommissarin«, sagte er munter. »Ich würde Sie ja gern höflich begrüßen, aber leider.« hielt er ihr seine ölverschmierten Hände hin.

Was ist denn mit dem los, dachte Astrid, voriges Mal hat er die Zähne nicht auseinander gekriegt, und jetzt spielt er den Charmeur? Wenn er lachte, sah er um Jahre jünger aus, und man konnte gut erkennen, daß er Claras Bruder war.

»Um was geht es denn heute?«

»Um den 9. Februar. Clara war an dem Tag im Franziskusheim.«

»Richtig, da ist sie jeden Freitag.«

»Das habe ich schon gehört. Wer hat Clara abends abgeholt?«

»Na, ich.« Es klang wie eine Frage, dann lachte er auf. »Jetzt verstehe ich, worauf Sie hinauswollen! Da war was Komisches an dem Abend. Mein Vater hatte Sitzung, also bin ich gefahren. Und als ich im Altenheim ankomme – wissen Sie, die haben da so eine leicht überdrehte Schwester, und die sagt mir doch glatt, Clara sei schon abgeholt worden. Ich muß ziemlich dämlich geguckt haben. Jedenfalls bin ich wieder ins Auto gestiegen und die Straße runtergefahren, und dann habe ich sie auch gefunden. Sie saß auf der Bank an der Schule und war sehr müde.«

»Müde?«

»Zuweilen strengt sie das alles ziemlich an: morgens die Schule und nachmittags ihre soziale Arbeit. Da wandert sie dann manchmal abends draußen rum, um sich zu besinnen. Und ab und zu verläßt sie auch das Altenheim früher, wenn sie noch ein bißchen frische Luft schnappen will. Und da kann es auch schon mal passieren, daß sie die Zeit vergißt.«

»Und an dem Abend hat sie die Zeit vergessen?«

»Genau, aber das war nicht weiter schlimm. Ich kenne ja meine Schwester. Weit konnte sie nicht sein. Ich habe sie dann schnell nach Hause gebracht und dafür gesorgt, daß sie ins Bett kam. Vielleicht hat sie ja da schon den Virus ausgebrütet.«

»Und dann sind Sie in die Kneipe gegangen.«

»Ja, aber das habe ich Ihnen ja schon voriges Mal erzählt.«

Astrid hörte hinter sich ein Auto auf den Hof fahren. Den Motor kannte sie doch. Als sie sich umdrehte, waren Toppe und Heinrichs schon ausgestiegen.

»Was macht ihr denn hier?«

»Dasselbe könnte ich dich fragen«, meinte Toppe, und sie sah an seinem Gesicht, daß es ernst war.

»Kripo«, wandte er sich knapp an Albers. »Besitzen Sie ein Boot?«

Der lachte. »Wieso, wollen Sie angeln?«

Toppe verzog keine Miene.

»Ich verstehe zwar nicht, was das jetzt wieder soll, aber ja, wir haben ein Boot.«

»Würden Sie uns das bitte zeigen?«

»Wenn’s sein muß«, fügte sich Albers und nahm sie mit zum hinteren Hoftor. »Da liegt das gute Stück.«

Heinrichs nickte Toppe zu. »Dann müssen wir uns jetzt mal etwas ausführlicher mit Ihnen unterhalten. Können wir ins Haus gehen?«

Albers führte sie in die Küche. Astrid hielt Toppe am Ärmel fest. »Was ist denn los?«

»Wart’s ab.«

Heinrichs legte Albers den Plastikbeutel hin und rasselte die Fakten runter. »Wir müssen folglich davon ausgehen, daß Ralf Poortens Leiche in Ihrem Boot transportiert worden ist.«

»Und? Was habe ich damit zu tun?«

Heinrichs lachte über soviel Unverfrorenheit. »Auf diese Frage hätten wir eigentlich gern von Ihnen eine Antwort.«

»Dann ist das jetzt bestimmt eine große Enttäuschung für Sie. Unser Boot liegt das ganze Jahr über unten am Wasser, und es ist in keiner Weise gesichert. Ich weiß, das sieht die Polizei nicht gerne, aber es ist ja unser Risiko. Da kann eigentlich jeder ran.«

»Ach kommen Sie«, meinte Heinrichs, »das hätten Sie doch gemerkt!«

»Wieso sollten wir das gemerkt haben? Wir haben das Boot seit Monaten nicht benutzt.«

»Können wir mit Ihrem Vater sprechen?«

Albers schüttelte den Kopf. »Der ist nicht da.«

»Er ist zum Krankenhaus gefahren«, erklärte Astrid.

»So«, sagte Toppe, »dann möchte ich von Ihnen gern wissen, was Sie am 9. Februar zwischen 19 und 24 Uhr gemacht haben.«

»Schon wieder?« blaffte Albers. »Warum fragen Sie nicht Ihre hübsche Kollegin hier. Mit der habe ich schon zweimal alles durchgekaut.«

Toppe war blaß vor Anspannung, und Astrid wußte nicht, was sie sagen sollte.

»Ich habe mein Auto auf dem Marktplatz geparkt«, meinte sie schließlich. »Treffen wir uns im Präsidium?«

»Ich fahre noch zum Krankenhaus«, sagte er und sah an ihr vorbei.

»Helmut, ich habe auch ein paar wichtige Dinge. Wir müssen uns erst mal zusammensetzen.«

Heinrichs war schon eingestiegen, steckte jetzt aber neugierig den Kopf aus dem Fenster. »Hast du tatsächlich noch was Besseres als wir?«

Aber Toppe ließ Astrid nicht zu Wort kommen. »Im Krankenhaus kann das auch höchstens ein paar Minuten dauern, fürchte ich. Also, in spätestens einer Stunde im Büro. Hoffentlich sind Norbert und Ackermann noch da.«

»Ackermann bestimmt«, meinte Heinrichs. »Der hat Rotz und Wasser geheult, daß er nicht mitkommen durfte. Aber Norbert ist weggefahren. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, wollte er nach Köln.«

Christian hatte sogar vier Bibelstellen gefunden. Ob er da jetzt einen Brief draus machen sollte? Liebe Clara, ich habe viel nachgedacht … Sein Blick fiel auf eine Broschüre von der Gemeinschaft. Nur Jesus kann uns mit Zärtlichkeit und Liebe erfüllen. Wenn das tatsächlich so wäre! Ihm war scheußlich kalt. Irgendwo hatte er doch noch diesen dicken Pullover, den Mama ihm gestrickt hatte. Er durchwühlte seine Kommode, fand den Pulli ganz unten hinter den Jeans und zog ihn über. Dann drehte er die Heizung voll auf und setzte sich wieder an den Schreibtisch. Nein, kein Brief, nur der Text. Er schrieb in Blockbuchstaben: Wer schuldig ist am Blut eines Menschen, der wird flüchtig sein bis zum Grab, und niemand helfe ihm. Sprüche 28,17. Dann faltete er das Blatt ordentlich und steckte es in den Umschlag.

In der Halle duftete es nach Kräutern und feinem Essig. Seine Mutter stand in der Küche und putzte Champignons.

»Mmh, riecht das köstlich!«

»Ich lege Pilze ein für unser Essen am Samstag.« Sie sah ihn liebevoll an. »Du bist doch dabei, oder?«

»Logo! Ich fahre noch mal schnell nach Opa Czesnik sehen.«

»Wie geht es ihm denn?«

»Er kriegt Morphium, und Schwester Angelika sagt, dann dauert es höchstens noch ein paar Tage. Bis gleich!«

»Christian«, hielt sie ihn zurück. »Fährst du gar nicht mehr zum Jugendkreis?«

»Im Moment nicht.«

Sie saßen schon seit über einer Stunde im Büro, aber van Appeldorn war noch nicht aufgetaucht. Ihre Stimmung rutschte immer weiter in den Minusbereich, selbst Ackermann muffelte vor sich hin: »So simpel is’ dat: Die sagen einfach, hab ich nix mit zu tun, un’ wir stehen dumm zu kucken.«

Der alte Albers hatte Toppe die gleiche Auskunft gegeben wie sein Sohn, fast im selben Wortlaut, nur wesentlich ruppiger: »Was wollen Sie von mir? An das Boot kann jeder ran.«

Heinrichs schnorrte bei Astrid schon die dritte Zigarette. »Es gibt immer Beweise. Wir müssen sie nur finden.«

»Hört, hört«, meinte Toppe ärgerlich. »Ich werde jeden von der Familie einzeln herbestellen, und jeder darf mir minutiös aufschreiben, was er am 9. Februar gemacht hat. Und dann werden wir das ebenso minutiös nachprüfen.«

Die Begeisterung der anderen hielt sich in Grenzen.

»Ej, kuckt doch ma’!« Ackermann breitete seinen zerknautschten ›Plan der Gemeinde Grieth‹ aus. »Hier is’ Albers’ Hof, un’ gegenüber stehen bloß drei Häuser: Schmitz, die Lehrerin un’ Klinger.«

»Und Frau Günther war übers Wochenende verreist«, sagte Astrid.

»Schmitz und Klinger waren mit Albers in der Kneipe«, meinte Heinrichs. »Die geben sich quasi gegenseitig ein Alibi.«

»Ja, dat dacht ich grad«, bestätigte Ackermann. »Hier könnt et passiert sein, in die Straße. Dat hätt vielleicht keiner gehört.«

»So ein Quatsch!« schüttelte Toppe den Kopf. »Was ist mit Frau Klinger? Was ist mit Frau Albers und der Schwiegertochter? Was ist mit Clara?«

Aber Ackermann ließ sich nicht einschüchtern. »Frau Klinger is’ um neun Uhr in ’t Bett gegangen, un’ die schläft hinten raus. Un’ wir wissen doch ga’ nich’, ob die Albersfrauen überhaupt zu Hause waren.«

»Clara war angeblich zu Hause«, erinnerte Astrid ihn. »Sie lag im Bett, hat ihr Bruder gesagt, und was seitdem mit ihr ist …«

»Wetten, dat dat all gelogen is’?« regte sich Ackermann auf. »Wetten, dat Clara bei Poorten war auf ’n Schäferstündken? Un’ wetten, dat Albers den Jung abgepaßt un’ ihn verbimst hat?«

Sie schwiegen eine ganze Weile.

»Lambertz«, sagte Toppe plötzlich so laut, daß Astrid zusammenzuckte. »Der Wirt. Bei dem haben alle zusammengehockt. Den sollten wir dazu bringen, sich mal ein bißchen genauer zu erinnern. Der nimmt mir die Sache ein wenig zu lax.«

Die Tür ging auf.

»Komisch, ich hatte es irgendwie im Urin, daß ihr noch alle hier seid.« Van Appeldorn wischte sich durchs Gesicht. Die Haare klebten ihm am Kopf.

»Regnet et etwa schon wieder?« fragte Ackermann.

Van Appeldorn sah ihn lange an. »Wie kommst du bloß drauf?«

Auch er war nicht gerade in Hochstimmung. Im Kölner Mutterhaus der ›Gemeinschaft‹ hatte man ihm kühl mitgeteilt, Bruder Mühlenbeck sei bereits vor einer ganzen Weile nach Hause gefahren. Auch im Haus Barbara hatte van Appeldorn niemanden angetroffen. Es war alles dunkel gewesen, und auf sein Klingeln hatte niemand reagiert. »Wenn die morgen nicht wieder auftauchen, laß ich die zur Fahndung ausschreiben.«

»Zieh besser deinen Mantel aus, und setz dich hin«, riet Toppe. »Es kann etwas länger dauern.«

Als Christian auf den Hof fuhr, stiegen Astrid und sein Vater gerade aus dem Auto.

»’n Abend. Ihr seid aber spät dran heute.«

Astrid rieb sich die Schläfen. »Mir reicht es auch gründlich.«

Christian schloß die Haustür auf. »Habt ihr denn was Neues?«

»Das kann man wohl sagen! Ralfs Leiche ist in Albers’ Boot transportiert worden.«

Christian blieb wie angewurzelt stehen und machte große Augen. »In Albers’ Boot?!« Dann drehte er sich um und lief die Treppe hinauf.

Astrid sah ihm verdutzt hinterher. Sie hätte schwören können, daß seine Stimme erleichtert geklungen hatte.

Christian schloß die Zimmertür, holte den Umschlag unterm Kopfkissen hervor und riß ihn auf. »Ein guter Plan«, hatte Opa Czesnik gesagt. »Viel Glück, mein Junge, und mach mir keine Schande.«

Den zweiten Satz kriegte er nicht mehr aufs Blatt, das sah gequetscht aus. Also nahm er einen neuen Bogen, schrieb den Spruch noch einmal ab, ließ eine Lücke und setzte dann hinzu: Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Ich sage euch: Wenn diese schweigen, so werden die Steine schreien. Lukas 19,40.

Heinrichs erklärte sich bereit, die Mitglieder der Familie Albers einzeln und in Ruhe zu vernehmen. Er hatte bisher am wenigsten mit den Leuten zu tun gehabt, und er war sowieso schon immer der geduldigste von ihnen gewesen.

»Kann ich dabei sein? Ich hab mir da vor’ge Nacht so ’n paar kleine Tricks ausgedacht«, bettelte Ackermann.

»Von mir aus gern«, antwortete Heinrichs. »Ich weiß nicht, was Helmut vorhat.«

Toppe war bei den »kleinen Tricks« merklich zusammengezuckt, aber was sollte schon noch schiefgehen? Mit van Appeldorn hatte er sich heute morgen schon gestritten.

»Norbert, ich weiß ja, daß die Mühlenbecks Dreck am Stecken haben, aber ich glaube einfach nicht, daß sie für Ralf Poortens Tod verantwortlich sind.«

»Seit wann ist das eine Glaubensfrage? Sie waren zum richtigen Zeitpunkt in Grieth, sie hatten ein Motiv.«

»Was ist dann mit dem Boot?«

»Hast du nicht selbst gesagt, daß da jeder ran kann?«

Darauf hatte Toppe nichts mehr gesagt. Wenn van Appeldorn diesen Ton drauf hatte, konnte man ihn sowieso nicht bremsen. Auf jeden Fall war mit ihm heute im Präsidium nicht mehr zu rechnen.

Lambertz’ Kneipe war noch geschlossen, aber durch den kleinen Laden kamen sie in den Schankraum. Lambertz stand hinter dem Tresen und spülte Gläser. Er sah nur kurz hoch. »Sie schon wieder!« Hinter ihm wischte eine Frau das Flaschenregal aus.

»Ja, ich schon wieder«, sagte Toppe. »Und dies hier ist meine Kollegin Frau Steendijk.«

»Morgen«, brummte Lambertz. Astrid fand ihn abstoßend mit seinen wulstigen Lippen, den kleinen, fettverquollenen Augen und dem dünnen, semmelblonden Haar.

Die Frau hatte den Wischlappen aus der Hand gelegt und sich umgedreht.

»Meine Frau«, meinte Lambertz mit einer abfälligen Kopfbewegung. Eine zierliche Asiatin, bestimmt fünfzehn Jahre jünger als Lambertz.

Sie lächelte grüßend, tauchte den Lappen in die Laugenschüssel, wrang ihn aus und nahm sich das nächste Bord vor.

Toppe trat dicht an die Theke heran. »Es geht noch einmal um den Abend des 9. Februar.«

»Hab ich alles zu gesagt, was ich weiß.«

»Dann müssen Sie es leider noch mal wiederholen.«

Lambertz tunkte weiter Gläser ins Becken.

»Albers, Schmitz und Klinger waren hier. Wann sind sie gekommen?«

»Gegen halb acht.«

»Saßen die allein am Tisch?«

»Ja, hab ich doch schon gesagt. An dem Stammtisch neben der Tür. Bloß die drei.«

»Aber Sie sagten mir doch, Albers Junior wäre dazugekommen.«

»Korrekt.«

»Um wieviel Uhr?«

»Weiß ich nicht genau. Halb neun, kann auch schon Viertel vor gewesen sein.« Der Wirt griff nach einem karierten Tuch und trocknete sich die Hände ab. »Passen Sie auf, ich seh nicht ein, daß ich den ganzen Quark noch mal erzählen soll. Da kommt man sich ja blöd vor!«

»Das tut mir leid«, meinte Toppe ungerührt. »Wann haben die vier Männer das Lokal verlassen?«

»Weiß ich nicht. Freitags ist hier der Teufel los. Da hab ich keine Zeit, auf die Uhr zu gucken.«

Astrid beobachtete, wie Frau Lambertz einen steifen Rücken bekam.

»Haben die Männer den ganzen Abend an dem Tisch gesessen, oder ist zwischendurch mal einer rausgegangen? Einer oder mehrere?«

»Keine Ahnung. Ist mir nicht aufgefallen.«

Frau Lambertz drehte sich um und sah ihren Mann an.

»Geh das Leergut zusammenräumen«, sagte der und tatschte ihr auf den Hintern.

Sie gehorchte.

Astrid hob die Klappe in der Theke hoch. »Warten Sie, Frau Lambertz, ich komme mit.«

Die Frau eilte einen dunklen Gang entlang und blieb erst in dem engen Innenhof stehen, wo sich Flaschenkästen stapelten und Kartons.

»Ja?« starrte sie Astrid an.

»Wollen Sie mir den 9. Februar aus Ihrer Sicht schildern?«

»9. Februar? Ich kann nicht. Mein Deutsch nicht so gut.« Sie sprach langsam, aber sehr deutlich.

»Frau Lambertz, wir wissen, daß Ihr Mann etwas. ›vergessen‹ hat.«

»Sie wissen?«

»Ja«, nickte Astrid, ohne den Blickkontakt abzubrechen.

»Ich weiß nicht.«

»War am 9. Februar wirklich der Teufel los in der Kneipe?«

»Was ist ›Teufel los‹?«

»Waren viele Leute da?«

»Wir immer viel Leut.«

»Erinnern Sie sich an den Abend, Frau Lambertz? Saßen Schmitz, Klinger und die beiden Albers den ganzen Abend am Tisch?«

»Schmitz jede Tag, die andere viel.«

Astrid wollte eigentlich schon aufgeben, aber einen letzten Versuch startete sie noch: »Am 9. Februar ist hier in Grieth.«

»9. Februar«, unterbrach sie die Frau. »Ich nicht weiß, wann war das.«

Astrid ließ sie einfach stehen und ging in die Kneipe zurück.

»Waren die Männer betrunken?« fragte Toppe gerade.

»Nicht sehr«, antwortete Lambertz.

»Was soll das, bitte schön, heißen?«

Lambertz lachte. »Was weiß denn ich, was Sie unter ›betrunken‹ verstehen? Die hatten jeder so ihre acht Biere und ein paar Korn.«

»Interessant, daran erinnern Sie sich genau. Aber Sie wissen nicht, ob die Männer die Kneipe zwischendurch verlassen haben oder wann sie nach Hause gegangen sind.«

Lambertz zuckte die Achseln. »Ich bin Wirt, kein Polizist.«

»Na gut, dann wollen wir mal. Astrid, hast du mal einen Stift da?«

Astrid tauchte unter der Thekenklappe hindurch und fischte einen Kuli aus ihrer Handtasche.

»Was wollen wir mal?« fragte Lambertz mißtrauisch.

»Eine Liste machen. Eine Liste von all den anderen Gästen, die am 9. Februar in Ihrer Kneipe waren. Vielleicht hat ja einer von denen eine schärfere Beobachtungsgabe als Sie.«

»Das kann ich nicht.«

»Was können Sie nicht?«

»Eine Liste machen. Ich weiß doch heute nicht mehr, wer an dem Abend alles hier war!«

»Aber daß Klinger, Schmitz und Albers hier waren, das wußten Sie doch auch.«

»Doch nur, weil Sie mir gesagt haben, daß an dem Tag Verbandssitzung war, und weil die hinterher immer kommen!«

»Sie müssen doch Stammgäste haben«, mischte sich Astrid ein.

»Nö«, griente Lambertz sie an. »Oder anders, das halbe Dorf ist Stammgast. Aber daß einer an einem festen Wochentag regelmäßig käme, das könnte ich nicht sagen.«

»Vielleicht erinnert sich Ihre Frau etwas besser als Sie.«

»Vergiß es«, murmelte Astrid.

Lambertz grinste.