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»Warum, zum Teufel, habt ihr mich geholt? Hier gibt’s nichts für mich zu tun!«
Klaus van Gemmern mußte ziemlich wütend sein, wenn er seine berüchtigte Schweigsamkeit vergaß.
»Mach halblang, Klaus«, meinte van Appeldorn sanft. »Bonhoeffer muß jeden Moment hier sein, und der braucht jemanden, der ihm zur Hand geht, wie Helmut sich ausdrückte.«
Van Gemmern murrte und schüttelte den nassen Sand von den Hosenbeinen.
»Macht Berns mal wieder blau?« wollte van Appeldorn wissen.
»Wenn der im letzten halben Jahr zwei Wochen am Stück gearbeitet hat, dann ist das viel.« Van Gemmern kramte den Tabak hervor und drehte sich eine Zigarette. »So langsam hab ich die Faxen dicke. Ich komme keinen Tag vor zehn aus dem Labor, von den Wochenenden ganz zu schweigen.«
Paul Berns, der Leiter der Spurensicherung, war nie einer der fleißigsten gewesen, aber seit er die Pensionierung dicht vor Augen hatte, kam er nur noch selten zum Dienst. Mal war’s der kaputte Rücken, mal eine chronische Bronchitis.
»Was hat er denn diesmal?« grinste van Appeldorn. »Haarwurzelentzündung?«
Berns war inzwischen kahl wie eine Billardkugel, aber van Gemmern konnte über den Witz nicht lachen. Er lachte überhaupt so gut wie nie, jedenfalls nicht bei der Arbeit, und ob das privat anders war, wußte, bis auf Astrid, von den Kollegen niemand.
»Virusgrippe«, schnaubte van Gemmern. »Könnte länger dauern. Ich habe um eine Krankheitsvertretung gebeten, aber die stellen sich stur.« Er hielt inne und horchte. »Ich glaube, da kommt Bonhoeffer.«
Van Appeldorn lugte um die Ecke und sah den grauen Jaguar heranrollen.
Arend Bonhoeffer stieg aus, warf einen kritischen Blick auf das Ufer und ging dann zum Kofferraum, um Stiefel anzuziehen und seine Tasche zu holen.
Etwas anderes als ein Jaguar würde überhaupt nicht zu ihm passen, dachte van Appeldorn, und auch der graue Anzug, der pelzgefütterte Ledermantel, die Stiefel aus echtem Gummi – made in England – wirkten an Bonhoeffer nicht protzig, sondern nur selbstverständlich. So war das wohl bei einem, der aus altem westfälischen Geldadel stammte und von Kindesbeinen an immer mehr als genug gehabt hatte.
»Morgen«, begrüßte er die beiden Männer. »Wo steckt denn Helmut? Hat der sich wieder aus dem Staub gemacht?«
Van Appeldorn lachte. »Nee, der hat eine Pressekonferenz.«
»Die arme Socke!« Bonhoeffer zog sich dicke Gummihandschuhe an. »Das ist für den ja noch schlimmer als eine Sektion.«
»Sieht nicht so aus, als wäre der Mann ertrunken«, meinte van Gemmern harsch. »Kein Schaumpilz vor dem Mund.«
Langsam ging Bonhoeffer um den Leichnam herum und nickte. Van Appeldorn wippte ungeduldig auf und ab. »Ich kriege hier langsam Frostbeulen! Warum konnten wir den Typen eigentlich nicht gleich zu dir in den Keller bringen?«
Bonhoeffer kniete sich neben dem Toten in den Sand. »Weil man beim Transport einer Wasserleiche sehr viel falsch machen kann«, antwortete er. »Hilfst du mir mal?« wandte er sich an van Gemmern und fing an, die Leiche zu entkleiden.
Van Appeldorn schluckte. »Und was kann man da so falsch machen?«
»Nun ja, wenn zum Beispiel die Kleidung vor dem Transport nicht entfernt wird, schreitet die Mazeration fort, und ich schätze die Wasserzeit zu lang ein.«
Unter der dicken schwarzen Lederjacke trug der tote Mann eine Weste aus rotem Webpelz, zwei Pullover und ein Unterhemd. Van Appeldorn nahm die Jacke, hielt sie weit von sich – grauer Schlamm lief aus den Ärmeln – und betrachtete sie genauer. Dann die hohen Stiefel, die Bonhoeffer in den Sand gestellt hatte. »Motorradfahrer«, murmelte er.
»Mazeration?« fragte er dann.
»So nennt man die Veränderung des Körpers durch Wasser«, erklärte Bonhoeffer. »Kann man ganz gut an Händen und Füßen erkennen.«
Jetzt hatten sie auch die Lederhose und die Socken ausgezogen. »Hier.« Bonhoeffer deutete auf die Fußsohle.
»Ach so«, brummte van Appeldorn, »Waschhaut meinst du.«
»Genau. Und die Wasserzeit, von der ich gesprochen habe, ist die Zeit, die die Leiche im Wasser gelegen hat. Normalerweise müßte der Tote unter Kühlung in die Pathologie gebracht werden, aber das ist bei den momentanen Temperaturen wohl nicht nötig. Außerdem ist es ja nicht weit. Aber wenn es warm ist, kommt es bei Wasserleichen ganz schnell zu massiven Fäulnisprozessen, und es besteht die Gefahr, daß man die Todeszeit falsch einschätzt, wenn man die Leiche nicht sofort in Augenschein nimmt.«
Bonhoeffer beugte sich vor und zog dem Toten mit beiden Händen den Slip herunter. Das Genital fiel schlaff zur Seite.
Van Gemmern grunzte befriedigt.
»Du hattest wohl recht, Klaus«, sagte Bonhoeffer.
Van Appeldorn sah fragend von einem zum anderen, aber sie beachteten ihn nicht, drehten den Toten herum.
»Klärt mich vielleicht mal einer auf!«
Van Gemmern räusperte sich. »Guck dir doch mal den Penis an.«
»Nein.«
»Beim Ertrinken in kaltem Wasser kommt es zur Retrahierung von Penis und Skrotum.« Bonhoeffer richtete sich auf und streckte den Rücken durch. »Und das ist hier nicht der Fall, wie man deutlich erkennen kann. Also, Norbert, es sieht ganz so aus, als sei der Mensch schon tot gewesen, bevor er ins Wasser kam. Und noch etwas: vermutlich ist er vor seinem Tod schwer mißhandelt worden. Die Schädelverletzung könnte von einer Schiffsschraube stammen, aber das kriege ich später noch genauer. Das hier jedoch«, deutete er auf die dunklen Striemen an den Seiten und auf dem Rücken, »das waren Schläge mit einem Stock oder einer Stange. Und vorn an Brust und Bauch …« Ein kurzer Blick Wechsel mit van Gemmern, und sie kippten den Toten wieder herum. »Diese dreieckigen Abdrücke, das könnten Fußtritte sein.«
Van Appeldorn schlug verdrossen den Mantelkragen hoch. »Na, prima. Seid ihr jetzt hier fertig? Sonst würde ich nämlich mal kurz telefonieren gehen und Helmut seine Selbstmörderhoffnung nehmen. Außerdem wüßte ich gern, wo das Transportunternehmen bleibt.«
»Geh ruhig«, sagte Bonhoeffer. »Ich muß noch die Körper- und die Wassertemperatur nehmen. Obwohl …« Er überlegte. »Am genauesten kriegen wir die Rheintemperatur von der Wasserschutzpolizei. Klaus …«
Van Gemmern sprang auf die Füße. »Okay, ich kümmere mich darum. Sollen die auch eine Wasserprobe nehmen auf biologisch aktive Stoffe?«
»Ja, aber eine wird da wohl nicht reichen, fürchte ich. Wer weiß, wo der ins Wasser gekommen ist.«
»Ich werde sehen, was sich machen läßt. Bis später.«
Christian überlegte hin und her, aber eigentlich blieb ihm gar nichts anderes übrig. Wenn er sicher gehen wollte, mußte er die Doppelstunde Bio sausen lassen.
Nach dem Schellen zur fünften Stunde wartete er noch gute zehn Minuten auf dem Klo, bis auch der lahmste Pauker in seiner Klasse sein mußte und er ungesehen durch die Pausenhalle verschwinden konnte.
Der kürzeste Weg führte durch die Fußgängerzone; auf seinem Rad flitzte er die Große Straße hinunter, schlug elegante Bögen um Papierkörbe und Bäumlinge und lachte über die keifenden Mütter und wütenden Opis. Als er endlich an der alten Kirche in Kellen vorbeifuhr, war ihm heiß, und er bremste ab. So ausgepowert und atemlos wollte er nicht ankommen.
Das Haus tauchte auf, groß, weiß, imposant mit seinen Türmen. Die Schieferplatten an den Giebeln gaben ihm Würde und Wärme, das frischrote Dach leuchtete. Zwischen den Pappeln blinkten die beiden Kolke.
Das Schild am Torpfosten war glanzpoliert: Gemeinschaft zur Anbetung des reinen Herzens – Haus der Heiligen Barbara.
Christian spürte seinen Herzschlag, als er das Rad gegen die Hauswand lehnte, und betete sich ganz langsam noch einmal die Sätze vor. Dann klemmte er die Handschuhe auf dem Gepäckträger fest, nahm den Rucksack mit den Schulsachen ab und läutete. Es dauerte keine Minute.
Über der bodenlangen Tunika trug die Frau eine Strickjacke mit norwegischen Hirschen, das blonde Haar war wie immer zu einem dicken Zopf geflochten, der über der linken Schulter lag. Sie runzelte für einen Moment die Brauen, strahlte aber sofort und streckte ihm beide Hände entgegen: »Christian! Wie schön, dich wiederzusehen.« Dann zog sie ihn zu sich heran und drückte ihn.
»Tag, Magda.« Er lächelte scheu und legte die Hände an die Oberschenkel.
»Nun komm schon herein, sonst erfrierst du noch.«
Schnell schloß sie die Tür, nahm seinen Rucksack. »Was führt dich zu uns, Lieber?«
»Das Seminar nächstes Wochenende.« Mist, er quatschte wie ein Roboter! »Ich. ich wollte fragen.«
»Du meinst die Exerzitien? Möchtest du gern dabei sein?«
»Ja, wenn das noch geht. Es tut mir leid, aber ich habe erst gestern im Jugendkreis davon gehört, sonst hätte ich schon vorher. Letztes Mal war es so toll, und ich wollte gerne.«
Sie stupste ihn kurz und lachte. »Komm mit ins Büro. Ich werde mal sehen, was ich tun kann. Du weißt ja«, raffte sie ihre Tunika, »den Bürokram macht eigentlich Bernhard, und der ist heute in Köln. Aber zur Not schaffe ich das auch. Beim Jugendkreis hast du davon gehört? In Grieth?«
»Hm, ja, Markus hat es erzählt, aber die anderen wußten es schon. Ich glaube, die kommen fast alle.«
Magda öffnete eine Tür und schob ihn vor sich her in den Raum. »Komm, setz dich. Laß mich mal sehen, ob ich die Anmeldeliste finde.«
Der polierte Mahagonischreibtisch war voller Papiere, alle in wohlausgerichteten Stapeln. In der Mitte lag ein Rosenkranz.
Christian ließ sich vorsichtig auf dem Lederstuhl nieder.
»Prima, hier habe ich’s«, freute sich Magda. »Also du, paß auf, zwei Plätze sind noch frei, du hast Glück, wirklich.«
Er konnte auf einmal nicht richtig atmen, sah ihr in die Augen, lachte dann. »Super!«
»Die Gebühr ist diesmal 150 Mark, Christian.«
Er nestelte an seiner Jacke. »Ja, ist klar, weiß ich.«
»Also, fünfzig als Anzahlung würden wohl reichen. Schließlich kennen wir dich doch.«
»Hab ich da. Den Rest kriegt ihr dann am Wochenende, is’ kein Problem.«
»Warte, laß mich mal den Quittungsblock …« Sie suchte in der Schreibtischlade. »Hier ist er ja. Dieser dumme Papierkram immer! Aber was sein muß, muß sein. Hast du das Programm schon?«
»Nö.« Christian schob ihr zwei Zwanziger und einen Zehner über den Tisch. Sie ließ das Geld liegen, ging zum Bücherschrank, holte eine Mappe heraus und blätterte sie durch. »Weiß der liebe Herrgott, wo Bernhard die restlichen Programme …« Plötzlich drehte sie sich um. »Willst du nicht einstweilen Bruder Ignatius begrüßen? Er ist draußen bei den Enten und würde sich bestimmt unheimlich freuen, wenn du kommst.«
Christian sah zum Fenster und druckste: »Eigentlich müßte ich gleich wieder. Biologie und so.«
»Na ja, du siehst ihn dann ja sowieso am Wochenende. Ah ja, hier habe ich wenigstens den Entwurf für das Programm. Warte mal. nein, da hat sich nichts mehr geändert. Also, am Freitag um 18 Uhr geht es los, gemeinsames Abendbrot und anschließende Messe.« Sie las murmelnd weiter. »Na ja, Ende der Veranstaltung ist jedenfalls Sonntag nach dem Mittagessen gegen 14.30 Uhr. Da hast du wenigstens die Eckdaten. Tut mir echt leid, daß ich dir nicht mehr.«
»Geht schon klar, ist doch kein Problem, Mensch.« Christian nahm seinen Rucksack und bewegte sich langsam zur Tür. »Also, bis Freitag dann«, meinte er unschlüssig.
Magda folgte ihm schnell, hielt ihm die Tür auf.
»Hat Clara sich auch angemeldet?« fragte er mit lockerer Stimme.
»Oh ja!« Sie legte ihm beide Hände auf die Schultern.
Ihre blauen Augen waren fast durchsichtig. »Und weißt du was? Sie wird diesmal nicht nur unser Gast sein. Sie wird selbst eine unserer Gruppen zur inneren Einkehr übernehmen. Ist das nicht wundervoll? Kannst du dir vorstellen, wie wir uns alle darüber freuen?«