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»Was hab ich bloß getan, daß Gott mich so straft?«
Grimmig trat er in die Pedale. Keiner, wirklich keiner, hatte so bescheuerte Eltern wie er. Ließen sich scheiden, nur um zwei Jahre später wieder zusammenzuziehen. Nicht als Paar wohlgemerkt, nein, Papas Freundin war ebenfalls mit von der Partie, und womöglich würde Mamas Fuzzi demnächst auch noch einziehen. Total Banane! Es war nicht nur peinlich, es war … nein, ein einziges Wort reichte da nicht.
Den anderen hatte er nichts erzählt. Bis jetzt waren ihm immer noch Ausreden eingefallen, warum man ihn nicht besuchen konnte. Das ging aber bestimmt nicht mehr lange gut, und er fühlte sich mies dabei; irgendwie war das ja auch gelogen, oder? Und wie sollte er das jemals Clara beichten?
Mit den Schwestern im Heim hatte er auch nicht darüber geredet, aber in diesem Kaff kannte jeder jeden. Die wußten Bescheid. Schwester Angelika hatte eben wieder so komisch geguckt, als sie sagte: viele Grüße zu Hause.
Clara war heute nicht gekommen. Sie wäre krank, hatte Angelika gesagt. Was mochte sie wohl haben? Ob er mal bei ihr zu Hause anrief und fragte?
Ein eisiger Windstoß fegte ihm die Kapuze vom Kopf. Er bremste, stieg vom Rad und pellte sich aus den Handschuhen. Die klammen Finger hatten Mühe, einen Knoten zu binden. Er versuchte, die Lippen zu spitzen, aber sein Gesicht war taub von der Kälte. Wenn er heute abend mit dem Rad nach Grieth fuhr, mußte er sich seinen dicken Schal bis über die Nase binden.
Christian Toppe war auf dem Heimweg vom Altenheim in der Burg Ranzow. Vor zwei Jahren hatte er ein paarmal ziemlichen Mist gebaut, Sachen mitgehen lassen und so, und sie hatten ihn zu Sozialstunden verknackt. Zuerst mußte er im Tiergarten arbeiten, und als sie ihn zum zweiten Mal erwischten, hatten sie ihm die Ätze von Altenheim aufs Auge gedrückt.
Aber dann war es gar nicht so übel gewesen. Mit Opa Czesnik hatte er sich sofort echt verstanden. Überhaupt waren die Alten irgendwie klasse, jedenfalls viel abgefahrener als seine Eltern. Inzwischen ging er freiwillig hin, meist zweimal die Woche, spielte Karten und quakte mit Opa Czesnik und den anderen Männern, ging für die Omas Kuchen holen und solche Sachen.
Außerdem traf er dort Clara jeden Sonntag und manchmal auch mittwochs. Wenn er heute abend sowieso in Grieth war, konnte er ja einfach mal bei Albers klingeln und gucken, was mit ihr los war.
Er war so in Gedanken, daß er die Kurve zur Esperance zu flott nahm und mit dem Hinterrad wegrutschte. Die Nebenstraßen waren immer noch eisglatt. Im letzten Moment fing er sich ab. Kackwinter! So kalt war es doch wohl überhaupt noch nie gewesen.
In drei Monaten wurde er achtzehn, aber seine Alten hatten ihm schon gesagt, ein eigenes Auto könnte er sich von der Backe putzen, und für den Führerschein sollte er mal fein jobben gehen. Wo, bitte schön, sollte er denn wohl die Zeit dafür hernehmen? Schule konnte man schließlich auch nicht einfach so aus dem Ärmel schütteln. Er schon zweimal nicht. Aber Clara hatte versprochen, mit ihm für die nächste Mathearbeit zu pauken.
Er bog in den Feldweg ein, der zu seinem neuen Zuhause führte. Hoffentlich war wenigstens das Essen fertig.
Helmut Toppe, im Hauptberuf Leiter des Klever K 1 für Gewaltverbrechen, jetzt aber schon seit Wochen eher Klempner, Maler, Elektriker, zog mit aller Kraft an dem Haken – endlich hielt er. Toppe stieg von der Leiter, schaute zur Decke hoch und rieb sich den Nacken. Sieben Löcher, wo der Putz bei seinen vergeblichen Versuchen, den Kippdübel zu verankern, in großen Placken heruntergefallen war. Jedesmal wenn man irgendwas an den Decken befestigen wollte, wurde man daran erinnert, daß das Haus über zweihundert Jahre alt war. Jetzt mußte er wohl auch noch verputzen lernen. Probeweise hob er den Kronleuchter an. Das Monstrum wog bestimmt einen halben Zentner. Das bekam er nie allein aufgehängt. Astrid hatte das Ding vor Jahren von ihrer Großmutter geerbt, es damals in eine Kiste gepackt und auf dem Speicher bei ihren Eltern untergestellt, weil es für ein normales Zimmer einfach viel zu bombastisch war. Hier in der Eingangshalle aber mache es sich wunderbar, hatte sie gemeint, es gäbe dem Ganzen den Touch eines englischen Landhauses.
Im oberen Stockwerk dröhnte eine Bohrmaschine. Gabi hängte Bilder auf. Toppe seufzte.
»Astrid«, rief er, bekam aber keine Antwort. Wo steckte sie denn? Eben hatte sie doch noch Bücher in ihr Zimmer geschleppt.
»Astrid!«
Oben wurde die Bohrmaschine abgestellt, und Gabi beugte sich über das Treppengeländer. »Die füttert mal eben die Hühner. Kann ich dir helfen?«
»Das wär noch schöner«, brummelte er.
»Was hast du gesagt?«
»Nein, danke!«
»Muffkopp!« Damit verschwand sie und schmiß den Bohrer wieder an.
Muffkopp? Er setzte sich auf die Treppenleiter und zündete sich eine Zigarette an. Nein, muffig war er nicht. Eher immer noch ein bißchen durcheinander. Vor anderthalb Jahren hatten Astrid und seine Exfrau nicht nur ihre Sympathie füreinander, sondern auch dieses Haus hier entdeckt. Ein prächtiges Haus, zugegeben, ein alter Bauernhof mit dreihundert Quadratmetern Wohnfläche, mehreren tausend Quadratmetern Obstwiese und Nutzgarten, und dann auch noch ziemlich zentral gelegen. Die beiden Frauen hatten sich in den Kopf gesetzt, daß eine Wohngemeinschaft die Lösung aller Probleme sein konnte: Astrid und Toppe mußten nicht mehr in der kleinen Wohnung allzu dicht aufeinanderhocken, Gabi konnte endlich aus dem ungeliebten Eigenheim gleich neben ihren Eltern raus, und Toppe würde wieder mehr Einfluß auf die Erziehung seiner beiden Söhne haben, die, so Gabi und Astrid, gerade mit vierzehn und siebzehn die väterliche Zuwendung brauchten. Toppe hatte sich gegen die Idee gewehrt, allerdings etwas halbherzig, wie er sich eingestehen mußte. Zunächst hatten sie das Haus nur mieten wollen, aber dann war der Besitzer gestorben und der Hof war an eine Erbengemeinschaft gefallen, die sich nicht einig wurde, was denn passieren sollte. Helmut Toppe hatte das als göttliche Fügung verstanden und erleichtert einen Makler beauftragt, ein kleines Haus zu suchen, nur für Astrid und sich. Er hatte sich einfach nicht vorstellen können, wie das funktionieren sollte mit ihm, der quirligen Astrid, die nicht nur seine Geliebte sondern auch Kollegin war, und Gabi, die er immer noch furchtbar gern hatte. Aber die beiden Frauen hatten nicht locker gelassen, und das Endergebnis war, daß sie das Haus schließlich zu drei gleichen Teilen gekauft hatten. Immer wenn er darüber nachdachte, wurden ihm die Knie weich. Die Hypothek lief über fünfzehn Jahre. Fünfzehn Jahre auf Gedeih und Verderb …
Astrid hatte sich wegen der ganzen Geschichte sogar mit ihren Eltern überworfen. Zwar hatte ihr Vater zähneknirschend einen Vorschuß auf ihr beachtliches Erbe gezahlt, sich dabei allerdings mit seiner Meinung über fragwürdige Moral nicht zurückgehalten. Und so was ließ sich Astrid nicht sagen, schon gar nicht von ihrem Vater.
Toppe ging in die Küche und suchte einen Aschenbecher. Seit sechs Wochen wohnten sie jetzt hier, hatten sogar, wenn auch ziemlich provisorisch, zusammen Weihnachten gefeiert.
So schlecht lief es bisher eigentlich gar nicht. Gabi wohnte oben mit den Jungen, Astrid und er hatten die untere Etage für sich. Nur die große Wohnküche und das Bad mußten sie sich teilen. Hin und wieder saßen sie alle, Astrid, er, die Jungs, Gabi, womöglich noch deren Freund, gemeinsam beim Abendbrot. Dann kam er sich immer noch vor wie im falschen Film, und er mußte an die Kollegen denken. Ackermann war derjenige gewesen, der ausgesprochen hatte, was allen anderen nur als Grinsen in den Augenwinkeln hockte: »Meine Fresse, Chef, zwei schöne Weiber und Sie als Hahn im Korb – traumhaft! Wenn ich da meine Phantasie loslaß, da läuft die aber Galopp.«
Immerhin hatte Toppe zum ersten Mal in seinem Leben ein eigenes Zimmer.
Auf dem Herd köchelte die Spaghettisauce, die er vorhin gemacht hatte. Er holte einen Löffel aus der Schublade und probierte noch mal – gut, genau die richtige Menge Knoblauch. Astrid hatte den Topf für die Nudeln schon aufgesetzt, aber das Wasser kochte noch nicht.
In der Halle roch es warm nach Wachs. Sie hatten den Kunststoffbelag rausgerissen und darunter einen schönen alten Steinboden gefunden, taubenblau gesprenkelt, mit einer gemusterten Kachelreihe an den Rändern. Ein ganzes Wochenende lang hatte Toppe auf den Knien gelegen, die Fliesen gesäuert und gewachst.
Es dämmerte. Wenn er den Leuchter nicht langsam aufhängte und anschloß, würden sie heute abend mit Taschenlampen durch die Halle schleichen.
Aus dem Verschlag unter der Treppe holte er den Besen und kehrte die Putzbrocken und den Staub zusammen. Das Kehrblech konnte er nicht finden, bestimmt hatte Gabi es mit nach oben genommen.
Die Hände in den Taschen seiner Jeans schlenderte er zum Fenster hinüber. Es hatte wieder angefangen zu schneien, dicke, nasse Flocken. Er sah Christian den Weg hochradeln. Astrid kam aus dem Stall und schob den rostigen Riegel vor die Tür. Die Frauen hatten ihre Liebe zum Landleben entdeckt. Seit einer Woche hausten dort drüben sechs Legehennen und ein Hahn. Auch Schafe waren neuerdings im Gespräch. Gegen einen Hund hatte Toppe sich erfolgreich wehren können, aber im Frühling würden sie zwei Katzen bekommen.
Astrid blieb mitten auf dem Hof stehen und schaute hinauf zum Himmel in den wirbelnden Schnee. Ihr dunkles Haar fiel ihr bis über den Po. Das Ziehen tief unten in seinem Bauch war zwar angenehm, aber im Moment reichlich unpassend. Er klopfte gegen die Scheibe. »Christian!«
Der Junge, der gerade das Fahrrad gegen die Stallwand gelehnt hatte und sich die Kapuze abfummelte, fuhr ertappt zusammen, schaute aber nicht herüber. Er ging schnell zum Stall, öffnete die Tür und schob sein Rad hinein. Toppe grinste. So hatte er das gar nicht gemeint, aber es war fein, daß die jahrelangen, ewig gleichen Diskussionen über den Wert von Dingen und sauer verdientem Geld doch gefruchtet haben mußten. Auch wenn das Fahrrad schon alt war, mußte es nicht unbedingt draußen verrosten, wo es doch höchstens dreißig Sekunden dauerte, es in den trockenen Stall zu schieben.
Astrid hielt Christian die Haustür auf.
»Prima, daß du gerade kommst, mein Sohn«, meinte Toppe aufgeräumt. »Du kannst mir mal eben helfen, das Ding da aufzuhängen.«
Christian warf stirnrunzelnd einen Blick auf den Kronleuchter. »Doch wohl nicht vor dem Essen! Ich bin kaputt.«
»Du bist kaputt?« Toppe schwoll der Hals.
»Das Essen ist noch nicht fertig«, fuhr Astrid dazwischen. »Ich muß noch die Spaghetti kochen.«
Der Junge schälte sich aus der Steppjacke. »Okay«, brummte er und sah seinem Vater ins Gesicht.
»Die zweite Leiter steht hinten auf der Tenne«, rief Astrid und verschwand in der Küche.