17
Der Hund schlug nicht an, er knurrte nur leise, als Christian durch das Hoftor kam. Es war stockfinster, nur bei Clara im Turmzimmer brannte Licht. Ob er es wohl bis da hoch schaffte?
Er ging in die Hocke und tastete auf dem Boden herum. Kies war zu grob, am besten ging es mit Splitsteinchen, nicht zu groß und nicht zu klein. Ja, die hier waren nicht schlecht. Er füllte die linke Hand. Die günstigste Position war an der Scheunenecke, aber da stand auch die Hundehütte. Egal, er mußte es einfach versuchen.
Der Köter hechelte, gab aber sonst keinen Mucks von sich.
Sein erster Versuch traf die Hauswand, zu hoch und zu weit links. Der zweite klappte – tack. Christian hielt die Luft an und wartete, aber nichts tat sich. Auch das nächste Steinchen traf die Scheibe – tick. Manche Sachen verlernte man eben nicht. Sein Herz klopfte noch härter.
Als er zum dritten Wurf ansetzte, gingen überall auf dem Hof die Lampen an. Der Hund warf sich geifernd in die Kette, aber Christian konnte sich nicht rühren.
»Was willst du hier?« dröhnte es von der Haustür. Claras Bruder kam die Treppe runtergesprungen und baute sich vor ihm auf. »Dich kenne ich doch!«
»Ja.« Christian hatte unwillkürlich den Kopf eingezogen. »Ich gehöre zum Jugendkreis. Ich wollte Clara besuchen.«
Werner Albers packte ihn bei der Schulter und funkelte ihn böse an. »Sag mal, Freundchen …« Wenigstens brüllte er nicht mehr. »Warst du nicht neulich schon mal hier, auch mitten in der Nacht?«
Christian schüttelte die Hand ab und trat einen Schritt zurück. »Es ist doch noch nicht mal neun Uhr.«
»Noch nicht mal neun Uhr! Weißt du, wie das auf ’nem Hof ist, he? Um halb fünf ist für mich die Nacht rum. Da liegst du noch mit dem Arsch im Bett. Wenn du hier also Besuche machen willst, dann komm gefälligst zu ’ner anständigen Zeit. Und jetzt sieh zu, daß du Land gewinnst.«
»Ist ja gut«, murrte Christian. »Ich bin ja schon weg.«
»Was ist denn hier los?« Das war Claras Mutter, die in der Tür stand und ins Licht blinzelte. »Was schreist du denn so, Werner? Das geht doch nicht. Denk doch an das Kind.«
Albers fluchte irgendwas in ihre Richtung.
Langsam kam sie die Treppe herunter. »Bist du das, Christian?«
»Ja. bitte, entschuldigen Sie.«
»Wolltest du dich nach Clara erkundigen?«
»Ja.«
»Ihr geht es immer noch nicht besser. Der Arzt war eben noch da.«
»Jetzt ist aber Schluß hier!« fuhr Werner Albers dazwischen. »Ich hab dem Burschen schon gesagt, daß wir um diese Zeit ins Bett gehen. Und deshalb: auf Wiedersehen.«
Christian schluckte, nickte wortlos und machte, daß er wegkam. In der geballten Faust hatte er immer noch die Steinchen.
Den Heimweg schaffte er in einer neuen Rekordzeit. Als er zu Hause ankam, war ihm schlecht.
Auch hier war alles dunkel. Selbst aus Olivers Zimmer war kein Laut zu hören. Der verpennte noch sein halbes Leben.
Christian zog sich nicht aus, legte sich einfach so aufs Bett und schloß die Augen. Verdammt, warum war ihm bloß so kodderig? Und kalt war’s hier!
Ein Auto fuhr auf den Hof. Er lauschte – Vater. Sein Magen knurrte. Kein Wunder, er hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen, und auch da nur ein Joghurt und eine halbe Schnitte. Wahrscheinlich war ihm deshalb so mies.
In der Küche füllte jemand Wasser in den Kessel. Astrid vermutlich, sie kochte sich abends oft noch einen Schlaftee. Er stand auf und tappte auf Socken nach unten. Sie war allein.
»Hallo. Ist mein Vater nicht da?«
Es war warm und schummerig, sie hatte nur das kleine Licht über dem Herd angeschaltet.
»Der hat sich schon hingelegt. Aber er ist bestimmt noch wach, wenn du mit ihm reden willst.«
»Schon gut.«
»Du siehst bleich aus. Ist dir schlecht? Deine Lippen sind ganz weiß.«
Er nickte und wußte nicht, was er sagen, ob er sich setzen sollte.
Der Teekessel brummelte, und Astrid nahm ihn schnell von der Platte, bevor er pfeifen konnte und goß das Wasser in die Kanne.
»Soll ich dir was Warmes machen? Du hast doch bestimmt wieder nichts gegessen?«
»Du mir?« Er lachte rauh. »Warum solltest du mir wohl was zu essen machen?«
Sie fuhr herum und stemmte die Hände in die Seiten. »Weil du so aussiehst, als hättest du es nötig. Weil jeder Mensch ab und an mal jemanden braucht, der ihm was Warmes macht.«
Er setzte sich und lehnte den Kopf nach hinten gegen die Wand. »Danke.«
Sie sagte nichts mehr, stellte die schwere Pfanne auf den Herd, gab Fett hinein und wartete, bis es brutzelte. Dann Schinken, vier Eier. »Willst du auch Käse drauf?« drehte sie sich zu ihm.
»Mmh.« Sie sah schön aus. Und plötzlich war das Bild wieder da, das er seit Tagen wegschob: wie sie an seinem Vater hinabglitt, wie sie vor ihm kniete, wie sie …
Er kniff die Augen fest zu.
»Du warst sauer, daß wir heute beim Jugendkreis waren«, meinte sie, als sie ihm den Teller hinstellte.
»Und bei den Exerzitien warst du auch«, nickte er und nahm ihr das Besteck ab.
»Bestimmt nicht, um dich zu ärgern. Wir tun unsere Arbeit, wie immer. Nur leider bist du diesmal aus Versehen in den Dunstkreis geraten. Ralf Poorten war nun mal oft genug in Grieth und bei Barbara. Sag mal, kanntest du ihn wirklich so wenig?«
»Wirklich. Er war kein übler Typ, bestimmt nicht, aber mir war er einfach zu langweilig. Seid ihr denn weitergekommen?«
Sie seufzte und setzte sich neben ihn. »Nicht viel, glaube ich. Erzähl mir was von Clara.«
Christian stutzte, betrachtete den Bissen auf seiner Gabel. »Was soll ich dir denn von Clara erzählen?«
»Ich weiß nicht genau, euer Kaplan hat uns heute ihre Geschichte erzählt, und ich kann irgendwie nichts damit anfangen. Es kam mir vor wie so eine verklärte Legende. Heilende Hände und so was.«
Er hatte endlich wieder Farbe gekriegt und sah sie an, friedlich. »Ach so. Das mußt du mehr symbolisch sehen. Weißt du, ich erlebe Clara ja immer wieder im Altenheim. Du kannst dir nicht vorstellen, wieviel Freude sie verbreiten kann. Wir hatten schon alte Menschen, die überhaupt keine Lust mehr hatten, die einfach sterben wollten. Du glaubst gar nicht, wie oft so was passiert. Aber dann war Clara da und hat ihnen so viel Mut gegeben, daß sie auf einmal gar nicht mehr genug kriegen konnten vom Leben.«
»Und wie macht sie das? Redet sie mit ihnen, legt sie ihnen die Hand auf, betet sie?«
Er sah an ihr vorbei und lächelte tief. »Sie redet, sie singt, sie lacht, sie faßt sie an, und sie betet mit ihnen, ja. Aber eigentlich … ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Es geschieht einfach durch ihre Kraft, durch ihre unglaubliche Zuversicht, durch ihren Glauben.«
»Also keine Wunderheilungen, wie ich sie mir vorgestellt hatte?«
»Doch, natürlich, irgendwie schon. Verstehst du das nicht?«
»Nicht so ganz.«
Er schaute skeptisch, sah aber dann wohl, daß es ihr ernst war.
»Claras Kraft überträgt sich auf die anderen Menschen. Und diese Kraft kann natürlich auch Krankheiten heilen. Du weißt doch, wie viele Krankheiten ihren Ursprung in der Seele haben. Und Clara kann deine Seele berühren. Wirklich, Astrid, sie erfüllt einen mit … Glück.«
Astrid strich über seine Hand, ganz kurz nur. »Mir ist ihre Ausstrahlung schon auf den Fotos aufgefallen. Ich würde sie wirklich gern kennenlernen.«
»Ja«, sagte er. »Clara ist unglaublich.«
Und du bist verliebt, dachte sie, hütete sich aber, was zu sagen. Verliebt und ganz schön verblendet.
Ackermann riß die Tür auf und platzte mit seinem unnachahmlichen Flüstern in ihre Morgenbesprechung. »Sie kommt, sie kommt. Achtung!« Schon war er wieder weg.
Und dann stand sie in der Tür. »Wenn ich sehr störe, sagen Sie es ruhig. Dann verschwinde ich sofort wieder. Eigentlich habe ich hier ja noch gar nichts zu suchen. Mein Name ist Charlotte Meinhard. Ich bin.«
»… die neue Chefin«, vollendete Heinrichs den Satz und glotzte sie an.
Eine anmutige Frau mit großen, braunen Augen im hellen Gesicht. Ihr dunkelrotes Haar fiel ihr von einem Wirbel über der linken Braue glatt nach hinten bis auf die Schultern. Sie hatte genau die richtige Größe für den engen, knöchellangen Rock und den schmalen Pullover.
Toppe reichte ihr die Hand. »Bitte nehmen Sie Platz. Darf ich Ihnen meine Mitarbeiter vorstellen?«
Sie lächelte über seine jungenhafte Förmlichkeit. »Wie ich höre, sind Sie und Ihr K 1 das Aushängeschild, was die Aufklärungsrate angeht. Ich sollte Sie also pfleglich behandeln.«
Es stellte sich heraus, daß sie schon eine ganze Menge »gehört« hatte. »Und Sie sind also das unmoralische Paar; dabei sehen Sie mir gar nicht nach lasterhaftem Lotterleben aus.« Sie lachte über Toppes betretenes Gesicht. »Es wird nicht leicht sein, mich an den ganzen Tratsch und die Geheimniskrämerei hinter vorgehaltener Hand zu gewöhnen. Ich hatte gedacht, Köln wäre da schon schlimm, aber das war harmlos, verglichen mit hier. Jetzt schauen Sie doch nicht so unglücklich, Herr Toppe. Ich bin gerade mal zwei Wochen in Kleve und selbst schon Opfer geworden. Meine Freundin und ich haben gemeinsam ein Haus gekauft, in einer ganz reizenden Nachbarschaft. Aber wie sich jetzt zeigt, ging es bei der freundlichen Hilfe beim Einzug wohl einzig und allein darum, festzustellen, ob wir ein Doppelbett haben.«
Astrid lachte und stand auf. »Möchten Sie auch einen Kaffee?«
»Gern.«
»Wir haben leider nur Becher.«
»Sehe ich so nach Porzellan aus? Nein, ein Becher ist prima. Halte ich Sie sehr auf, oder haben Sie Zeit, mir zu erzählen, woran Sie gerade arbeiten?«
Heinrichs wühlte in seinem Aktenberg und räusperte sich, aber Toppe kam ihm zuvor und berichtete von Ralf Poorten.
»Außerdem haben wir eine Vergewaltigung noch nicht abschließen können«, ergänzte Astrid und erzählte von ihren Schwierigkeiten mit dem BKA.
»Haben Sie mal einen Zettel da?« Charlotte Meinhard notierte sich die Daten. »Vielleicht kann ich die Sache ein wenig beschleunigen.« Dann sah sie auf. »Ich vermisse Herrn van Appeldorn. Der gehört doch auch zu Ihrem Team, nicht wahr?«
»Ja«, bestätigte Toppe, »aber der hat sich leider eine Lungenentzündung eingefangen und fällt wohl für eine Weile aus.«
»Deshalb geht es bei uns auch ziemlich drunter und drüber«, sagte Heinrichs. »Wir sind ja sowieso schon unterbesetzt, seitdem unser Kollege Breitenegger verstorben ist und man seine Stelle einfach gestrichen hat. Aber jetzt ist auch noch van Appeldorn krank, und ich sitze hier als Aktenführer und kann nicht raus. Dabei haben Sie ja gehört, was es alles zu tun gibt«, meinte er und zeigte auf die Rheinkarte und die Tabellen, die immer noch an der Wand hingen.
Charlotte Meinhard stand auf und betrachtete die Karte eingehend. »Und das haben Sie alles selbst berechnet und gezeichnet?«
»Bei der Berechnung hat mir ein Fachmann geholfen, aber gezeichnet habe ich das, ja.«
»Könnte es sein, daß Sie hier bei uns Ihre wahren Talente vergeuden, Herr Heinrichs?«
Heinrichs lachte. »Das würde ich nicht sagen. So was liegt mir, klar, und als Aktenführer habe ich ja auch die Zeit dazu. Deshalb mache ich den Job eigentlich auch ganz gern. Aber wenn mal jemand ausfällt, dann wäre es schon besser, ich könnte mit raus und vor Ort ermitteln. Damit wäre allen mehr gedient, als wenn ich hier den halben Tag lang Däumchen drehe.«
Sie nickte. »Und wo ist das Problem? Haben Sie denn keine Handies, über die Sie jederzeit erreichbar sind?«
Heinrichs lachte herzhaft.
»Doch, doch«, erklärte Toppe. »Wir teilen uns ein Handy mit dem K 4, aber das ist schon seit acht Wochen kaputt.«
»Sie teilen sich eins«, staunte sie. »Und was ist mit einem Anrufbeantworter?«
»Ach«, meinte Heinrichs wegwerfend. »Den haben wir schon mindestens fünfmal beantragt!«
»So teuer sind diese Geräte gar nicht«, sagte sie nur und trank ihren Kaffee aus. »So, jetzt halte ich Sie nicht länger von der Arbeit ab. Erwarten Sie zu Anfang keine großen Veränderungen. Ich werde mir in den ersten Wochen zunächst einmal ein Bild machen. Sie arbeiten schon eine ganze Weile ohne Chef, da spielen sich manche Dinge oft auf eine neue Weise ein. Und die muß gar nicht schlecht sein. Sie haben also freie Hand. Übrigens auch, was den Kollegen Ackermann angeht, der mich mehrfach angesprochen hat. Ich habe seinen Chef gebeten, ihn so weit wie möglich für Sie freizustellen.«
Dann verabschiedete sie sich. »Wir sehen uns dann in vierzehn Tagen. Und viel Erfolg. Tschüs!«
Heinrichs strahlte ziemlich belämmert. »Sie hat tschüs gesagt.«
»Neue Töne«, bestätigte Toppe.
»Und sie sieht toll aus«, sagte Astrid versonnen. »Ich meine, für fünfzig.«
Das kriegst du zurück, dachte Toppe. »Finde ich auch. Diese wohlausgewogenen Proportionen«, grinste er.
Astrid streckte ihm die Zunge raus.
»Ach was«, brummte Heinrichs. »Menschlich, meine ich. Menschlich ist sie einfach großartig.«
»Warten wir’s ab«, meinte Toppe. »Oder wie war das noch mit den neuen Besen?«
Der nächste Elektroladen war gleich auf der Emmericher Straße, und Heinrichs stellte erfreut fest, daß ein Anrufbeantworter tatsächlich gar nicht so teuer war. Das konnte er locker aus eigener Tasche vorstrecken. Aber als er sich vom Verkäufer erklären lassen wollte, wie man das Ding anschloß, schwand seine Hochstimmung.
»Sie haben eine Telefonanlage? Nein, dann können Sie nicht selber dran rumfummeln. Da dürfen nur Fachleute von der Post ran.«
»Aber das dauert doch eine Ewigkeit, bis die kommen«, jammerte Heinrichs. »Ich brauche das Teil sofort, heute noch.«
Der Verkäufer hob bedauernd die Schultern.
»Hören Sie«, raunte Heinrichs verschwörerisch und lehnte sich über die Ladentheke. »Sie sind doch vom Fach. Für Sie ist das doch eine Kleinigkeit. Ich würde mich da auch nicht lumpen lassen.«
»Na gut, vielleicht könnte ich ja nach Feierabend mal gucken«, meinte der Mann leise.
»Danke, Sie sind meine Rettung, wirklich. Es ist nur … eigentlich müßte es jetzt sofort sein.«
Der Verkäufer schloß die Augen und schüttelte langsam den Kopf.
»Es würde nur ein paar Minuten dauern, ehrlich. Ist gleich um die Ecke«, quengelte Heinrichs und lächelte sein liebenswürdigstes Lächeln. »Bitte!«
Der Mann ließ sich einwickeln. »Ich könnte den Chef ja mal fragen. Wenn es nicht so lange dauert.«
»Nein, bestimmt nicht. Es ist gleich da drüben im Polizeipräsidium, erster Stock.«
Der Verkäufer schnappte nach Luft und verschluckte sich.
»Keine Sorge«, klopfte ihm Heinrichs fürsorglich den Rücken. »Reine Privatsache. Bleibt ganz unter uns. Großes Ehrenwort!«
Um kurz nach halb elf machte sich Heinrichs auf den Weg zum Rhein. An der Telefonzelle in Warbeyen hielt er an, wählte die Nummer vom Büro und lauschte stolz der Ansage, die er vorhin selbst aufs Band gesprochen hatte.
Beim Campingplatz am Grietherorter Altrhein traf er auf Ackermann.
Beide hatten dieselbe vielversprechende Entdeckung gemacht, und Ackermann hatte sogar eine Polaroidkamera dabei.
»Ob das wohl Clara sein soll?« fragte sich Astrid.
Sie stand mit Toppe auf dem Deich und sah sich die Kapelle an. Es war nicht schwer gewesen, sie zu finden, überall im Ort standen Hinweisschilder.
»Ans Kreuz genagelt?« antwortete Toppe zweifelnd. »Wohl kaum. Vermutlich ist das Ding einfach mißlungen. Nach fachmännischer Schnitzarbeit sieht das nicht aus.«
Am Fuß des Kreuzes standen zwei Vasen mit erfrorenen Rosen. Rundherum lagen Plastikgestecke und Sträuße aus Tannengrün und Seidenblumen. Kerzen brannten, sicher an die hundert.
»Komm«, nahm er ihre Hand, »hier zieht es wie Hechtsuppe.«
Aber Astrid blieb stehen und betrachtete das Gebäude links von ihnen. »Das muß dann der Albershof sein. Sieht eher wie ein Herrensitz aus.«
Das große zweistöckige Haus mit dem Turm war frisch gestrichen und hatte ein flammneues Dach. »Die scheinen Geld zu haben.«
»Ich weiß nicht«, meinte Toppe und stieg die Stufen hinab, froh, endlich in den Windschatten zu kommen. »Guck dir doch mal den Rest an.«
Er hatte recht, die Wirtschaftsgebäude waren viel bescheidener, alt, teilweise ziemlich runtergekommen.
Sie standen vor einem verschlossenen Gatter mit einem gelben Schild: Privatweg. Durchgang verboten.
»Gut, dann gehen wir zurück zur Straße und benutzen den Haupteingang.«
Die Frau, die ihnen öffnete, war um die Sechzig und sehr groß. Ihr grau gesträhntes Haar hatte sie zu einem festen Knoten geschlungen.
»Kriminalpolizei?« Die wasserblauen Augen wurden rund vor Schreck.
Toppe steckte seinen Ausweis wieder ein. »Kein Grund zur Sorge. Wir möchten nur kurz mit Clara Albers sprechen. Ist das Ihre Tochter?«
»Ja. Mit Clara?« Ihre Hände zitterten. »Kommen Sie doch … Lieber Himmel, mein Braten!« schrie sie, drehte sich um und stürzte ins Haus.
Im Flur mischte sich der betäubend süße Duft von Hyazinthen mit dem Geruch von scharf angebratenen Zwiebeln. Neben der Haustür hingen ein Weihwassergefäß und ein einfaches Holzkreuz, hinter dem ein vertrockneter Palmzweig steckte. Rechts und links zwei geschlossene Türen, weiter hinten lag die Küche, in der Frau Albers verschwunden war.
Die beiden folgten ihr. Aus der Kasserolle, die sie von der Herdplatte gezogen hatte, qualmte es noch. »Ich hatte gerade das Fleisch für heute mittag angebraten«, entschuldigte sie sich und goß vorsichtig Wasser in den Topf. »Setzen Sie sich doch, bitte.«
An dem schweren Eichentisch hätten zwölf Leute Platz gefunden, aber es standen nur acht Stühle da.
Marianne Albers machte das Fenster ein Stück auf und kam dann zu ihnen.
»Es tut mir schrecklich leid«, sagte sie unglücklich, »aber Sie können im Moment nicht mit unserer Clara sprechen. Sie ist schwer krank.« Tränen traten ihr in die Augen, aber sie schluckte tapfer und setzte sich. »Vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein.«
»Wir ermitteln im Mordfall Poorten«, begann Toppe.
Sie nickte.
»Kannten Sie den Jungen?«
»Nein. Ich weiß wohl, daß er zu unserem Jugendkreis gehört hat. Es kann auch sein, daß ich ihn schon mal in der Gemeinde getroffen habe, aber ich kenne nicht alle Jugendlichen beim Namen.«
»Clara hat Ralf Poorten gut gekannt«, sagte Astrid. »Hat er sie nicht mal hier zu Hause besucht?«
»Nein, bestimmt nicht.«
»Wir nehmen an, daß Ralf eine besondere Beziehung zu Ihrer Tochter hatte. Er besaß ein Foto von ihr.« Astrid schob es ihr hin.
Marianne Albers betrachtete das Bild zärtlich. »Ja, viele Menschen haben ein Foto von Clara. Sie wissen sicher, daß sie mit einer besonderen Gabe gesegnet ist.«
»Wir haben davon gehört«, bestätigte Astrid unbehaglich. »Schauen Sie, Frau Albers, Ralf Poorten ist schwer mißhandelt und getötet worden. Wir versuchen herauszufinden, wer dem Jungen das angetan hat. Wir müssen wissen, mit wem er zu tun hatte. Und deshalb müssen wir mit jedem sprechen, der ihn gekannt hat. Und Ihre Tochter hat ihn gekannt. Können wir sie nicht wenigstens kurz sehen?«
Frau Albers fing an zu weinen. »Sehen können Sie sie, aber das wird Ihnen nicht helfen.«
»Was hat sie denn?« Astrid bemühte sich, ihre Ungeduld zu verbergen.
»Es ist eine Virusinfektion, sagt der Arzt. Aber sie ist gar nicht bei sich. Sie ißt nichts, trinkt nichts. Wenn man sie zwingt, erbricht sie alles wieder. Und sie hat hohes Fieber.« Sie schluchzte auf. »Jeden Tag habe ich dem Herrn gedankt, daß er uns ein Kind wie Clara beschert hat, aber jetzt bitte ich ihn auf Knien, daß er sie uns nicht wieder nimmt.«
»Mama!« schallte es aus der oberen Etage. »Bringst du die Suppe. Ich will es noch mal versuchen.«
Frau Albers sprang auf. »Meine Schwiegertochter. Die ist gerade oben, um das Kind zu waschen. Einen Augenblick.« Sie lief zum Küchenschrank, nahm die Thermoskanne, den Teller und den Löffel, die dort bereitstanden, und ging schnell hinaus.
»Was hast du denn?« wunderte sich Astrid, als Toppe den Wagen nicht aufschloß, sondern mit dem Schlüssel in der Hand stehen blieb und sich nachdenklich umschaute.
»Ach, nichts. Ich dachte nur gerade, es ist ganz schön eng hier.«
»Ja, natürlich«, meinte sie stirnrunzelnd. »Ist eben ein Dorf.«