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Autozubehör war eindeutig geschmeichelt, es schien doch eher ein gediegener Schrotthandel zu sein.

Zwei Arbeiter in wattierten Jacken und mit flauschigen Ohrenschützern hantierten draußen herum. Es sah nach einem ordentlichen Betrieb aus. Offensichtlich hatte Ecki es geschafft, was vor acht Jahren sicher nicht zu erwarten gewesen war.

»Chef da?« bellte van Appeldorn; sein Atem stob weiße Fetzen.

Der ältere der beiden Männer schaute hoch und grunzte: »Im Büro.«

Das Büro war ein grauer Containerbau in der hinteren Ecke des Gevierts und sah aus wie ein großer Schuhkarton. An die Fensterscheibe gleich neben der Tür hatte jemand mit gelbem Isolierband ein Pappschild angeklebt: Büro, mit dickem Filzer geschrieben.

Ecki war früher ein langer, spilleriger Kerl gewesen mit pomadiger Elvistolle und einer enorm großen Klappe. Mit Anfang Zwanzig hatte er nicht nur in der Mopedbande das Sagen gehabt, sondern war allgemein einer der angesehensten Bürger von Klein-Chicago gewesen.

Die Elvistolle und die Klappe waren immer noch da, aber sonst hatte er sich mächtig verändert. Er mußte sie durchs Fenster gesehen haben, denn er riß die Tür auf, bevor die beiden Kripoleute anklopfen konnten. »Da setzt man sich glatt auf den Arsch, das Gespann von Mord und Totschlag! Habt ihr mal wieder einen toten Richter gefunden?« bollerte er lachend. »Immer rein in die warme Baracke! Hier draußen frieren einem ja die Eier ab.«

Ecki ließ sie vorbei und klopfte ihnen auf die Schultern.

»Ihr habt euch überhaupt nicht verändert.«

»Was man von dir nicht behaupten kann, Ecki.« Van Appeldorn tatschte ihm auf den Bauch. »Pilsgeschwür?«

Ecki lachte schallend. »Du hast die alte Nummer ja immer noch drauf, Stürmer. Oder spielst du kein Fußball mehr?«

»Nö«, meinte van Appeldorn. »Aber jetzt halt mal die Luft an, sonst stehen wir morgen noch hier rum.«

Toppe wußte, was Gellings mit der »alten Nummer« meinte. Als van Appeldorn und er damals anfingen zusammenzuarbeiten, hatten sie eine ganz bestimmte Art, wenn es darum ging, schwierige Typen zu vernehmen: van Appeldorn pöbelte rum, respektlos, kalt, provozierend, brachte sie aus der Fassung, und Toppe konnte dann als der verständnisvolle, freundliche Schlichter absahnen. Sie waren gut damit gefahren. Inzwischen hatten sich die Rollen abgeschliffen, oder vielleicht war ihm alles auch nur in Fleisch und Blut übergegangen. Er wußte aber noch gut, daß van Appeldorn ihm damals oft unangenehm gewesen war.

»Hast recht, Stürmer«, meinte Gellings. »Jetzt setzt euch endlich und sagt mir, was ich für euch tun kann.« Damit zwängte er sich hinter seinen Schreibtisch und tätschelte seine Wampe. »Alles Muskeln und Samenstränge«, zwinkerte er zufrieden.

Der MCK – Motorradclub Kleve – traf sich einmal im Monat in der Vereinskneipe in Hau. Man organisierte gemeinsame Fahrten zu Motorradrennen und -treffen, ab und an mal ein Zeltlager mit begleitendem Besäufnis. »Da sind dann auch die Bräute dabei.« Außerdem half man sich gegenseitig bei Reparaturen, Ersatzteilbeschaffung und allem, was so anfiel. Wie viele Mitglieder der Club hatte, wußte Gellings nicht auswendig. »Um die dreißig, würde ich sagen. Die Liste hab ich zu Hause. Könnt ihr kriegen, wenn ihr wollt.« Es waren eine ganze Reihe ältere Semester dabei. Vereinsmäßig organisiert waren sie nicht, und darauf legte auch keiner Wert. Alles ging recht locker zu, und Gellings hielt die Fäden mit leichter Hand zusammen, wie es schien.

»Warum müßt ihr das denn alles wissen? Hat einer von den Jungs was angestellt?«

»Kennen Sie einen Ralf Poorten?« fragte Toppe.

Gellings legte die Stirn in Falten. »Wartet mal, Poorten, Poorten … Ist der aus Griethausen? Ach, Ralfi! Dat Jüngsken! Und der soll was angestellt haben? Glaub ich nicht.«

»Der ist tot«, sagte van Appeldorn.

Gellings hielt das für einen Witz. »Komm, Stürmer, verarschen kann ich mich alleine. Der ist doch noch nicht mal trocken hinter den Ohren.«

Er war ehrlich erschüttert, als er hörte, was passiert war, und brauchte einige Zeit, bis er kapiert hatte, warum sie zu ihm gekommen waren. Dann aber regte er sich richtig auf. »Ihr habt sie ja nicht alle! Wir sind doch kein Schlägertrupp! Oder meint ihr etwa auch, daß alles was Leder trägt, automatisch mit Ketten um sich kloppt? Und überhaupt, der war für uns doch noch ein Kind. Wenn wir nicht gewesen wären, hätte der seinen Bock nie ans Laufen gekriegt. Und dann mußten wir auch noch immer aufpassen, daß der keinen Scheiß damit macht. Ach Mensch, das ist doch alles gar nicht wahr!«

Besonders gut kannte Gellings den Jungen nicht, wie sich herausstellte, und soweit er wußte, hatte auch kein anderer aus dem Club privaten Kontakt zu Ralf Poorten gehabt hatte. Sie hatten ihm geholfen, das Motorrad auf Vordermann zu bringen, ihm Ersatzteile besorgt und Tips gegeben. Einmal hatten sie ihn mit zum Nürburgring genommen. »Aber da war der ein echter Klotz am Bein. Fuhr die ganze Zeit wie ’ne Jungfrau. Der wär mit ’nem Dreirad schneller gewesen.«

Astrid blieb in der Tür stehen und sah sich um. Ralf Poortens Zimmer war nicht sehr groß, zwölf Quadratmeter vielleicht, und einfach eingerichtet mit leichten Kiefernmöbeln. Hellgelb gestrichene Wände und der Fußboden mit blauem Kunststoff belegt, der blitzsauber war. Es roch nach warmer Schmierseife – Frau Poorten hatte sich wohl doch nicht daran gehalten, nichts zu verändern, wenigstens den Boden hatte sie noch gewischt. Der Tür gegenüber, an der anderen Schmalseite des Zimmers, ein Fenster, rechts und links Gardinen, die bis auf den Boden reichten, blau mit weißen Segelbooten. Unter dem Fenster auf einem Schemel ein großer, schon reichlich angejahrter Fernsehapparat, an der linken Wand aufgereiht ein Regal, ein Kleiderschrank, das schmale Bett, frisch bezogen und aufgeschüttelt, ein Nachttisch. Rechts gleich an der Tür ein Schreibtisch mit einem Stuhl. An den Wänden gerahmte kleine Bilder von Schulschiffen, neben dem Fenster eine polierte Schiffsglocke und über dem Kopfende des Bettes ein Kreuz mit einem aufwendig gearbeiteten Christus.

Astrid trat zur Seite, um van Gemmern vorbeizulassen, und entschied sich, mit dem Schreibtisch anzufangen.

Oben drauf stand ein Modellschiff, das schon lange nicht mehr abgestaubt worden war. Daneben lagen Berichthefte von der Berufsschule, an der Wand aufgereiht Bücher über Seefahrt, Abenteurer, Die großen Entdecker der Welt las sie. Sie schlug ein paar Hefte auf. Die Handschrift war ziemlich ungelenk, aber bemüht sauber. Er war ein guter Schüler gewesen, lauter Zweier.

Die oberste Schublade war aufgeräumt, Papier, Stifte, Lineale, ein Locher. Die anderen Laden waren vollgestopft mit allem möglichen Kram. Es sah aus, als habe jemand beim Aufräumen einfach alles, was sich auf Anhieb nirgends einsortieren ließ, wahllos hineingestopft: Motorradzeitschriften, Aufkleber, zerknüllte Tankrechnungen, Schachteln, Streichhölzer, ein Playboyheft, mehrere Blitz Illus, ganz hinten in der mittleren Schublade eine Packung Kondome, noch ungeöffnet.

Über dem Bett hing ein Foto, das Ralf Poorten, sein Motorrad und einen alten Mann – vermutlich seinen Großvater – zeigte. Es war eine Riesenvergrößerung, die jemand wenig gekonnt auf eine Hartfaserplatte aufgezogen hatte. Daneben das Kreuz und ein einzelnes Regalbrett, an Triangeln aufgehängt. Die Heilige Schrift mit Goldschnitt. Astrid nahm das Buch in die Hand und blätterte es auf. Es war viel darin gelesen worden. Dann lag da noch ein ganzer Stapel Hochglanzheftchen, Licht in der Dunkelheit, mit frommen Sprüchen, farbigen Fotos von glücklichen oder beseelten Menschen, Sonnenuntergängen und Schilfrohr, Geschichten über Einkehr und Buße. Sie blätterte nach hinten, fand den Herausgeber, eine katholische Gruppierung, und unter anderem auch den Namen ›Haus Barbarac. Dieser religiöse Fimmel schien in Mode zu sein, und sie hatte davon überhaupt nichts mitgekriegt.

Auf dem Nachttisch stand eine Lampe, lag ein bißchen Kleingeld rum. Unter dem roten Wecker fand sie eine Klarsichthülle mit NIAG-Aufdruck, darin ein Stück Foto, das eindeutig aus einem größeren Bild mit der Schere ausgeschnitten worden war: ein Mädchen, vielleicht siebzehn. Sie hatte blondes, halblanges Haar, hohe Wangenknochen, einen vollen Mund und strahlende Augen. Sie lachte nicht in die Kamera, sondern irgendwen außerhalb des Fotos an, voll offener Wärme. Ein sehr hübsches, fesselndes Gesicht.

Astrid steckte das Foto ein und machte sich dann an den Kleiderschrank. Dort war alles ordentlich gestapelt und duftete frühlingsfrisch: mehrere Jeans in Blau und Schwarz, ein Stapel T-Shirts, ein Stapel Sweat-Shirts, keine Unterhemden, die Unterhosen aus weißem Feinripp, wenig aufregend. Ganz unten ein Ausreißer, hellrosa Boxershorts mit kopulierenden Schweinchen; bestimmt ein Geschenk von irgendeinem Witzbold. Außerdem waren da noch zwei dunkelblaue Badehosen und ein Frotteemantel in Größe 176, der durfte wohl kaum noch gepaßt haben.

Ein guter katholischer Junge, dachte Astrid, und ihr war ein bißchen flau dabei.

Jetzt blieb nur noch das schmale Regal neben dem Kleiderschrank. In hellblauen Pappschachteln lagen Kinderfotos, Sieger- und Ehrenurkunden von Bundesjugendspielen, das Blättchen von der Kommunion, ein paar schon vergilbende Briefe von einer Tanja aus Gelsenkirchen, ein Angelschein, Segelscheine, ein paar Reiseprospekte, die auch schon älter waren, lauter Dinge, die man nicht wegwerfen wollte, die aber für das augenblickliche Leben nicht wichtig waren.

Im untersten Fach ein paar Schnellhefter aus Pappe mit Zeitungsausschnitten zu allen möglichen Themen, völlig unsortiert, anscheinend immer obenauf abgeheftet: Bootsbau, Bootsmessen, der wiederaufgenommene Fährbetrieb in Grieth, Testberichte von Motorrädern, Artikel über Drogentote und Sekten, viel über Sekten und religiöse Verführer. Astrid stutzte. Wie ging das denn zusammen? Nun ja – sie kam aus der Hocke hoch und schaute sich noch einmal um. Nein, sie hatte wohl nichts übersehen.

Van Gemmern fummelte am Nachttisch herum. Er hatte bisher noch kein Wort gesagt, sein einziges Interesse galt den Fingerabdrücken, die er nehmen sollte. Sie beobachtete ihn, wie er konzentriert, bleich und unbewegt seine Arbeit tat. Nie schien ihn irgendwas zu berühren. Ein paar Monate lang hatte sie mit ihm geschlafen, damals, als sie gerade zum K 1 gekommen war, hatte an die Stille-Wasser-Geschichte geglaubt. Es war nicht mehr daraus geworden als ein lockeres, fragwürdiges Verhältnis, aus dem sie von einem Moment auf den anderen ausgestiegen war. Selbstverständlich hatte er auch da keine Regung gezeigt.

In diesem Moment drehte er sich um und bannte ihren Blick mit seinen harten blauen Augen. »Ich habe jetzt alles, was ich brauche.«

»Ja, gut«, meinte sie und zog das Foto von dem jungen Mädchen aus der Tasche. Sie mußte noch einmal mit der Mutter sprechen, fragen, ob sie das Mädchen kannte und Ja, was noch?

Van Gemmern ließ das Schloß an seiner Tasche zuschnappen, ging zur Tür und wartete schweigend.

»Geh schon mal vor zum Auto, Klaus. Ich muß der Mutter noch ein paar Fragen stellen, aber ich beeile mich.«