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»Wir nehmen meinen Wagen«, sagte Toppe entschieden, obwohl er sich normalerweise gern vorm Autofahren drückte und auch nicht die leiseste Ahnung hatte, wie man nach Niedermörmter, geschweige denn zu dieser Werft kam. Aber Norbert van Appeldorn wirkte nicht eben fahrtüchtig; eigentlich sah er aus, als könne er kaum auf den Beinen stehen.

Toppe schloß die Beifahrertür auf und schimpfte: »Wieso bist du überhaupt gekommen? Du hast doch Fieber.«

»Blödsinn«, knurrte van Appeldorn und hustete. Toppe knallte die Tür zu.

Es fror immer noch Stein und Bein, und heute lag dazu noch feiner Morgennebel über der Ebene, aber van Appeldorn lotste sie sicher durch den halben Kreis Kleve.

Seine knappen Richtungsangaben waren allerdings das einzige, was er von sich gab, ansonsten brütete er vor sich hin und rieb sich die rotgeränderten Augen.

Am Ortsende von Niedermörmter bogen sie links in eine schmale Straße zur Reeser Schanz ein, die Toppe nicht einmal mit einer Landkarte gefunden hätte. Sie passierten die letzten Häuser und kamen über den Deich. Die Straße führte zu einer befestigten Rampe, die im Wasser auslief, der ›Schanz‹. Gleich daneben stand auf einer hohen Warft ein altes Gasthaus. Linker Hand lag der Sporthafen.

Toppe stutzte. Diese runtergekommene Bude sollte die bekannte Roeloffs-Werft sein? Es war ein großes, zweigeschossiges Gebäude aus brüchigem Backstein, ein alter Bauernhof. Dort wo früher mal der Wohnbereich gewesen war, waren die meisten Fensterscheiben zerbrochen, die anderen blind vor Dreck. Aber als sie in den Zuweg einbogen, sah er den prächtigen Neubau aus Stahl und weißem Putz mit seinen blitzblanken Schaufenstern. Daneben eine brandneue Werkshalle, von der eine Rampe mit eingelassenen Metallschienen zum Yachthafen führte, die Slipanlage, über die man die Boote zu Wasser ließ. Am Ufer reckte sich ein sicher vier Meter hohes Metallgerüst mit einem Kran. Dicke, breite Lederriemen hingen an einem Geländer. Ein Stück weiter neben einem Festmacher zwei Tanksäulen mit endlos langen Einfüllschläuchen. An einem festen Steg, der sich lang ins Wasser zog, lagen still ein paar Boote. Wassersportverein Xanten e.V. stand auf einem Schild.

Toppe manövrierte den Wagen auf den schmalen Grasstreifen, der sich am alten Gebäude entlangzog.

Hinter der Werkshalle standen mehrere aufgepallte Segelboote, mit ihren Kielen fünf, sechs Meter hoch, die Rümpfe teilweise rostig, teils abgeschliffen, alte ziemlich gammelige Motorboote lagen schief in der Gegend rum.

Dazwischen jede Menge Krempel: rostige Anker und Trossen, ausgemergeltes Tauwerk, Schiffsschrauben, ein paar Trailer.

»So sieht also eine Nobelwerft aus«, mokierte sich Toppe.

»Hier schlachten die offensichtlich bloß alte Boote aus«, antwortete van Appeldorn.

Toppe wunderte sich. »Kennst du dich etwa im Bootsbau aus?«

»Nö.« Van Appeldorn stieg vorsichtig über einen Haufen Tampen. Das zweiflügelige Tor war geschlossen und ließ sich von außen nicht öffnen. Drinnen dröhnten Maschinen. Er bollerte mit der Faust gegen das Tor, aber offenbar hörte ihn keiner.

»Versuchen wir es mal da drüben.« Toppe zeigte auf das weiße Gebäude. Über dem Eingang glänzten dicke, in einem Bogen angeordnete Messingbuchstaben:

ROELOFFS WERFT

Der Mann kam ihnen schon an der Tür entgegen. Er war klein, mit gedrungenem Oberkörper und kurzen Beinen und sah in dem dunklen Maßanzug aus wie verkleidet.

»Kann ich Ihnen behilflich sein?« runzelte er fragend die buschigen Augenbrauen.

»Toppe, Kripo Kleve. Mein Kollege van Appeldorn.«

Der Mann lachte unvermittelt. »Daß Sie nicht wegen einem Boot kommen, habe ich mir schon gedacht.«

»Tatsächlich?« kam es kühl von van Appeldorn.

»Ja.« Der Mann hielt ihnen die Tür auf und ließ sie vorangehen. »Leute, die ein Boot wollen, die gucken sich hier erst einmal in Ruhe um. Und an so einer schönen Jolle, wie der da vorne würde ein Bootsfan niemals einfach so vorbeigehen. Aber kommen Sie bitte durch.

Roeloffs ist mein Name.«

Der Ausstellungsraum ließ erkennen, welche Klasse von Booten hier gebaut wurde: Stellwände mit großformatigen Fotos von leuchtenden Schiffen teilten die verschiedenen Ausstellungsbereiche voneinander. Da waren Radargeräte, Kühlschränke, Herde mit kardanischer Aufhängung, Kompasse, Sextanten, Motoren, eine ganze Wand mit Holz- und Stoffmustern, nautische Geräte, die Toppe nicht kannte.

»Bitte, meine Herren!« Roeloffs öffnete eine blau gestrichene Tür zu einem Büroraum. »Nehmen Sie Platz.«

»Es geht um Ralf Poorten«, begann Toppe.

Roeloffs sah bestürzt aus. »Ach Gott, ja, das hätte ich mir eigentlich denken können. Eine entsetzliche Geschichte«, meinte er bedrückt.

»Wie haben Sie davon erfahren?« fragte van Appeldorn.

»Also, ich persönlich habe das von meinem Bruder gehört. Der hat mir am Samstag erzählt, daß Ralfs Eltern angerufen hatten, ob ihr Junge bei uns wäre. Aber wir arbeiten nicht am Wochenende, außer wenn richtig Druck ist. Die Lehrlinge aber nicht. Ist ja auch gar nicht erlaubt.«

»Und weiter«, drängte van Appeldorn.

»Ja.« Roeloffs wischte sich über die Stirn. »Gestern morgen hat der Vater wieder angerufen und mir gesagt, Ralf wäre tot, ertrunken. Mehr war aus dem Mann nicht herauszuholen. Der war total fertig. Die ganze Geschichte, was wirklich passiert ist, habe ich erst heute morgen in der Zeitung gelesen. Umgebracht? Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Wie furchtbar!«

»Wann haben Sie Ralf Poorten zuletzt gesehen?« fragte Toppe.

»Ich persönlich?«

Grundgütiger, dachte Toppe, wer sonst? Aber er sagte nichts.

»Am Donnerstag morgen. Danach war ich bis Samstag auf Geschäftsreise in Amsterdam. Wir haben nämlich einen Kunden aus Saudi Arabien, der gerade in Holland …«

»Wie schön für Sie«, unterbrach ihn van Appeldorn. »Ist der Junge am Freitag zur Arbeit gekommen?«

»Soviel ich weiß, ja. Aber am besten sprechen Sie mit meinem Bruder.« Er war schon aufgestanden.

Auch Toppe erhob sich. »Wie viele Leute arbeiten eigentlich hier auf der Werft?«

»Vier«, antwortete Roeloffs, während er vor ihnen herging. »Wir sind, wie gesagt, nur ein kleiner Betrieb. Klein, aber exklusiv.« Sein Lächeln wirkte eher wie ein Zähnefletschen. »Mein Bruder, ein Geselle, der schon Jahre hier ist, ich und immer ein Lehrling. Ralf Poorten war der beste, den wir in den letzten Jahren hatten. Begabt, verantwortungsbewußt, selbständig.«

»Keine Sekretärin?« wollte van Appeldorn wissen.

»Nein, ist nicht notwendig. Das schaffe ich gut alleine.«

Sie waren in der Werkshalle angekommen. Der Maschinenlärm, den sie draußen schon gehört hatten, kam von einem Kompressor aus einer Lackierkabine, die eine große Ecke der Halle einnahm.

Roeloffs schlug gegen die Plastikwand. »Franz!« brüllte er.

Die Maschine verstummte. »Wat ist denn, godverdomme! Kann man denn nicht einmal …«

Franz Roeloffs war die imposantere Ausgabe seines Bruders, ein Hüne mit Riesenpranken, einem dicken Vollbart, und die schwarzen Augenbrauen waren über der Nasenwurzel zusammengewachsen. Er schaute sie finster an, während er sich die farbverschmierten Hände an einem Lappen abwischte.

»Kripo, wegen Ralf«, erklärte der Bruder.

»Ach so, sag dat doch gleich.«

»Kripo?« fragte eine unsichere Stimme hinter ihnen. Ein ältlicher, verhuschter Mann mit sandfarbenem Haar und fahler Haut kam zögerlich heran. Sein blauer Overall, der ihm mindestens zwei Nummern zu groß war, war an den Knien durchlöchert und an den Säumen ausgefranst.

Toppe sah ihm fragend entgegen.

»Küsters«, hielt ihm der Mann schnell seine Hand hin. »Ich bin auch hier beschäftigt.«

Die beiden Bootsbauer hatten am Freitag mit Ralf Poorten zusammen gearbeitet wie immer. Sie waren ziemlich in Zeitdruck gewesen und hatten sogar die Mittagspause ausfallen lassen, um pünktlich Feierabend machen zu können.

»Was soll mir denn an Poorten aufgefallen sein?« brummte Franz Roeloffs. »Gesagt hat der schon immer wenig. Der war wie sonst auch.«

»Mann, Mann!« Küsters wischte sich mit dem Handrücken die Tränen ab. »Dem Jung soll einer was angetan haben. Ich kann das nicht glauben. War so ein guter Kerl.«

Sie erfuhren, daß Ralf im dritten Lehrjahr gewesen war, daß er alle Aussichten gehabt hatte, eine hervorragende Prüfung abzulegen, und daß man sich bereits entschieden hatte, ihn hinterher in den Betrieb zu übernehmen.

»Hier ist nichts zu holen«, meinte Toppe, als sie wieder beim Auto waren.

»Abwarten«, entgegnete van Appeldorn. Toppe sah verwundert hoch. »Was hast du denn? Und überhaupt, wieso warst du eigentlich so unfreundlich?«

»Weiß nicht, ich hab einfach so ein blödes Gefühl.« Dann wurde er von einem Hustenanfall gebeutelt, der gar nicht aufhören wollte. Schweißüberströmt ließ er sich auf den Sitz fallen.

»Mir reicht’s«, sagte Toppe energisch. »Ich fahre dich jetzt zum Arzt.«

»Brauch keinen Arzt«, wehrte sich van Appeldorn zähneklappernd.

»Hm, das sehe ich. Du hast Schüttelfrost.«

Währenddessen machte Astrid das Beste aus ihrem freien Tag. In den letzten Wochen waren so viele Überstunden angefallen, daß sie drei ganze Tage hätte freinehmen können, aber das ging natürlich nicht, wenn sie mitten in einem neuen Fall steckten. Eigentlich hatte sie sich aufs Ausschlafen gefreut, aber Christian mußte heute erst zur dritten Stunde in der Schule sein und hatte offenbar beschlossen, seine Morgentoilette in aller Ruhe vorzunehmen. Das bedeutete, er ließ mindestens zwanzig Minuten die Dusche pladdern, und dabei drehte er das Radio in der Küche so laut, daß er es im Bad hören konnte. Vermutlich wußte er gar nicht, daß außer ihm noch jemand im Haus war, aber ganz sicher war Astrid sich da nicht.

Nachdem Christian endlich wieder nach oben gepoltert war, hatte sie sich in ihre alte Trainingshose und eins von Helmuts Sweatshirts gemummelt, sich eine Kanne Kaffee gekocht und saß jetzt am großen Tisch in der Küche und blätterte in Kochbüchern.

Sie hatten sich entschieden, keine große Einweihungsparty zu machen, sondern statt dessen für ihre nächsten Freunde ein Essen zu kochen, ganz nobel, mindestens fünf Gänge. Seitdem sie sich die Kocherei teilten, hatten sie alle Spaß dran bekommen, und jeder hatte bei sich besondere Talente entdeckt. Wenn sie sich zusammentaten, konnte ein erstklassiges Menü dabei herauskommen. Tische und Stühle würden sie leihen und eine lange Tafel in der Halle aufbauen, gleich unter dem Kronleuchter. Zwanzig Leute hatten da bestimmt Platz. Vorspeise, Suppe, der Fischgang waren kein Problem, was aber als Hauptgericht? Sie strich Filet Wellington wieder durch, zu prosaisch.

Auf der Küchenbank lag aufgeschlagen die Tageszeitung: Spyck’sche Wasserleiche identifiziert … aus Griethausen … Oben schüttelte Christian seine Gesundheitslatschen von den Füßen und ließ sie auf die Dielen poltern. Eine seiner netten Angewohnheiten, sehr wirkungsvoll, wenn man Holzdecken hatte …. aus Griethausen. Grieth, der Griether Jugendkreis, da fuhr doch Christian neuerdings auch immer hin. Dann mußte er doch eigentlich Ralf Poorten kennen!

Astrid schnappte sich die Zeitung und lief nach oben. Anstandshalber klopfte sie an, wartete aber nicht auf eine Antwort. Christian lag bäuchlings mit einem Buch auf dem Bett und drehte sich ärgerlich zu ihr um. »Was machst du denn hier?«

»Ich habe heute frei. Hier, guck mal!« Sie legte ihm die Zeitung aufs Bett.

»Ja und? ’ne Zeitung. Was soll ich damit?«

»Lies doch mal. Das da.«

Er las, verzog dabei keine Miene.

Ihr Blick fiel auf die hölzerne Betbank unter dem Fenster und die Konsole mit Bibel, Gebetbuch und einer schnörkeligen, dicken Kerze. Das Kreuz an der Wand darüber war das gleiche, das auch in Ralf Poortens Zimmer hing.

Früher hatte man eine Machete gebraucht, wenn man in Christians Zimmer von der Tür zum Fenster wollte. Jetzt war alles so penibel aufgeräumt und rechtwinklig ausgerichtet, daß es schon ungemütlich war. Lausig kalt war’s außerdem. Astrid legte die Hand auf den Heizkörper – nur lau – vielleicht mußte man den mal entlüften, aber dann sah sie, daß der Thermostat nur auf Eins stand. Und Christian lag da auf dem Bett in Jeans und T-Shirt und mit nackten Füßen. Wie asketisch! Er schien sein neues religiöses Leben wirklich bluternst zu nehmen.

»Du müßtest den Jungen doch kennen, oder?«

»Ralf Poorten ist eure Wasserleiche. Nicht zu fassen!« Aber sein Gesicht war gleichgültig. »Ob ich ihn kenne? Kennen ist zuviel gesagt. Ich habe ihn vielleicht vier- oder fünfmal getroffen, in Grieth, aber mehr als ›Hallo‹ haben wir uns nicht gesagt.«

»Weißt du, mit wem der näher befreundet war?«

»Keine Ahnung.« Er gab ihr die Zeitung zurück und nahm sein Buch wieder zur Hand.

Über dem Bett hing eine gerahmte Farbfotografie: eine Gruppe fröhlicher junger Menschen vor einem eindrucksvollen Gebäude.

»Ist das Haus Barbara?« wollte Astrid wissen.

Er nickte, ohne hochzuschauen.

Das klare Gesicht des Mädchens, ihr leuchtender Blick fielen Astrid sofort ins Auge, obwohl sie irgendwo mitten in der Gruppe von mindestens zwanzig anderen stand.

»Und das ist Clara Albers«, stellte sie fest.

Christian zuckte zusammen und klappte das Buch zu.

»Wir haben ein Foto von ihr auf Ralf Poortens Nachtschrank gefunden.«

Christian setzte sich auf. »Ein Foto von Clara?« fragte er ungläubig.

»Ja. Kennst du sie näher?«

In seinen Augen flackerte es kurz, aber dann ließ er sich wieder nach hinten fallen, und sein Blick war verschlossen. »Vom Sehen, ja, genau wie Ralf. Ähm, ich muß noch Chemie lernen …«

Astrid klemmte sich die Zeitung unter den Arm. »Tja, übrigens, dein Kreuz da. wo hast du das her?«

»Warum?« fragte er zurück, die Nase schon wieder zwischen den Buchseiten.

»Weil Ralf Poorten genau das gleiche hatte.«

»Kann schon sein. Hab ich in Grieth gekauft.«

»Komisches Ding.« Astrid kam noch einmal zurück und betrachtete es genauer. Auf einmal wußte sie, was ihr die ganze Zeit so fremd gewesen war. Die Christusfigur hatte stark androgyne Züge, die Brustmuskulatur war gerundet wie ein Busen, und das Gesicht war ein Mädchengesicht, das ihr ganz vage bekannt vorkam.

»Eine Christa.« murmelte sie, aber Christian nahm keine Notiz mehr.