11
Ackermann wartete auf dem Flur, in der Hocke, den Rücken gegen die Wand gelehnt – eine Stellung, die außer ihm kein Mensch bequem fand. Er vertrieb sich die Zeit, indem er seinen Zigarettenvorrat für den Rest des Tages drehte. Die außergewöhnliche Technik – einhändig auf dem Oberschenkel rollend – hatte er vor Jahren von seinem holländischen Schwager gelernt und sie inzwischen perfektioniert. Endlich kamen Toppe und Astrid die Treppe hinauf.
»Einen wunderschönen!« schmetterte Ackermann ihnen entgegen und stemmte sich hoch. »Tach, junge Frau«, verbeugte er sich vor Astrid und kicherte. »Ich hätt ja fast wat gesacht. oder macht ihr Gleitzeit?«
»Schon lange«, antwortete Toppe.
»Ich hätt da vielleicht wat für euch«, strahlte Ackermann, »aber ich muß ebkes noch …« Er bückte sich, sammelte die fertigen Zigaretten ein und staunte. »Ich glaub, ich wart schon länger.«
»Ist denn noch keiner da?« Toppe öffnete die Tür zum Büro.
»Nö. Och, Chef, un’ ich hab gedacht, wir gehen in Ihre schicke Bude.«
Das Telefon fing an zu bimmeln, und Astrid schob sich an den beiden Männern vorbei, um abzunehmen.
»Ach, guten Morgen, Marion.« Dann lauschte sie mit angehaltenem Atem. »Moment.« Sie hielt Toppe den Hörer hin. »Marion van Appeldorn. Sie will dich sprechen.«
Es wurde ein längeres, wenn auch zunächst etwas einseitiges Gespräch. Toppe setzte ein paarmal zu einer Erwiderung an, kam aber nicht durch. Marion van Appeldorn schimpfte so laut, daß Astrid und Ackermann die Luft anhielten.
»Jetzt reg dich doch nicht so auf«, versuchte es Toppe sanft, mit dem Erfolg, daß er den Hörer noch weiter vom Ohr weghalten mußte.
Heinrichs erschien nun auch zum Dienst. Das »Guten Morgen« starb ihm auf den Lippen.
»Und jetzt ist er im Krankenhaus?« fragte Toppe. Ein langes Gezeter folgte.
Astrid sah, wie Toppe den Mund zusammenkniff, und wußte, daß es gleich furchtbar krachen würde.
»Au Backe!« flüsterte Ackermann, und Heinrichs schlich auf Zehenspitzen zu seinem Schreibtisch, was bei mehr als zwei Zentnern Körpergewicht rührend aussah.
»Es reicht, Marion«, begann Toppe gepreßt. »Mir reicht es jetzt gründlich.« Das kam schon lauter, und dann brüllte er: »Du hältst auf der Stelle deinen Mund!«
Wahrscheinlich schnappte sie empört nach Luft, denn auf der anderen Seite der Leitung war es still. »Ich nehme an, du bist ziemlich mit den Nerven runter«, sagte Toppe. »Und deshalb werde ich den ganzen Mist vergessen, den du da eben von dir gegeben hast. Ich melde mich wieder.« Damit legte er auf.
Ackermann stieß hörbar die Luft aus und ließ sich auf van Appeldorns Stuhl fallen.
Toppes Nase war noch weiß vor Wut, aber Heinrichs fragte trotzdem, was nun eigentlich los sei.
»Norbert hat wohl eine Lungenentzündung, und das ist meine Schuld«, antwortete Toppe, ohne jemanden anzusehen.
»Ach ja«, meinte Astrid giftig. »Und wie hast du das gemacht? Hast du ihm den Erreger eingehaucht?«
»Du weißt offensichtlich nicht, wie das bei uns zugeht! Wir machen uns alle einen schönen Lenz, und der arme Norbert muß die Drecksarbeit erledigen. Tag und Nacht in der Kälte, während wir anderen vor dem Kamin Däumchen drehen. Blöde Pute!«
»Geht es ihm sehr schlecht?« fragte Heinrichs beunruhigt.
»Hörte sich eigentlich nicht so an. Der Arzt hat wohl gesagt, er brauchte nicht ins Krankenhaus. Was für sie natürlich schrecklich ist. Jetzt muß sie jemanden für ihren Laden finden und überhaupt! Zwei Kinder und jetzt auch noch einen kranken Mann im Haus. Sie meinte, wir sollten uns bei der Krankenpflege abwechseln, schließlich wären wir ja auch …« Aber dann unterbrach er sich. »Ach was, vergessen wir’s einfach. Die hatte immer schon Haare auf den Zähnen. Ich fahre nachher mal hin und gucke, was nun wirklich los ist.«
Jetzt traute sich Ackermann endlich wieder vor: »Soll ich denn jetzt ma’? Oder müßt ihr noch wat anderes?«
»Es geht um die Werft, nicht wahr?« fragte Toppe. Ackermann nickte aufgeregt.
»Gleich. Zuerst müssen noch ein paar andere Dinge geklärt werden. Hast du schon was erreicht, Walter?«
Der schüttelte unzufrieden den Kopf. »Kein Ergebnis, was das Motorrad angeht, bis jetzt. Aber zur Wasserschutzpolizei habe ich inzwischen gute Kontakte. Einer von denen hat offenbar den richtigen Durchblick. Der meint allerdings auch, daß wir eine Menge rechnen und puzzlen müssen, wenn wir rausfinden wollen, wo man Poorten in den Fluß geworfen hat. Ich würde gern heute im Lauf des Tages zu ihm fahren.«
»Und wer ist dann hier im Büro? Nein, laß den lieber herkommen«, entschied Toppe. Dann sah er Astrid auffordernd an. Den größten Teil hatte sie ihm schon gestern abend erzählt. Manchmal war es gar nicht so leicht, Privatleben und Beruf zu trennen, und manchmal kam er sich vor wie in einem Theaterstück. Aber Astrid spielte nicht nur mit, sie war ganz bei der Sache und berichtete ausführlich von ihren Gesprächen mit Ralfs Schwester und dem Pastor von Griethausen und zeichnete das Bild des Jungen nach.
»Seine einzigen Freunde scheint er in diesem Griether Jugendkreis gehabt zu haben. Aber selbst dort … Christian kennt ihn kaum.« Sie erklärte den Zusammenhang. »Jedenfalls sagt er das. Ich würde gern mal nach Grieth fahren und mit dem Pfarrer sprechen, vor allem mit den Jugendlichen. Vielleicht ist Ralf Poorten ja am Freitag dort gewesen. Seine Schwester sagt, er hätte ständig da rumgehangen. Eine andere Möglichkeit wäre Haus Barbara. Poorten hat dort an mehreren Seminaren teilgenommen. Die Leute möchte ich kennenlernen. Nach den Blättchen, die ich von denen gesehen habe, scheint das ein ziemlich übler Haufen zu sein, obwohl der Pope von Griethausen die in den höchsten Tönen gelobt hat. Aber ich bin mir nicht sicher, ob man darauf was geben kann.«
Heinrichs sah ein wenig betreten aus.
»Morgen fangen jedenfalls diese Exerzitien an. Das wäre eigentlich eine gute Gelegenheit, sich das da mal genauer anzugucken, oder? Ich würde das wohl übernehmen. Tja, und dann hatte Poorten möglicherweise etwas mit diesem Mädchen zu tun.« Sie zeigte ihnen das Foto. »Das Bild habe ich auf Poortens Nachttisch gefunden. Clara Albers heißt sie. Sie wohnt in Grieth und geht zum Sebus Gymnasium. Christian kennt sie aus dem Jugendkreis.«
»Mensch, ist die hübsch«, murmelte Heinrichs.
»Hübsch?« rief Ackermann. »Dat is’ ’n Sahnetörtchen! Guckt euch doch bloß ma’ diese Augen an, un’ wie die lacht! Also, ich nenn dat nich’ hübsch. Die is’ schön! Clara? Also, ir’ndwie sacht mir dat wat. Ich weiß bloß nich’ … Gesehen hab ich dat Mädchen aber noch nie. Dat hätt ich bestimmt nich’ vergessen!«
»Vielleicht fällt es Ihnen ja noch ein«, meinte Toppe milde. »Und? Was haben Sie denn jetzt über die Roeloffs-Werft rausgefunden?«
Ackermann begann recht leise, steigerte sich aber schnell. »Nu ja, also, wie gesacht, ich wüßt ja, dat bei denen nich’ alles koscher is’. Der Paul Roeloffs – schimpft sich wohl Geschäftsführer jetz’ – also, der hat scho’ ma’ gesessen, un’ zwar wegen Hehlerei. Is’ ’n paar Jährkes her. Ganz schräger Vogel, der Mann. Da waren damals noch ganz andere Sachen im Gespräch: Urkundenfälschung, Waffenschieberei, Drogenschmuggel. Alles, wat gut un’ teuer is’. Aber da könnt man dem wohl nich’ genuch nachweisen. Un’ Pleite hat der auch ma’ gemacht.«
»Mit der Werft?« wunderte sich Toppe.
»Ah wat! Da hatte der noch nix mit zu tun. Dat war ’n anderes Geschäft, un’ außerdem saß der damals in Frankfurt. Ja.« Ackermann schob die Brille auf die Stirn und wieder zurück auf die Nase. »87 is’ der jedenfalls raus aus ’m Knast un’ hat sich in ’t Ausland abgesetzt. Nach de Türkei, wie ich gehört hab, aber da arbeiten wir noch dran. Jedenfalls soll der da Boote verchartert haben.«
»Boote?« mischte sich Heinrichs ein. »Und die Roeloffs-Werft hat die gebaut.«
»Nee, bestimmt nich’.« Ackermann lachte, ein wenig sicherer jetzt. »Werft könnt man dat damals noch gar nich’ nennen. Dat war ’ne kleine Klitsche. Hat ich selbs’ oft genuch mit zu tun.«
Die anderen stutzten verhalten, hielten aber wohlweislich den Mund. Wenn Ackermann sich in persönliche Geschichten verbiß, war kein Ende abzusehen.
»Wie auch immer – sacht man doch so schön, wa? – der Paul Roeloffs is’ vor fünf Jahren wieder zurück inne Heimat, un’ da is’ er dann bei sein Bruder eingestiegen, un’ zwar mit ’nem schön Stängsken Kohle. Da ham se nämlich den Neubau hochgezogen un’ in Nullkommanix ein auf Nobelwerft gemacht. Ich könnt mir denken, dat der Paul die richtigen Kunden anne Hand hatte, bei seine Connections nach de Frankfurter Unterwelt. Un’ dat der inne Türkei sauber gearbeitet hat, dat kann der seine Oma erzählen. Un’ heute? Ich weiß et nich’, ich weiß et nich’. Inne Bootsbauerei wird viel gemauschelt mit Schwarzgeld. Da würd ich gern ma’ ’n bisken genauer hingucken. Ich mein, schon wegen meine persönliche berufliche Orientierung.« Er starrte sie erwartungsvoll durch die dicken Gläser an.
Toppe mußte einen solchen Ausdruck aus Ackermanns Mund erst einmal verdauen.
»Ja, ja«, meinte er endlich, »schön und gut. Aber wo sehen Sie da eine Verbindung zu Ralf Poorten?«
»Dat sieht doch ’n Blinder mit ’m Krückstock! Oh«, er hielt sich erschrocken den Mund zu. »So war et nich’ gemeint, nix für ungut. Aber wenn der Paul Roeloffs immer noch krumme Dinger dreht, wovon ich ausgeh, un’ der Junge hängt mit drin – zum Beispiel. Oder andere Möglichkeit: der hängt nich’ mit drin, hat aber wat spitz gekriegt un’ macht ’n bisken Druck. Wie wär dat denn?«
»Das wäre überhaupt nichts«, wehrte Astrid entschieden ab. »So was paßt nicht zu Ralf Poorten. Und ich dachte eigentlich, das wäre mittlerweile klar geworden. Der und Erpressung, das ist lächerlich!«
Ackermann legte den Kopf schief. »Also, ich persönlich bin mit solche Urteile ja vorsichtig. Wer weiß? Man guckt nich’ dahinter, sach ich immer.«
»Ackermann.« Heinrichs blieb immer noch geduldig. »Laß gut sein.«
»Und was ist mit dem anderen Roeloffsbruder?« drängte Toppe.
Franz Roeloffs war ein unbescholtener Bürger, Bootsbauer mit Leib und Seele, etwas anderes schien ihn auch nicht zu interessieren. Nicht einmal verheiratet war er. Wenn er nicht gerade Boote baute, dann war er entweder auf seiner Segelyacht auf dem Ijsselmeer oder auf seiner Jolle am Wisseier See.
»Und warum sollte sich der Mann so einen Kuckuck ins Nest holen?« fragte Heinrichs zweifelnd.
»Ich könnt mir vorstellen, dat sein Laden sons’ den Bach runtergegangen wär. Von Geschäftssinn hab ich nämlich bei dem nie wat gemerkt.« Wieder schaute Ackermann die anderen gespannt an, aber wieder hakte keiner nach; mit den Jahren wurde man schlauer.
»Na ja, es schadet sicher nichts, wenn man diesem Paul Roeloffs mal ein bißchen genauer auf den Zahn fühlt«, meinte Heinrichs unbestimmt.
»Meine Rede«, nickte Ackermann, vollauf zufrieden mit sich.
»Aber so langsam sollten wir doch mal ein bißchen System in die Sache bringen. Wenn jetzt auch noch Norbert ausfällt …« Heinrichs ging zur Fensterbank, wo die Kaffeemaschine stand, und fing an zu hantieren.
Toppe gab sich einen Ruck: »Ich hätte Sie gern bei der Werft dabei, wenn Sie Zeit haben.«
Ackermann sah ihn andächtig an. »Echt?«