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Als Toppe am nächsten Morgen in sein Chefbüro kam, fand er eine Notiz von van Appeldorn auf dem Schreibtisch: Bin in Emmerich. Hole Fingerabdrücke und, falls fertig, Bericht. N.

Es mußte ihn gewurmt haben, daß er gestern nicht an die Fingerabdrücke gedacht hatte, wenn er sich so früh auf den Weg machte, denn normalerweise kam van Appeldorn morgens nur langsam in die Gänge.

Toppe gähnte und streckte sich in dem dick gepolsterten Schreibtischsessel aus. Ganz fit war er selbst auch noch nicht. Es war reichlich spät geworden gestern abend. Er lächelte vor sich hin – gut, daß er bei der Planung des Badezimmers auf einer Doppelwanne bestanden hatte.

Astrid mußte schon längst im Präsidium sein. Sie fuhren meist in getrennten Autos zum Dienst; man wußte nie, was passierte, und Dienstwagen waren immer knapp.

Er hatte bei ihr geschlafen, letztendlich, und den Wecker nicht gehört – vielleicht hatte sie ihn auch gar nicht gestellt – jedenfalls war sie schon fix und fertig angezogen gewesen, als er sich endlich aus seinem Traum in den Tag gekämpft hatte – ein bißchen verquer, denn wenn es besonders lang und intensiv gewesen war, wachte er gern mit ihr zusammen auf, langsam und in Ruhe. In der einen Hand ein Butterbrot, in der anderen ihre Autoschlüssel, hatte sie kurz ihr Gesicht an seinem Hals vergraben und gemeint: »Ich muß mich beeilen, sonst krieg ich Ärger mit meinem Chef.«

Er grinste. Sie hatte von Anfang an deutlich gemacht, daß sie nicht daran dachte, aus der besonderen Situation Vorteile zu ziehen; vermutlich kamen die anderen im Team deswegen so gut damit klar. Obwohl Toppe sich manchmal fragte, wie zum Beispiel Walter Heinrichs als praktizierender Katholik die Geschichte mit seinen persönlichen Moralvorstellungen vereinbaren konnte.

Toppe gähnte noch einmal, reckte sich und rief sich selbst zur Ordnung: Ralf Poorten war jetzt das Problem.

Astrid und Heinrichs standen vor der großen Karte vom Kreis Kleve, die im K 1-Büro an der Wand hing, und diskutierten.

»Guten Morgen«, sagte Toppe frisch.

Astrid drehte sich um, ein weicher, wissender Blick, dann ging’s wieder. »Morgen, Helmut«, antwortete Heinrichs, aber er nahm die Augen nicht von der Karte. »Man müßte natürlich Genaueres wissen über die Strömungsgeschwindigkeit im Rhein an der Stelle, über Verwirbelungen und so.«

Er war in seinem Element. Nichts konnte ihn mehr begeistern als Puzzles, Gedankenspiele und Hypothesen.

»Die Jungs von der Wasserschutzpolizei, die müßten das doch wissen, oder was meint ihr?« Immer noch starrte er die Landkarte an. »Ich könnte ja auch mal in meinem Rheinhandbuch nachgucken …«

»Rheinhandbuch«, bestätigten Toppe und Astrid gleichzeitig. Bei Heinrichs wunderte sie, was seine Bibliothek anging, schon lange nichts mehr. Seit frühester Jugend hatte er sich für nichts anderes als Kriminalistik interessiert – er hatte denn auch erst mit Vierzig geheiratet, es allerdings noch geschafft, fünf Kinder zu zeugen und zu erziehen – und alles zusammengetragen, was es auf dem Markt zu kaufen gab. Einschließlich der angelsächsischen und französischen Literatur zu dem Thema. Mit letzterer hatte er allerdings, wie er auch gern zugab, seine Schwierigkeiten, was das Sprachverständnis anging. Fast alles hatte er gelesen, und er war daher auch immer schnell mit Parallelfällen von Anno Tobak zur Hand, was manchmal nervte, manchmal lustig und manchmal durchaus hilfreich war, sei es auch nur, daß es bei allen die Phantasie anregte.

Toppe setzte sich auf van Appeldorns Stuhl und schüttelte jetzt doch den Kopf: »Wozu hast du denn ein Rheinhandbuch? Ich denke, so was brauchen nur Rheinschiffer und allenfalls Segler, oder was weiß ich.«

»Ach«, Heinrichs guckte schräg, »da war mal so ein Fall in Duisburg. Da hatte man einen Türken – oder war es ein Kurde? – also, den hatte man in ein Hafenbecken.« Er unterbrach sich, schließlich hatte er mit den Jahren dazugelernt. »Das führt jetzt zu weit. Jedenfalls wollte ich da mal so ein paar Angaben überprüfen.« Er zog an seinem Hosenbund, der mal wieder unter seinen Bauch gerutscht war. »Wie dem auch sei, Astrid hat überlegt, ob es sich nicht wohl doch um einen Unfall gehandelt haben könnte, und jetzt gucken wir gerade mal, wo das gewesen sein kann. Vor allem, wo man mit dem Motorrad …«

Er schaute wieder auf die Karte, dann zu Astrid. »Da gibt’s mehr als hundert Wege, und die unbefestigten stehen hier gar nicht alle drauf. Der Mensch könnte doch auch einfach oben über den Deich gefahren sein. Guck mal, hier und hier und hier.«

»Da sind aber eine Menge Zäune dazwischen, das weiß ich, und auch Höfe und so. Jedenfalls auf unserer Seite«, gab Astrid zurück. »Wie das rechtsrheinisch ist, weiß ich allerdings nicht.« Es klang kleinlaut.

Heinrichs lachte. »Wer kennt sich denn schon op de Gönnekant aus? Das sag mir mal!«

»Und warum ist Poorten bei Nacht und Nebel und in dieser eisigen Kälte an den Rhein gefahren?« fragte Toppe.

»Vielleicht hat er jemanden treffen wollen«, überlegte Astrid.

»Drogen«, sprang ihr Heinrichs hilfsbereit zur Seite.

Toppe verdrehte die Augen. »Wir wissen doch überhaupt nichts über den Jungen.«

»Das kommt schon noch«, sagte Astrid, setzte sich auf die Schreibtischkante gleich neben Toppe und schlug die Beine so übereinander, daß sie mit dem Fuß seinen Schenkel berührte.

»Wenn du nichts anderes für mich hast, würde ich am liebsten gleich noch mal zu seinen Eltern fahren und mir sein Zimmer ansehen. Da gibt es bestimmt was, was uns ein bißchen mehr über Ralf Poorten erzählt.«

Toppe zog sein Bein weg und sah sie an. Sie hob unschuldig die Brauen.

Heinrichs hatte nichts mitgekriegt – vermutlich.

»Auf jeden Fall muß doch das Motorrad zu finden sein«, sagte er bestimmt, ließ endlich von der Karte ab und setzte sich auch. »Das Flußufer geht überall flach rein, und so ein Ofen verschwindet nicht einfach. Soll ich die Suche organisieren, Helmut?«

Toppe rieb sich die Stirn und versuchte sich zu konzentrieren. »Ich wünschte, Norbert käme mit Arends Bericht, damit wir endlich wissen, womit wir es zu tun haben. Aber das Motorrad müssen wir auf alle Fälle finden. Also gut, Walter, mach mal.«

»… und die Wasserschutzpolizei?«

Toppe verkniff sich das Grinsen mit Mühe. »Damit warten wir noch. Wenn wir das Motorrad finden, ist die möglicherweise überflüssig.«

»Wer weiß …« murmelte Heinrichs unheilvoll.

»Und du«, tippte Toppe Astrid an, »fährst raus zu Poortens und guckst, was du findest. Und nimm van Gemmern mit, wenn er gerade Zeit hat. Wir müssen Fingerspuren von Poorten nehmen, um das Ganze wasserdicht zu machen. Da fällt mir gerade ein: Weiß einer von euch was über einen Motorradclub in Kleve?«

Astrid winkte ab, auch Heinrichs guckte ziemlich irritiert. »Am besten fragst du mal einen von den Grünen Jungs unten. Look, vielleicht, der ist doch so motorradbesessen, oder?«

»Morgen, allerseits!« Van Appeldorn schlackste herein, legte einen Stapel Papiere auf den Aktenschrank gleich an der Tür und schälte sich dann geruhsam aus Handschuhen, Mantel und Schal, hängte alles mit Sorgfalt auf den altersgebeugten Garderobenständer.

»Schon bei irgendwelchen Theorien?« fragte er heiser, räusperte sich, sah sich um.

»Falls ja, vergeßt alles, ich habe den endgültigen Bericht.« Er holte die Papiere vom Schrank, blätterte, hielt Toppe einen Umschlag hin: »Die Fingerabdrücke!«

Dann machte er erst einmal eine ausgiebige Pause, kramte in seinen Hosentaschen, ging zum Garderobenständer zurück und holte ein Päckchen Zigaretten aus dem Mantel.

Heinrichs verlor die Geduld. »Jetzt leg endlich los, Norbert! Wenn du’s schon so spannend machst, dann kann es eigentlich nur ein Unfall gewesen sein. Hab ich recht? Und damit ist für uns die Sache vom Tisch.«

»Unfall?« Van Appeldorn war ehrlich erstaunt. »Wieso denn Unfall? Davon war doch nie die Rede, oder?«

Bonhoeffer hatte keine Zweifel; ein Verkehrsunfall konnte nicht der Grund für die schweren, vor allem so verschiedenen Verletzungen sein. Besonders die Abwehrverletzungen an Händen und Armen sprachen dagegen.

Van Appeldorn zeigte ihnen Fotos vom Leichnam. »Und diese Striemen hier, die sind nicht nur an einer Körperseite, sondern auch an den Oberschenkeln und auf dem Rücken. Er ist also nicht irgendwo draufgeknallt, sondern mit einem Knüppel oder einer Stange geschlagen worden. Von wegen Unfall! Nein, den hat sich jemand vorgeknöpft, und für mich sieht das ganz so aus, als wären das mehrere gewesen.«

»Zeig mal her, was Bonhoeffer über die Wasserzeit sagt.« Heinrichs nahm sich den Bericht vor. »Also, hier steht es: ›Der Leichnam treibt ca. zwei bis drei Stunden an der Wasseroberfläche (möglicherweise da schon Verletzung durch Schiffsschraube). Danach sinkt der Körper ab und bleibt für zwei bis drei Tage (48 bis höchstens 60 Stunden) unter Wasser, und zwar bei weniger als 0,5 atü Druck, d. h. in weniger als fünf Metern Tiefe (Sandbank? Ufernähe?). Danach kommt er wieder an die Oberfläche und treibt an. Die Wassertemperatur lag am Fundtag und an den drei voraufgegangenen Tagen zwischen 3,0 und 3,5 Grad Celsius.‹ So, so.« Heinrichs kratzte sich hinterm Ohr. »Jetzt laßt uns mal rechnen. 48 bis 60 Stunden … Die genaue Fundzeit war?«

»9.25 Uhr am Montag morgen«, antwortete van Appeldorn bereitwillig.

»Das heißt 48 Stunden vorher wäre Samstag morgen gewesen und 60 Stunden Freitag abend um 21 Uhr. Wann ist der Junge eigentlich verschwunden?«

»Auf jeden Fall nach 19.30 Uhr am Freitag«, sagte Toppe. »Ich tippe auf Freitag nacht. Es muß dunkel gewesen sein. Wenn der noch an die drei Stunden an der Oberfläche getrieben ist, müßte den sonst jemand gesehen haben.«

Heinrichs nickte. »Wenn man bloß was über die Strömung wüßte.«

Toppe ging nicht darauf ein. »Hör mal, Norbert, hast du schon mal was von einem Motorradclub in Kleve gehört?«

Van Appeldorn guckte verblüfft. »Komisch, ich hatte genau denselben Einfall. Ich dachte, marodierende Skins haben wir bei uns ja Gott sei Dank noch nicht, aber vielleicht so was Ähnliches …«

»Kann es sein, daß ich da bei euch so ein paar kleine Klischees raushöre?« amüsierte sich Astrid.

Ein heftiger Niesanfall verhinderte van Appeldorns Erwiderung. Er holte ein buntes Taschentuch aus der Hosentasche und rieb sich die Nase. »Ich habe Look eben unten auf dem Parkplatz getroffen«, meinte er dann. »Es gibt tatsächlich so eine Art Motorradclub. Look geht da selbst schon mal hin. Muß aber ein ganz zahmer Haufen sein, wie er sagt. Die machen schon mal Reparaturkurse, organisieren gemeinsame Fahrten und so Sachen. Eine Gang ist das wohl kaum, aber wer weiß. Der Chef ist ein gewisser Eckard Gellings.« Er hielt erwartungsvoll inne, aber von den anderen kam keine Reaktion.

»Sagt euch der Name wirklich nichts mehr?«

»Sollte er denn?« fragte Toppe.

Heinrichs starrte finster die Wand an und rieb sich die Nasenwurzel. »Doch, gebt mir eine Minute. Gelesen habe ich den Namen auf jeden Fall schon irgendwo.«

»Arno Landmann, unser erschlagener Richter«, half ihnen van Appeldorn auf die Sprünge.

»Ach Gott, ja, Ecki!« Toppe mußte grinsen. »Ecki und seine Mopedbande von der Annabergstraße. Das ist doch bestimmt schon fünf, sechs Jahre her.«

»Siebeneinhalb«, korrigierte ihn Heinrichs, wie aus der Pistole geschossen. »Das war Ende August 88.«

»Ja.« Auch Astrid erinnerte sich. »Und am 1. September habe ich dann bei euch als Praktikantin angefangen, und ihr habt mir den ganzen Aktenberg Landmann auf den Schreibtisch gelegt. Da hatte ich dann erst mal genug zu tun.«

Van Appeldorn nieste wieder in sein Taschentuch und krächzte dann: »Jedenfalls hat Ecki Gellings jetzt einen Laden unten im Industriegebiet – Autozubehör. Soll ich dem mal auf den Zahn fühlen?«

Toppe stand auf. »Ich komme mit.«

»Moment mal«, hielt Heinrichs ihn auf. »Was ist mit dem Bericht von eurem Gespräch mit Poortens Eltern? Ich komme doch kein Stück weiter.«

»Schon gut, den schreibe ich noch schnell«, ergab sich Astrid.