24

Der Montag begann mit einem Riesenchaos. Alle trafen ziemlich gleichzeitig im Büro ein, fast alle waren angespannt, alle redeten.

»Da ist eine Nachricht von Reimann auf dem Anrufbeantworter«, sagte van Appeldorn.

»Hee, das Ergebnis von der Vergewaltigung ist da!« rief Heinrichs.

»Van Gemmern hat gleich Zeit für uns, Walter«, brüllte Ackermann.

Toppe schlug mit der Faust auf den Tisch. »Seid ihr alle bescheuert?«

Astrid hielt sich die Ohren zu.

»Bevor hier irgendwas läuft, will ich wissen, was das hier sein soll.« Er hielt ein Stück Papier hoch. »Haben die mir gerade bei der Wache in die Hand gedrückt: eine Beschwerde gegen Herrn Josef Ackermann wegen nächtlicher Ruhestörung.«

»Wat ’n Spinner«, entfuhr es Ackermann, aber dann war er sehr reumütig. »Ich hätt et Ihnen sowieso gesagt, Chef, dat schwör ich.«

Toppe hörte sich die Beichte an und fragte sich, was die Griether Bürger von der Kripo halten mußten, aber zum Schluß siegte sein Humor. »Hoffentlich hat es wenigstens Spaß gemacht.«

»Dat können Se laut sagen!« Ackermann unterdrückte ein Kichern. »Un’ zuerst dacht ich ja, et hätt wirklich wat gebracht. Weil, ich hab quasi bewiesen, dat et bloß auf ’m Deich passiert sein kann, aber dann kommt Walter un’ macht mir alles wieder kaputt.«

Heinrichs erzählte den Rest der Geschichte.

»Aber dann ist doch bei der Aktion auf jeden Fall was rausgekommen«, meinte Astrid. »Wir wissen jetzt, daß man sich in Grieth nicht unbemerkt prügeln kann. Jedenfalls nicht auf der Straße. Also, entweder sagen uns ein paar Leute nicht die Wahrheit, oder man hat Ralf Poorten in irgendeinem Gebäude totgeschlagen, in einer Garage vielleicht. Wobei ich mich immer noch frage, warum.«

»Weil du zu sehr an Grieth klebst und an dieser Clara«, erklärte van Appeldorn. »Es kann genauso gut auf der Landstraße vor oder hinter dem Dorf passiert sein. Du liegst ganz falsch, glaub mir. Haus Barbara ist der Schlüssel zu der ganzen Geschichte.«

Und dann berichtete er, nicht ohne Stolz, von seinem Showdown am Samstag.

»Stein hat ein Ermittlungsverfahren eröffnet?« Toppe wunderte sich. »Mit welchem Aufhänger?«

»Fahrlässige Tötung im Fall Karsten Bülow.«

»Hätte ich nicht gedacht«, meinte Heinrichs. »Und was ist jetzt mit den Akten? Bist du fündig geworden?«

»Allerdings! Mühlenbeck hat zu jedem Seminar seit 1982, als das Haus eröffnet wurde, einen Ordner mit Programm, Einladung, Teilnehmerlisten und Quittungen von jedem einzelnen über die Gebühren. Alles sehr sorgfältig sortiert und geheftet, teilweise sogar noch mit den Dankschreiben, die zu den einzelnen Veranstaltungen eingegangen sind. Um so auffälliger, daß bei drei Seminaren, alle im letzten Jahr, die Teilnehmerlisten fehlen und die Quittungen. Ich muß wohl nicht erwähnen, daß die Namen Glade und Toenders nirgendwo auftauchen.«

»Wenn ich dich recht verstehe, gehst du davon aus, daß Mühlenbecks vertuschen wollen, daß die beiden Jugendlichen bei ihnen waren, weil mit denen auch irgendwas passiert ist«, meinte Astrid.

»Das liegt doch wohl auf der Hand! Und Ralf Poorten wußte davon. Ich sage doch, Haus Barbara ist der Schlüssel. Hast du nicht erzählt, daß die am fraglichen Tag bei der Chorprobe waren? Da hättest du dann sogar dein geliebtes Grieth. Hast du inzwischen die Leute vom Chor befragt?«

»Wann denn? Ich weiß sowieso nicht, wo ich anfangen soll. Eigentlich müßte ich zum Franziskusheim und mir Feuerbachs Aussage von jemand anderem bestätigen lassen, aber vorher.«

»Dann gib, in Gottes Namen, mir die Liste«, unterbrach van Appeldorn sie ungeduldig. »Ich fahre jetzt zu Reimann und höre mir an, was der für uns hat. Dann kommt der Chorleiter dran – oder irgendein anderer Sangesbruder. Und danach werde ich dem Mühlenbeck mal anständig auf seine sauberen Finger klopfen. Kommst du mit, Helmut?«

»Langsam«, bremste Toppe. »Was hast du eben von der Vergewaltigung gesagt, Walter?«

»Post aus Wiesbaden. Der eindeutige Beweis, daß Cornelia Marx die Wahrheit sagt. Wir können den Scheißkerl einbuchten. Die Chefin muß wirklich einen dicken Draht nach oben haben, sonst wäre das nicht plötzlich so ruck, zuck gegangen.«

»Übernimmst du das?« fragte Toppe. »Dürfte ja nicht allzu lange dauern.«

Heinrichs wechselte einen Blick mit Ackermann und nickte dann: »Geht klar.«

Astrid sah auf ihre Uhr. »Um zehn habe ich noch eine Vernehmung. Claras Vater kommt.«

»Was willst du denn mit dem?« fragte van Appeldorn übertrieben gedehnt, aber Astrid antwortete nicht, sah ihn nicht einmal an. Norbert war offensichtlich ziemlich geladen, und sie hatte keine Lust, den Punchingball zu spielen.

»Und was haben Sie vor, Ackermann?« Toppe war schon in seinen Mantel geschlüpft.

»Ooch, wir wollen da ma’ wat antesten.«

»Ähem, Herr Ackermann …«

»Nee, nee, keine Sorge, Chef«, sprang Ackermann auf. »Walter is’ ja dabei un’ Klaus auch, un’ dat war sowieso mehr Walters Idee.«

Werner Albers kam fünf Minuten zu früh. Er war abweisend und störrisch, genau wie die letzten beiden Male. Hauptsächlich deswegen entschied sich Astrid für die klassische Variante: Sie nahm ihn mit ins Vernehmungszimmer und schaltete das Tonband ein.

»Geht es Clara wieder besser?«

»Nein. Nach dem Rückfall gestern!«

Den Vorwurf konnte Astrid nicht überhören, aber sie wollte endlich weiterkommen.

»Warum sind Sie eigentlich so feindselig, Herr Albers? Ich erledige nur meine Arbeit. Können wir nicht einmal ganz sachlich und ruhig miteinander reden?«

Er fuhr sich mit der Hand über den Kopf und stöhnte erschöpft.

»Ich will Ihrer Tochter bestimmt nichts Böses. Ich will auch Ihren Ruf nicht schädigen, oder was immer Sie sich in den Kopf gesetzt haben.«

»Warum tun Sie es dann? Warum lassen Sie das Kind nicht einfach in Ruhe?«

»Das kann ich nicht, Herr Albers. Clara war mit Ralf Poorten zusammen, und zwar am Freitag, dem 9. Februar, abends gegen acht Uhr.«

»Blödsinn!«

Astrid verdrehte innerlich die Augen. »Also gut, fangen wir anders an: Wo war Clara am Abend des 9. Februar?«

»Da, wo sie jeden Freitag ist.« Astrid wartete einfach.

»Im Franziskusheim, bei den alten Leuten«, meinte Albers schließlich. »Von wann bis wann?«

»Von fünf bis acht, wie sonst auch.«

»Wie ist sie hin- und zurückgekommen? Fährt sie mit dem Fahrrad?«

»Im Winter?« Da war Entrüstung in seiner Stimme. »Ich soll das Kind im Dunkeln alleine fahren lassen? Nein, ich habe sie mit dem Auto gebracht.«

»Und um zwanzig Uhr haben Sie sie wieder abgeholt?«

»Nein, mein Sohn hat sie abgeholt. Ich war verhindert.«

»Richtig, Sie waren beim CDU-Ortsverband. Und Sie wissen genau, daß Ihr Sohn Clara abgeholt hat?«

»Natürlich, er hat es mir gesagt.«

»Wann und wo?«

Er verschränkte die Arme. Wie kam dieser harte Mensch zu einem Kind wie Clara?

»Als er zurückkam. Er kam zu Lambertz rüber und sagte: Das Kind ist zu Hause.«

»Um wieviel Uhr war das?«

»Weiß ich nicht, hab nicht drauf geachtet. Kann aber nicht spät gewesen sein, sonst wäre es mir aufgefallen.«

»Wo holen Sie Clara normalerweise ab. Gehen Sie ins Altenheim, oder wartet sie draußen?«

»Meistens drinnen, besonders wenn es kalt ist.«

»Kannten Sie Ralf Poorten?«

»Nein.«

»Wußten Sie, daß Clara ein Verhältnis mit ihm hatte?« Albers stand auf, stützte die Hände auf die Tischkante und beugte sich drohend vor. »Meine Tochter hat mit keinem Kerl ein Verhältnis! Und wenn ich mir noch einmal so eine schmutzige Verleumdung anhören muß, dann zeige ich Sie an.«

Astrid blieb ganz ruhig. »Setzen Sie sich, bitte. Schmutzig? Was ist daran schmutzig? Clara ist ein hübsches siebzehnjähriges Mädchen, eine junge, normale Frau.

Er ließ sich auf den Stuhl fallen und legte die Hand über die Augen. »Nein.«

»Wie gut ist Ihr Verhältnis zu Ihrer Tochter. Würde sie es Ihnen erzählen, wenn sie sich verliebt hat?«

Er sah auf einmal aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. »Sie verstehen es wirklich nicht, nicht wahr? Clara liebt Gott.« Seine Stimme war jetzt fest. »Clara lebt in ihrer Liebe, durch ihre Liebe zu Gott. Clara ist kein normales Mädchen. All diese Dinge, die Sie ansprechen, sind ihr fremd. Für mich, für uns alle, ist Clara eine Heilige, und es wird nicht mehr lange dauern, dann wissen das alle Menschen.«

Um 10.58 Uhr fand Klaus van Gemmern die Fasern.

Reimann war heute ungewohnt lebhaft. Er bot sogar Kaffee an, ging im Zimmer hin und her und saß nicht wie sonst gelassen in seinem Sessel, und er duzte sie, zumindest in der Pluralform. »Ja, ich habe was für euch. Ich habe eine Weile rumgeknobelt, aber dann wollte ich es doch lieber ganz offen machen. Hab halt mit der Stationsärztin gesprochen, dann mit dem Chef. Ihr könnt also jetzt ruhig zu Haus 50 gehen und eure Fragen stellen. Ist kein Problem mehr.«

Toppe griente. »Aber Sie können uns auch erzählen, was los ist.«

Reimann griente zurück. »Okay. Alexander Wirtz hat ein schizoaffektives Syndrom.«

»Schon klar«, nickte van Appeldorn.

»Dabei mischen sich Symptome von Schizophrenie und manisch-depressiver Psychose«, fuhr Reimann fort.

»Genau«, bestätigte van Appeldorn. »Nö, ich mein, ist wirklich alles klar jetzt.«

Reimann lachte. »Ich hätte das sowieso in Klartext gebracht, aber ihr könntet euch doch wenigstens ein kleines bißchen beeindruckt zeigen. Die Anwälte, mit denen ich hier zu tun habe, die nicken wenigstens betroffen. Na gut, ich habe selbst mit dem Jungen geredet. Der hat einen massiven Gotteswahn, der Kerl. Wirkt auf den ersten Blick völlig normal, aber wenn man dem ein bißchen Futter gibt, dann sieht er sie echt fliegen. Gott spricht zu ihm, Gott steht mitten im Zimmer, manchmal spricht Gott auch durch ihn, dann predigt er. Deswegen ist er auch eingewiesen worden. Stand morgens in der Schule plötzlich auf dem Fensterbrett und hat in den Hof runtergepredigt. Die Pauker haben recht fix reagiert und einen Arzt geholt. Ihr könnt übrigens selbst mit dem Jungen sprechen. Der Chef hat seine Zustimmung gegeben.«

»Wenn’s nicht sein muß«, meinte Toppe unbehaglich.

»Geht trotzdem mal zur Station rüber. Man hat mir nämlich erzählt, daß Alexander Wirtz ein paarmal Besuch von einem Freund gehabt hat. Und der Name des Freundes war Ralf Poorten. Könnte das für euch nicht interessant sein? Fragt nach Jupp Müller, dem Pfleger. Der hat mit Poorten gesprochen. Für die behandelnden Ärzte war eure Information über diese Seminare übrigens nicht unwichtig. Insofern wäscht eine Hand die andere. Ich meine, klar lag bei dem Jungen eine Prädisposition vor …«

Van Appeldorn stöhnte vernehmlich.

Reimann lachte wieder und setzte sich endlich hin. »Kein Mensch weiß, wie krank Alexander Wirtz vorher war. Es kann zumindest nicht auffällig gewesen sein, denn da ist nichts aktenkundig. Obwohl, bei den Familienverhältnissen, hätte es wahrscheinlich eh kein Mensch gemerkt. Wie auch immer, zumindest hat das Seminar in dieser ominösen Einrichtung einen schweren Schub bei dem Jungen ausgelöst.«

»Kann ich mal zusammenfassen?« fragte van Appeldorn. »Alexander Wirtz war sowieso schon bekloppt, aber wenn die den Firlefanz auf diesem ›ominösen‹ Seminar nicht veranstaltet hätten, dann hätte der Kerl noch wunderbar damit leben können?«

Toppe und Reimann schauten sich an und runzelten einvernehmlich die Stirn. Aber dann wurde Reimann ganz ernst. »Ich finde das wirklich sehr übel, was diese Leute da treiben. Und ich denke auch nicht daran, das so auf sich beruhen zu lassen.«

»Kein Handlungsbedarf«, antwortete van Appeldorn. »Die Staatsanwaltschaft hat sich schon eingeschaltet.«

Diesmal erwartete sie der Pfleger schon an der Stationstür und schloß sofort auf.

»Müller, guten Tag. Reimann hat mich gerade angerufen, daß Sie kommen.« Dann nahm er sie mit ins Pflegerzimmer. »Setzen Sie sich. Ist nicht gerade gemütlich hier, aber na ja. Was soll ich Ihnen denn erzählen? Der Freund vom Wirtz, dieser Poorten, war zweimal hier. Gleich zu Anfang, als Wirtz noch ganz schön in den Preisen hing. Beim zweiten Mal hat der Jung am Ende so richtig rumgehext, und das hat Poorten wohl fertiggemacht. Der stand hier auf dem Flur und hat geheult wie ein Schloßhund. Deshalb hab ich den auch mit in unser Zimmer genommen. Da hab ich dann schnell gemerkt, daß der vor Wut am heulen war. Hat immer wieder gebrüllt: Denen hänge ich was an, die mach ich fertig! Ich dachte zuerst, der meint uns.«

Toppe war bis auf die Stuhlkante vorgerutscht. »Aber das war nicht so. Wen meinte Poorten denn? Wen wollte er fertigmachen?«

»Das hab ich mir erst jetzt genau zusammengereimt, als der Reimann hier war. Poorten hat immer nur was von ›der Gemeinschaft gefaselt und, daß die schuld ist, daß Alex bei uns sitzt. Aber solche Sachen nimmt unsereins hier ja nicht ernst.«

Toppe nickte. »Mehr hat Poorten nicht gesagt?«

»Doch, doch. Der Wirtz wäre nicht der einzige, und jetzt wäre das Maß voll, und seine Schwester kennt einen beim Stern, und mit einem von der Bildzeitung hätte er schon Kontakt.«

Van Appeldorn warf Toppe einen triumphierenden Blick zu.

Christian schwänzte den Unterricht. Heute hatte er es erst gar nicht probiert, zu Clara ins Zimmer zu kommen, sondern war gleich zu seinem Fensterplatz gegangen. Die Schwägerin hatte vergeblich versucht, Clara mit Butterbrotbröckchen zu füttern. Und er hatte heiße Backen gekriegt, als Clara ihn sah. Jetzt saß er hier im Schwesternzimmer und hampelte rum wie ein Erstklässler. Dabei war die Krankenschwester echt nett zu ihm, er hatte bloß überhaupt keine Übung im Einschleimen.

»Sie ist also deine Freundin, und die Eltern finden das nicht so gut, ja?«

Er nickte, so konnte man es auch sagen. »Sie wollen nicht mal, daß ich Clara besuche. Dabei möchte ich ihr doch so gern sagen, daß ich an sie denke und daß sie schnell wieder gesund werden soll.« Mann, hörte sich das bescheuert an!

»Kann ich gut verstehen«, lächelte die nette Schwester. »Soll ich Clara von dir grüßen, wenn es keiner hört?«

»Das wäre wahnsinnig lieb von Ihnen!« Gleich wurde ihm schlecht. »Und ich dachte auch …«

»Nur raus damit!«

»Wenn ich Clara einen Brief schreiben würde, ob Sie ihn ihr geben könnten? Heimlich, meine ich.«

Sie schmunzelte. »Ich wüßte nicht, was mich daran hindern sollte.«

»Das darf aber keiner merken, sonst kriegt Clara echt Ärger.«

»Hab ich schon verstanden, kein Problem. Also, gib mir ruhig deinen Brief.«

Christian zog die Schultern zusammen. »Na ja, ich habe noch keinen geschrieben. Ich wußte doch nicht, daß Sie so verständnisvoll sind.« Das war jetzt bestimmt zu dick aufgetragen.

Aber sie wischte ihm kurz übers Haar. »Dann halt dich mal ran. Meine Kollegin von der Nachmittagsschicht ist nicht so romantisch wie ich.«

»Haben Sie denn morgen früh auch wieder Dienst?«

»Sicher, die ganze Woche bis zwei Uhr. Soll ich Clara schon mal von dir grüßen, wenn ich gleich ihr Bett mache? Heimlich, versteht sich«, zwinkerte sie verschwörerisch.

»Ja! Sagen Sie ihr, nein, ach, sagen Sie ihr nur herzliche Grüße von Christian.«

Toppe hatte sich unter einem Chorleiter immer jemanden Zierliches, Elegisches vorgestellt – warum, wußte er eigentlich nicht so genau – und er war verblüfft, als er den Hünen sah, der da in seinem Garten mit einer Kettensäge dicke Äste von den Bäumen schnitt.

Der Mann war überhaupt nicht begeistert, daß ihn die beiden Polizisten aus seiner Tätigkeit rissen. Äußerst widerwillig schaltete er den röhrenden Motor aus.

»Die Mühlenbecks!« Sein Gesicht sprach Bände, er schätzte das Paar nicht sehr. »Am 9. Februar? Ach, genau, das war der Abend. Da sind die beiden ganz früh von der Probe weg. Angeblich ging es ihr nicht so gut. Ich habe mich noch gefragt, warum sie dann überhaupt gekommen sind.«

Wieder durfte Toppe van Appeldorns Triumphgesicht über sich ergehen lassen. »Ganz früh weg«, sagte er. »Um wieviel Uhr war das genau?«

Der Riese zuckte mit den Schultern. »Gegen acht, würde ich sagen. Aber nageln Sie mich bloß nicht darauf fest.«

Astrid wollte es gar nicht glauben. Nach all dem zähen Murks hatte sie heute auf Anhieb einen Volltreffer gelandet. Frau Bauer, diese kleine, resolute Altenpflegerin, bestätigte nicht nur Feuerbachs Beobachtung, sie hatte auch noch eine ganze Menge mehr zu berichten. Zum ersten Mal in ihrem Leben war Astrid froh, daß es so geschwätzige Leute gab.

»Ich bin ja von Natur aus neugierig«, feixte Frau Bauer, und Astrid wußte gar nicht, wo sie hingucken sollte. Die Frau ließ sich auf dem Sofa, das in einer Nische der Halle stand, nieder – »sollen doch die anderen zwei mal ein bißchen rennen« – und klopfte auf den freien Platz neben sich. »Setzen Sie sich hin, dann erzähle ich Ihnen alles.«

Astrid hatte noch nicht mal ihren Block aufgeklappt, da sprudelte Frau Bauer schon los: »Die Clara, die kommt schon gut zwei Jahre zu uns, singt mit den Oldies, erzählt ihnen was, manchmal spielt sie auch Gitarre. Immer freitags. Ein herrlicher Mensch, wirklich. Nur eben schwer katholisch. Ihr Papa hat sie immer gebracht und abgeholt. Und dann letztes Jahr, das muß so im Spätsommer gewesen sein, da gucke ich eines Abends aus dem Fenster und sehe hier vor der Haustür einen Burschen mit seinem Motorrad stehen. Ich will gerade raus und fragen, was der hier zu suchen hat, da kommt Clara und sagt, sie würde den kennen – und tschüs. Dabei war es erst zwanzig vor acht. Die beiden haben dann draußen gestanden und gequatscht. Kurz bevor Papa kam, ist der Junge abgedüst. Da hab ich mir ja noch nichts gedacht. Aber die Woche drauf, da war Clara schon um halb acht so anders und gar nicht mehr bei der Sache. Man hat ja ein Auge für so was. Jedenfalls kannte ich sie so gar nicht. Und auf einmal stand dieser Bursche wieder draußen, und Clara ist dann auch nichts wie raus. Da haben die beiden dann schon weniger gequatscht, sondern mehr Händchen gehalten und sich tief in die Augen geguckt. Kennt man ja von sich selbst, ne?«

Astrid lachte über das komische Gesicht.

»Ich hab mir noch gesagt, schau an, die Clara, wer hätte das gedacht? Das ging dann noch ein-, zweimal so, jedenfalls ist sie dann eines Tages zu ihm auf die Maschine gestiegen und mit ihm weggefahren. Als Papa kam, da wurde es dann etwas ungemütlich hier. Ich persönlich hätte ja meinen Mund gehalten, aber meine Kollegin, die Sabine, das ist eine alte Quatschtüte.«

»Und was hat Albers dazu gesagt?«

»Ganz wenig. Der sah zwar aus wie Käse, Milch und Spucke, hat sich aber gehalten wie ’ne Eins.«

»Hört sich vielleicht blöd an«, meinte Astrid, »aber ich muß Sie das trotzdem fragen: Sind Sie ganz sicher, daß es sich bei dem Jungen um Ralf Poorten gehandelt hat?«

»Aber hundertpro! Feuerbach hat mir erst gestern wieder die Zeitungsfotos gezeigt. Aber Sie wollten doch wissen, was weiter gelaufen ist, oder? Da war erst mal tote Hose. Clara ist jeden Freitag hier gewesen, Papa hat sie abgeholt, und mehr war nicht. Ich bin ja bald aus den Pantinen gekippt, als dann auf einmal der Junge wieder vor der Türe stand.«

»Wann war das?«.

Frau Bauer hatte alles minutiös im Kopf. »Zum ersten Mal vor vier Wochen. Dasselbe Spiel wie im letzten Jahr. Haben sich hier zusammen im Eingang rumgedrückt, nur daß es diesmal von Anfang an ein bißchen mehr zur Sache ging. Wir verstehen uns doch, ne? Ich muß zugeben, daß ich ein bißchen gelünkert hab.« Frau Bauer war obenauf. »Und dann am Freitag vor vierzehn Tagen, da steht der Junge wieder hier, und Clara geht raus. Irgendwann will der Mensch ja mal was Genaueres wissen. Auf alle Fälle, wenn das Fenster da vorne auf Kipp steht, das linke da, dann kriegen Sie ziemlich gut mit, was vor der Tür gesprochen wird. Geschmust wird, müßte ich in dem speziellen Fall sagen. Ich weiß es noch wie heute, du merktest förmlich, wie der Junge sich fast in die Hosen gepinkelt hat, bis er es raus hatte: Meine Eltern sind heute kegeln, und meine Schwester ist auch nicht da, kommst du mit zu mir? Und wie die Clara dann ›ja‹ gesagt hat, also, das treibt mir heute noch die Gänsehaut über den Rücken. Clara, das muß man sich mal vorstellen!«

Astrid stellte es sich vor und bekam einen trockenen Mund.

»Ich finde es ganz furchtbar, daß die Geschichte so ein Ende genommen hat. Der arme Kerl, und ich möchte nicht wissen, wie es der Clara jetzt geht!«

Astrid wußte es. »Ist Clara dann mit Poorten weggefahren?«

»So schnell, wie die auf dem Moped saß, konnte keiner gucken. Hatte wohl Angst vor der eigenen Courage.«

»Und wer wollte sie dann abholen?« Frau Bauers Grinsen sah richtig gemein aus. »Das war ihr Bruder. Den hab ich sowieso gefressen, den Stiesel. Aber da war meine liebe Kollegin gottlob nicht hier, und ich hab dem bloß gesagt, Clara sei schon weg, und ich wüßte nicht, wer sie abgeholt hat. Der hat zwar blöd geguckt, ist aber weggefahren. Blieb ihm ja auch nichts anderes übrig.«

Es war genau 13.30 Uhr, als Klaus van Gemmern ins Büro kam und ihnen den Plastikbeutel mit dem leuchtendroten Faserbüschel auf den Tisch legte.

»Volltreffer!« Und tatsächlich lächelte er.