16
Helmut Toppe nahm sich eine Auszeit. Hin und wieder kam es vor, daß er keinen Menschen sehen und hören, nur mit sich selbst sein wollte. Schon am Freitag abend, als er auf Astrids aufgeregten Bericht über Haus Barbara kaum reagiert hatte, sondern sich für zwei Stunden in die Badewanne verzog, wußte sie, daß es mal wieder so weit war.
»Ach, der Herr hat mal wieder seine Tage«, meinte Gabi, und Astrid wunderte sich über die Bissigkeit.
»Laß ihn doch. Er meint es nicht böse. Manchmal braucht er das einfach.«
»Na ja, heute kann mir das ja auch egal sein. Aber früher, als die Kinder klein waren und er sowieso schon so gut wie nie zu Hause war, als ich ihn gebraucht habe, da ist mir das verdammt an die Nieren gegangen.«
So verlief der Samstag sehr ruhig. Aus Toppes Zimmer hörte man den ganzen Tag lang leise Musik, zweimal kam er kurz raus, um sich in der Küche ein Brot zu machen und was zu trinken zu holen. Astrid schlief lange und frühstückte dann ausgiebig mit Gabi und Oliver. Sie legten ein kleines italienisches Menü für die Einweihung fest, delikat aber nicht zu feudal, vor allem nicht zu teuer; ihr Budget würde auch in den nächsten Monaten noch reichlich knapp sein. Später schrieb Astrid ihren Bericht über die Leute, die das reine Herz anbeteten, einen sehr ausführlichen Bericht, weil es ihr Spaß machte. Am Nachmittag fühlte sie sich gut genug für den überfälligen Pflichtbesuch bei ihren Eltern. Schließlich konnte sie nicht ewig die Eingeschnappte spielen.
Sie erwischte genau den richtigen Tag. Ihre Eltern hatten vormittags einen »kleinen Empfang« gegeben, »nur für die engsten Freunde«, »ein erfolgreicher Geschäftsabschluß«, und ihr Vater war in Sektlaune. Es fiel keine einzige Bemerkung über ihren »alternden Galan« oder ihren Lebenswandel im allgemeinen.
Als sie gegen sieben zurückkam, war sie mit zwei sperrigen Kartons bepackt: die Reste vom Kalten Büffet.
Sie stellte die Last in der Küche ab und überlegte. Dann holte sie leise vor sich hin summend den Klapptisch aus der Kammer und baute ihn unter dem Kronleuchter auf. Eine weiße Tischdecke, der fünfarmige Kerzenleuchter, Geschirr und Besteck, Lachs, Forellen, zwei verschiedene Pasteten, ein halber Truthahn, Salat, Käse, Cassiscreme, zwei Flaschen Champagner. Sie trat einen Schritt zurück und nickte zufrieden. Dann klopfte sie an Helmuts Tür und lugte um die Ecke. Er saß im Sessel und las. »Hast du Hunger? Ich hab uns was zu essen gemacht.« Er sah auf. »Wie ein Bär! Wo hast du gesteckt?"
»Ich war bei meinen Eltern.« Sie nahm seine Hand und zog ihn aus dem Sessel. »Hast du mich vermißt?«
Er nahm sie in die Arme und vergrub sein Gesicht in ihrem Haar. »Ja.«
»Sehr gut. Und jetzt komm.«
Auch der Sonntag hätte geruhsam werden können, wenn Ackermann nicht so schrecklich neugierig gewesen wäre.
Für das, was er zu sagen hatte, hätte ein Anruf genügt, aber gab es eine bessere Gelegenheit, endlich diese exotische Wohngemeinschaft in Augenschein zu nehmen? Er hatte Glück und fand tatsächlich die ganze Truppe einträchtig beim Frühstück versammelt, als er gegen elf Uhr frohgemut hereinpolterte, seine drei Töchter im Schlepptau.
»Dat sind meine Mädkes, Nadine, Jeanette und Joke. Ich mußte die Bagage heute mitnehmen. Die Mutti fand dat doch nich’ so mit Amsterdam«, erklärte er mit schiefem Blick auf Toppe. »Aber man hat se ja gern um sich.«
Toppe hatte die Ackermannschen Töchter seit Jahren nicht gesehen, und er konnte sich gerade noch den Klassiker mit dem »groß geworden« verkneifen. Die beiden jüngeren, Jeanette und Joke kamen auf ihre Mutter, beides kompakte Mädchen mit stämmigen Beinen, beide leider wie die Mutter mit einer Schwäche für pastellfarbene Kleidchen. Nadine mußte inzwischen fünfzehn sein. Auch sie war groß und nicht gerade schlank, aber ansonsten fiel sie gehörig aus dem Familienrahmen: eine Punklady in schwarzem Mini und schweren Stiefeln. Die grünen Haarbüschel, der schwarze Lippenstift, die kalkweiße Schminke und die gepiercten Brauen, all das wirkte zusammen mit ihrem runden, braven Gesicht völlig schräg.
»Hej, da is’ ja auch Oliver!« rief Ackermann und ließ sich auf die Eckbank plumpsen. »Seht ihr, ich hab euch doch gesacht, der Chef hat auch Kinder. Schad, dat der Christian nich’ da is’, wat Nadine?« Dann stupste er die beiden Kleinen an. »Ihr habt doch sicher Lust, wat zu spielen. Vielleicht hat der Olli ja ’n Computer. Oder wie is’ et, Jung?«
Olivers Ohren wurden noch heißer, und er warf seiner Mutter einen verzweifelten Blick zu, aber die nickte nur eindringlich.
»Ja, okay«, fügte sich der Junge in sein Schicksal. »Kommt mit nach oben.«
Nadine quetschte sich neben ihren Vater auf die Bank. »Ich bleib hier.«
Ackermann grinste stolz und knuffte sie. »Alter Papa Poot!«
Dann blinzelte er Gabi zu. »Nee, Frau Toppe, dat wir uns noch ma’ wiedersehen, dat hätt ich so ohne weiteres nich’ gedacht. Ich mein, nach de Scheidung. Oder heißen Sie ga’ nich’ mehr Toppe?«
»Doch.« Gabi lächelte. »Den Namen hab ich behalten.«
»Un’ nich’ nur dat«, lachte Ackermann. »Aber is’ schon klar. Macht man doch schon wegen de Blagen, dat mit dem Namen.«
Jetzt endlich blieb sein Blick bei Peter Keller hängen, der ihn schon die ganze Zeit anstarrte. »Ach so, ja, ’tschuldigung«, streckte Ackermann die Hand über den Tisch. »Ich glaub, wir kennen uns no’ nich’.«
»Nein«, räusperte sich Keller, »daran würde ich mich erinnern.«
»Josef Ackermann aus Kranenburg. Aber Ackermann genügt. Man kann et auch unnötig kompliziert machen, sach ich immer.« Dann zwinkerte er Gabi verschwörerisch zu. »Der neue Herzbube? Sie hatten immer schon ’n erlesenen Geschmack. Kriegt unsereins denn jetz’ ma’ dat ganze Anwesen zu sehen?«
Astrid und Toppe erbarmten sich. Ackermann inspizierte sogar den Hühnerstall und war von allem ausführlich begeistert. »Da habt er sicher viel selbs’ gemacht, wa?« Sein Blick blieb an den Löchern in der Decke der Halle hängen und wanderte dann die Elektroleitungen entlang, die zwar schon in Schlitzen lagen, aber noch nicht verputzt waren.
»Ziemlich viel«, antwortete Toppe, »aber manche Sachen kriegen wir noch nicht so hin.«
»Verputzen is’ nich’ so leicht. Ich hätt da aber einen anne Hand. Soll ich den ma’ fragen?"
»Das wäre nett.«
Nadine schlorrte hinter ihnen her und sagte kein Wort. »Hör ma’, Alte«, nahm Ackermann sie zur Seite, als sie den Rundgang in Toppes Zimmer beendeten, »ich muß jetz’ kurz wat Berufliches besprechen. Mach dich ma’ für ’n Moment vom Acker, Süße.«
Nadine schlug die kohlschwarz umrandeten Augen nieder und seufzte leise. Aber dann hob sie grüßend die Hand in die Runde. »Ich warte im Auto, Jupp.«
Auch Astrid ließ Toppe und Ackermann allein. »Helmut kann mir später alles erzählen. Ich bin heute morgen mit dem Abwasch dran.«
»Mann, stark. Wie inne echte Kommune!« murmelte Ackermann ehrfürchtig, und dann erzählte er, daß die Alibis der Brüder Roeloffs absolut wasserdicht waren. »Bei dem Franz war mir dat von Anfang an klar, aber dem alten Ganoven können wir auch nix. Ich mein, klar könnt et sein, der hat sich ’n Schlägertrupp gekauft, aber glauben Sie an so wat, Chef? Aber Amsterdam, my fress, dat war vielleicht ’n geiler Schuppen! Un’ dat dollste is’, ich hätt da echt Chancen gehabt. Ich glaub, ich hätt da no’ nich’ ma’ groß blechen müssen. Aber wat macht Ackermann?«
Toppe lachte. »Ich kann’s mir vorstellen."
»Ganz richtich, Chef, Ackermann bleibt sauber. Ackermann denkt anne Familie, schon wegen Krankheiten un’ so, aber auch wegen de Moral. Wenn man fünf Jahre Messe gedient hat, dat bleibt einem ja au’ nich’ so einfach inne Klamotten hängen. Aber wat hat Ackermann dann gemacht?«
»Keine Ahnung.«
»Wie er nach Hause kommt, lädt er die Mutti auf ’n Bierken ein, wa? Schräges Gewissen wegen de unkeuschen Gedanken un’ so. Un’ im besoffenen Kopp geht der Idiot hin un’ verklickert die Mutti, wat er all für Chancen gehabt hat bei de heißen Weiber. Da könnt ich aber wat verspannen, sach ich Ihnen! Da lief aber ga’ nix mehr mit draußen Appetit holen un’ zu Hause essen. Hat sich die neue Chefin ei’ntlich noch ma’ wieder gemeldet?«
»Und ihr seid euch da vollkommen sicher?«
»Absolut!« bekräftigte Heinrichs, und er durfte wirklich stolz sein.
Sie standen vor den verschiedenen Karten, Tabellen und Berechnungen, die er aufgehängt und ausgebreitet hatte. Lange vor den anderen war er im Büro gewesen, um alles vorzubereiten. Am liebsten hätte er Schneider dabei gehabt, aber der hatte schmunzelnd abgewinkt. »Ich hab schon genug um die Ohren. Außerdem bist du inzwischen selbst Experte.«
Das Prachtstück war eine Karte des Rheinabschnitts zwischen Wisselward und Dornick, die Heinrichs in der letzten Nacht noch eigenhändig gezeichnet hatte und auf der alle entscheidenden Informationen zusammengefaßt waren.
Auch Ackermann stand da, sprachlos vor lauter Bewunderung. Er war einfach seinem sechsten Sinn gefolgt, der ihm meist zuverlässig mitteilte, wo im Präsidium gerade was los war.
»Man muß Poorten also zwischen Stromkilometer 843 und 848 in den Fluß geworfen haben«, erklärte Heinrichs weiter. »Das heißt, irgendwo zwischen Entenbusch und Elendshof. Alles andere können wir sicher ausschließen.« Auf einer zweiten Karte zeigte er ihnen die Strömungsverhältnisse in den verschiedenen Abschnitten des Rheins, die Windungen, das Rheinknie zwischen Rees und Reeser Schanz.
»Bonhoeffer schreibt in seinem Bericht, daß der Leichnam zwei bis drei Stunden an der Wasseroberfläche getrieben ist. Danach ist er abgesunken und für achtundvierzig bis maximal sechzig Stunden in weniger als fünf Metern Tiefe unter Wasser geblieben. Nach unseren Berechnungen kann das nur hier gewesen sein, im Dornicker Grund. Es paßt alles haargenau zusammen.«
»Dann fällt Nierdermörmter also flach«, murmelte Toppe »Ja«, sagte Heinrichs, »und ich glaube, ein größeres Schiff können wir auch ausschließen, sonst hätte man das Motorrad mit versenkt.«
»Und Helmut sagt, an der Reeser Schanz kann kein Schiff anlegen«, überlegte Astrid. »Dann ist das Motorrad auf dem Landweg dorthin gebracht worden. Aber warum erst jetzt, und vor allem warum ausgerechnet nach Niedermörmter?«
»Also, dat liegt doch auffer Hand«, mischte sich Ackermann ein. »Um den Verdacht auf Roeloffs zu lenken, oder?«
»Moment!« griff Heinrichs ein. »Ich bin doch noch gar nicht fertig. Schneider sagt, man muß die Leiche auf jeden Fall mit einem Motorboot transportiert haben, allenfalls mit einem Segelboot, aber das ist ziemlich unwahrscheinlich. Mit einem Ruderboot jedenfalls kommt man kaum bis zur Flußmitte bei der Strömung da. Wäre auch viel zu gefährlich im Dunkeln, denn auch nachts ist der Verkehr auf diesem Rheinabschnitt ganz schön dicht.«
Toppe setzte sich erst einmal hin und zündete sich eine Zigarette an. Auch Ackermann holte sein Tabakpäckchen raus. »Jetz’ wird et Zeit, die kleinen grauen Zellen in ’t Spiel zu bringen«, nuschelte er, mit dem Blättchen zwischen den Lippen.
»Sind nicht alle Motorboote irgendwo registriert?« fragte Astrid.
»Klar!« Ackermann war schneller als Heinrichs. »Beim Wasser- und Schiffahrtsamt in Duisburg.«
»Ganz genau, Ackermann.« Heinrichs setzte sich auch endlich. »Man müßte sich von denen eine Liste besorgen von allen Motorbooten, die zwischen Kilometer 843 und 848 liegen.«
»Und dann jedes einzelne auf Spuren untersuchen?«
Toppe runzelte die Stirn. »Mit nur einem Mann beim ED in absehbarer Zukunft?«
»Ich weiß et nich’.« Ackermann sinnierte. »Ich denk, man müßte sich dat alles ma’ in Ruhe vor Ort bekucken.«
»Meinst du, auf die Idee wäre ich noch nicht gekommen? Das würde ich wahrhaftig gern tun«, gab Heinrichs gekränkt zurück. »Aber unsereins.« Dann unterbrach er sich und sah elegisch aus dem Fenster.
»Kacke!« Ackermann sprang auf die Füße. »Ich muß machen, dat ich in meine Abteilung komm. War sowieso schon Zoff. Versprechen kann ich euch nix, aber wenn ich ma’ Leerlauf hab zwischendurch, da könnt ich ja ma’ in der Ecke ’n bisken rumgurken. Würd sich vielleicht auch nich’ schlecht als Familienausflug machen, weil, na, Sie wissen ja Bescheid, Chef.«
Heute abend war das Griether Pfarrheim nicht geschlossen. Ein Lederpolster zwischen den Drückern hielt die Haustür offen. Im Flur war es warm. Man hörte Stimmengemurmel, und oben spielte jemand Gitarre, aber zu sehen war kein Mensch. Toppe und Astrid betrachteten die Plakate an den Wänden: Keine Macht den Drogen, Come follow Jesus – to Dresden – Christival 96 und ein gelbes Poster mit einer Lilie in der Mitte: Wahre Liebe wartet – du bist es mir wert. An den unteren Rand hatte jemand T-Shirts im Pfarrbüro, auch im Original, 30 DM geschrieben.
Astrid faßte Toppes Hand. »Offenbar wartet sie doch nicht immer«, flüsterte sie. Die Tür mit der Aufschrift Büro stand halb offen und gab den Blick frei auf ein heftig knutschendes Paar.
»Das beruhigt mich sehr«, antwortete Toppe laut, und die beiden stoben auseinander.
Das Mädchen war flammrot geworden, fand aber als erste die Fassung wieder. »Guten Abend.«
»Guten Abend«, meinte Toppe munter. »Wir suchen den Kaplan.«
»Ich glaub, der ist oben beim Billard«, haspelte der Junge und war schon an ihm vorbei. »Ich geh ihn holen.«
»Warte doch, ich komme mit«, lief das Mädchen hinter ihm her.
Der Kaplan sah aus wie achtzehn und hatte wenig von einem Geistlichen an sich. »Hallo, ich bin der Stefan. Sie suchen mich?«
Toppe erklärte ihm, um was es ging. Traurig fuhr sich der Kaplan durch die langen, schwarzen Locken. »Natürlich helfen wir Ihnen, wenn wir irgend können. Sehr viele sind wir heute nicht. Am besten, ich trommele alle im großen Gruppenraum zusammen. Gehen Sie doch schon mal hinein. Das Zimmer da vorne neben dem Büro.«
Hinter ihnen klappte eine Tür. Sie sahen einen großen Jungen, der sich hastig den Schal umwickelte.
»Christian?«
»Tach, Vater. Ich muß weg.« Er riß die Jacke vom Haken und war schon draußen.
Es waren zehn Jugendliche, die sich leise um den großen Tisch gruppierten und die beiden Leute von der Kripo aufmerksam musterten. Drei von ihnen waren auch auf der Beerdigung gewesen. Stefan stellte sie der Reihe nach vor. Das Liebespaar, Sebastian und Meike, saß nebeneinander. Clara Albers war nicht dabei. Ganz normale junge Leute, dachte Astrid, ein bißchen brav in ihrer Kleidung vielleicht.
Brav waren auch ihre Antworten: Alle hatten sie Ralf Poorten gern gemocht, alle fanden ihn »unheimlich nett«.
»Wie lange kannten Sie ihn schon?« fragte Toppe.
Sie sahen sich gegenseitig an, zuckten die Achseln.
»Das müssen ungefähr zwei Jahre sein«, meinte Stefan.
»Stimmt«, erinnerte sich der Junge, den der Kaplan als Jan vorgestellt hatte. »Wir haben ihn doch damals beim Seminar kennengelernt und ihn hinterher eingeladen.«
»Beim Seminar im Haus Barbara?« wollte Astrid wissen.
Jan nickte nur.
»War einer von euch bei den Exerzitien am letzten Wochenende?«
»Bloß ich«, rief Sebastian.
»Und? Hat es dir gefallen?«
Er guckte verunsichert, lächelte dann. »Es war super.«
»Hatte Ralf sich auch angemeldet?«
»Nö.«
Sie verschwiegen etwas.
Stefan mischte sich wieder ein. »Ralf ging schon seit einer Weile nicht mehr zu den Seminaren. Seine Schwester hatte ihm wohl ins Ohr geblasen, das sei alles nur Beutelschneiderei.«
Astrid schluckte die nächste Frage runter, aber Toppe füllte die Pause. »War Ralf Poorten am vorletzten Freitag, an dem Tag, als er starb, hier im Jugendheim?«
Alle schüttelten den Kopf.
»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«
»Am Donnerstag abend«, sagte Stefan.
»Und ist Ihnen da irgendwas an ihm aufgefallen? War Ralf in der letzten Zeit verändert, hatte er Angst?«
»Nein.« Der Kaplan legte beide Hände flach auf den Tisch. »Wir haben gerade eben noch darüber gesprochen. Christian … Toppe …« Er stutzte plötzlich.
»Ja«, sagte Toppe, »das ist mein Sohn.«
»Christian hat uns erzählt, daß Ralf vor seinem Tod mißhandelt worden ist. Und keiner von uns konnte sich das vorstellen. Der konnte keiner Fliege was zuleide tun.«
»Aber Ralf wollte an dem Freitag kommen, das weiß ich genau«, unterbrach ihn Jan. »Er hatte mir ein paar Motorradprospekte versprochen.«
»Kennen Sie andere Freunde oder Bekannte von Ralf Poorten?«
»Nein, ich glaube, der hatte nur uns«, antwortete Meike. »Und mit seiner Schwester hat er sich wohl ganz gut verstanden. Jedenfalls hat er manchmal von der erzählt.«
»Clara Albers«, fiel es Astrid ein. »Das war doch Ralfs Freundin, nicht wahr?«
Natalie kicherte. Selbst Stefan schmunzelte. »In der Art, die Sie jetzt wahrscheinlich im Sinn haben, ganz sicher nicht«, sagte er.
Astrid und Toppe wechselten einen befremdeten Blick. »Ist das so abwegig?« fragte sie.
»Völlig«, antwortete der Kaplan bestimmt.
Natalie lachte laut auf. »Clara!« schüttelte sie den Kopf.
»Weil wahre Liebe wartet?« fragte Toppe und sah sie der Reihe nach an. Meike senkte prompt den Blick.
»Nein«, meinte Stefan. »Das muß jeder für sich selbst entscheiden.«
Astrid hatte das Kreuz neben der Tür schon beim Reinkommen bemerkt. »Ich habe noch eine Frage. Was ist das eigentlich für ein Kreuz da oben? Es ist ziemlich ungewöhnlich, finde ich, und in letzter Zeit begegnet es mir auf Schritt und Tritt.«
Jetzt tauschten die Jugendlichen befremdete Blicke.
»Das Clarakreuz?« meinte Stefan ungläubig. »Das kennen Sie nicht?«
Und dann erzählte er ihnen die wundersame Geschichte: Clara, das jüngste Kind der Bauersleute Albers, hatte im Alter von sechs Jahren ein besonderes Erlebnis gehabt. Ihr ältester Bruder, der mit seiner Frau ebenfalls auf dem Hof lebte, war soeben Vater geworden, aber das Baby war schwer krank, und die Ärzte hatten es aufgegeben. An einem stürmischen Abend im März 1986 stand Clara, wie sie es oft tat, draußen auf dem Deich und betete um ihren kleinen Neffen. Und da erschien ihr die Jungfrau Maria und sprach zu ihr. Clara drehte sich um, ging ins Haus zurück, geradewegs zum Bettchen des Kindes. Sie nahm er heraus, badete es, wickelte es in ein Leintuch, bettete es in ihren Schoß und legte beide Hände auf das Köpfchen. Die Eltern ließen Clara gewähren, sie spürten die Kraft, die von ihr ausging. So saß sie mit dem Kinde bis zum Morgengrauen. Am nächsten Tag war der kleine Knabe gesund.
Im Gruppenraum war es andächtig still. »Clara hat heilende Hände«, endete Stefan. »Die Gläubigen kommen zu ihr mit ihren Schmerzen, wenn sie die Hoffnung verloren haben.«
Astrid war wie erschlagen. »Und das Kreuz?« fragte sie matt.
»Ach ja, entschuldigen Sie. Danach hatten Sie ja gefragt. Claras Vater und ihre Brüder haben damals auf dem Deich an der besagten Stelle eine kleine Kapelle errichtet. Das Kreuz haben sie selbst geschnitzt. Es steht gleich hinter dem Albershof. Jeder könnte es Ihnen zeigen. Wir haben viele Pilger.«
»Aber Clara gehört auch zu Ihrem Jugendkreis«, sagte Toppe.
Alle nickten wieder.
»Sie hat natürlich nicht immer so viel Zeit wie wir«, erklärte Natalie.
»Da kommen öfter mal Leute zu ihr«, bestätigte Sebastian, »und sie ist auch viel in Altenheimen.«
»Und heilt?« sah Astrid ihn groß an.
Er lachte. »Weiß ich nicht. Ich glaube, sie verbreitet einfach Freude.«
»Und Liebe«, sagte Meike sanft. »Clara ist so … na ja, eben Clara. Sie liebt einfach jeden Menschen, und sie hat immer gute Laune.«
Toppe und Astrid standen unter der Straßenlaterne vor dem Pfarrheim und sahen sich an.
»Ich hab zuerst gedacht, der wollte uns verscheißern, als der mit der Erscheinung anfing«, wunderte sich Astrid immer noch.
»Nee, nee, das meinte der schon ganz ernst.« Toppe rieb sich die Stirn. »Ich glaube, damit hatte ich damals die größten Probleme, heilende Hände, dieser ganze Heiligenrummel, manche sind gleicher als die anderen, all das.«
»Damals? Was hattest du denn damit zu tun? Ich dachte, du warst evangelisch und bist dann aus der Kirche ausgetreten.«
»Ja, schon, aber zwischendurch war ich auch mal katholisch, ich bin konvertiert.«
Sie fand erst mal keine Worte. »Wieso?«
»Na ja«, meinte er. »Gabi war das schrecklich wichtig. Für sie kam nur eine katholische Hochzeit in Frage, und mir war’s im Grunde egal. Ich war nie religiös gewesen, und Kirche war für mich gleich Kirche. Später ist mir das dann alles auf den Geist gegangen, und heute denke ich manchmal, daß Gabi und ich uns oft einfach auch nicht verstanden haben, weil wir aus verschiedenen Ställen kamen, einfach nicht wußten, was der andere eigentlich meinte oder empfand.«
»Hm.« Astrid sah an ihm vorbei. »Mir ist zu kalt zum Nachdenken. Gehen wir uns jetzt das Kreuz angucken?«
»Nein.«
»Und wir müssen auch unbedingt mit Clara sprechen. Die können uns doch viel erzählen!«
»Morgen«, sagte Toppe, legte ihr den Arm um die Schultern und ging mit ihr zum Auto. »Hast du mal auf die Uhr geguckt?«
»Ja, und? Sonst ist dir das doch auch egal.«
»Das war mir egal. Ich habe am Wochenende viel nachgedacht. Ich hab einfach keine Lust mehr, dauernd im Dienst zu sein. Ralf Poorten bleibt immer gleich tot, ob wir seinen Mörder nun morgen, übermorgen oder nächsten Monat finden. Vielleicht finden wir ihn auch überhaupt nicht.«
Sie blieb stehen und legte ihre Hand auf seine Wange. »Hee, was ist los?«
»Gar nichts«, lächelte er in ihre Augen. »Ich will mich einfach nur nicht mehr ständig verantwortlich fühlen, ständig unter Druck. Und deshalb gehen wir beide jetzt in Ruhe was essen und lassen Arbeit Arbeit sein.«