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»Aber Zeit zum Essen habt ihr doch wohl noch«, maulte Gabi. »Ich meine, wenn ich schon stundenlang Salat schnippele …«
Toppe schickte Astrid einen unglücklichen Blick. Er hätte die Sache gerne schnell hinter sich gebracht. Aber Astrid nickte Gabi zu. »Ich hab schrecklichen Hunger.«
»Kinder, Essen!« brüllte Gabi nach oben.
Oliver kam in einer viel zu weiten Latzhose, offene Baseballschuhe an den nackten Füßen, die Treppe runtergepoltert und fegte in die Küche. »Igitt, Nudelsalat«, kiekste er, schnappte sich drei Scheiben Gouda vom Teller und war schon wieder zur Tür hinaus. »Hab keinen Hunger!«
»Junger Mann«, rief Toppe ihm hinterher, wußte aber, daß es zwecklos war – Oliver litt schon seit einer Weile unter plötzlich auftretenden Hörstörungen.
Christian war heute abend ungewohnt freundlich. Nicht nur, daß er auf Fragen in ganzen Sätzen antwortete, er lobte auch den köstlichen Salat, schenkte nicht nur sich selbst, sondern auch den anderen Milch nach und bedauerte seinen Vater und Astrid, daß sie doch tatsächlich immer noch nicht Feierabend machen konnten. »Ich finde das echt stark, wie ihr so was wegsteckt. Keine Klagen oder so. Übrigens, kann mir einer hundert Mark leihen?«
Astrid kicherte leise – prima Vorarbeit.
»Schon wieder?« meinte Gabi stirnrunzelnd.
Toppe schob seinen Teller weg. »Wieso suchst du dir nicht endlich einen Job? Wir können uns das Geld schließlich auch nicht aus den Rippen schneiden.«
»Und wo soll ich die Zeit dafür hernehmen?« schnippte Christian zurück.
»Du könntest zum Beispiel aufhören, dich für lau in diesem Altenheim ausbeuten zu lassen. Dann hättest du mehr als genug Zeit.«
Gabi schnappte nach Luft. »Also ehrlich, Helmut! Du kannst doch wirklich froh sein, daß der Junge.«
»Quatsch! Mir ist dieser plötzliche Sozialtick sowieso schleierhaft. Du bist fast volljährig, mein Sohn, und wenn du Extrageld brauchst, dann verdiene es dir gefälligst. Ich mußte schon mit vierzehn.«
»Oh, bitte, Vater«, hob Christian dramatisch die Hände, »nicht wieder die Leier mit dem Zeitungsaustragen!«
»Wozu brauchst du das Geld eigentlich?« fragte Gabi.
Christian schob sich eine Gabel Nudelsalat in den Mund und kaute erst mal. »Ich habe mich da für ein Seminar am kommenden Wochenende angemeldet.«
»Wo?«
»Haus Barbara, unten am Breijpott.«
»Ach so!« Gabi lächelte.
Astrid zündete sich eine Zigarette an, schob Toppe die Schachtel rüber und ging zur Anrichte, um einen Aschenbecher zu holen. »Haus Barbara? Hab ich noch nie gehört. Was ist denn das für ein Seminar?«
»Exerzitien«, antwortete Christian scharf.
Astrid verschluckte sich am Rauch. »Exerzitien?« hustete sie. »Du meinst, so was Katholisches?«
»Genau.« Christian sah ihr hart ins Gesicht.
Astrid schüttelte ungläubig den Kopf. »Was hat dich denn gebissen? Du hattest doch noch nie was mit Kirche am Hut.« Dann lachte sie. »Komm, du nimmst mich auf den Arm!«
»Keineswegs! Und im übrigen glaube ich nicht, daß ich dir Rechenschaft schuldig bin.«
Astrid überhörte den Satz. »Oder ist das ’ne Sekte?«
»Nein«, schnauzte Christian, »es ist keine Sekte. Und es geht dich, verdammt noch mal, nichts an!«
»Das finde ich auch«, sagte Gabi.
Astrid zuckte zusammen, holte tief Luft und stand dann auf. »In Ordnung. Ich hole meine Jacke. Bist du dann auch fertig, Helmut?«
Toppe wußte nicht, gegen wen er seine Wut richten sollte.
Gabi schob ihren Stuhl zurück und folgte Astrid in die Halle. »Hör zu, ich hab das nicht so gemeint.«
Astrid drehte sich zu ihr um. »Doch Gabi, ich glaube, das hast du so gemeint. Und du hast ja wohl auch recht.«
»Komm, hör doch auf.« Gabi legte ihr die Hände auf die Schultern. »Es ist doch nur, weil ich wirklich froh bin, daß der Junge endlich von der schiefen Bahn runter ist und was Anständiges macht.«
Astrid verzog skeptisch den Mund. »Was Anständiges? Na, das ist noch die Frage.«
Aber dann nahm sie Gabi in den Arm. »Komm, laß uns nicht streiten. Wir reden noch mal drüber.«
»Fahr nicht so schnell, es ist spiegelglatt«, meinte Toppe, als sie den hart gefrorenen Feldweg entlang schaukelten.
»Wirklich, Helmut«, lachte Astrid, »manchmal führst du dich auf wie der letzte Macho.«
Er antwortete nicht, war schon mit seinen Gedanken in Griethausen.
»Bei Unfällen kommt es doch auch schon mal zu Milzrissen«, meinte sie nach einer Weile. »Stumpfer Aufprall.«
Er nickte. »Und?«
»Ach, ich frage mich nur, wieso Norbert so sicher sein kann, daß der Junge mißhandelt worden ist. Er könnte doch auch nur einen schweren Unfall mit seinem Motorrad gehabt haben, irgendwo am Rhein.«
»Dann hätte aber eigentlich mittlerweile das Motorrad auftauchen müssen.«
»Norbert hat nichts davon erzählt, wie lange der Junge im Wasser gewesen ist. Angenommen, es ist erst gestern abend passiert, an irgendeiner abgelegenen Stelle. Da gibt’s doch Hunderte von Wegen am Rhein, wo tagelang kein Mensch hinkommt.«
»Hm, aber Arend hat auch was von Fußtritten gesagt.«
»Mutmaßlich Fußtritte. Vielleicht ist er gegen ein Geländer geprallt und dann auf die spitzen Steinbrocken am Ufer. Das könnte doch die gleichen Male hervorrufen.«
»Arend ist normalerweise eigentlich nicht vorschnell mit seinen Interpretationen. Laß uns seinen Bericht abwarten, dann wissen wir mehr. Mir wäre es wahrhaftig lieber, wenn es nur ein Unfall gewesen wäre.«
»Oder er ist doch von der Brücke gesprungen und mehrfach aufgeschlagen.«
»Und das Motorrad?«
»Das hat er irgendwo im Gebüsch abgestellt.«
Toppe sagte nichts mehr.
»Ist schon in Ordnung«, meinte sie. »Ich frage mich halt nur, was wir den Eltern erzählen sollen.«
Menschen reagierten verschieden auf Schreckensnachrichten, das hatte Toppe oft genug erlebt. Einige brachen laut zusammen, andere fielen in dumpfe Apathie, viele verhielten sich so wie diese beiden: sie waren zunächst sprachlos, funktionierten aber dann wie Automaten. Der Zusammenbruch, erst recht die Trauer würden später kommen, wenn die Polizei wieder aus dem Haus war.
Sie hatten das Ehepaar offensichtlich aus einem gemütlichen Fernsehabend gerissen. Der Apparat lief noch mit voller Lautstärke – eine grelle Glitzershow.
Wolfgang Poorten trug einen verwaschenen Trainingsanzug und braune Cordschlappen. Er saß vornübergebeugt im Sessel, die Ellbogen auf den Oberschenkeln, die Hände fest verschränkt. Er war noch nicht alt, Ende Vierzig vielleicht, aber man sah ihm an, daß er sein Leben lang körperlich gearbeitet hatte.
»Ich hab mir den Toten nicht angeguckt«, sagte er so leise, daß Toppe ihn kaum verstehen konnte.
»Was meinen Sie?« fragte er.
Der Mann hob den Kopf. Eine schwarze Haarsträhne fiel ihm ins Gesicht. Er strich sie fahrig zurück. »Ich arbeite auf den Öl werken. Ich hab das mitgekriegt, heute morgen.«
»Mein Gott«, raunte Astrid.
Die Frau saß auf der Sofakante und hielt die Jacke ihres Sohnes auf dem Schoß fest. Sie waren beide sicher, daß die Kleider ihrem Kind gehörten.
Astrid stand auf und schaltete den Fernseher aus. Die Frau schaute irritiert hoch. Sie war zierlich, mit einem herzförmigen Gesicht und kurzen braunen Locken. Adrett, hätte Heinrichs gesagt und »grundanständige Menschen«.
»Wie ist es passiert?« Die Mutter suchte einen Anfang.
»So ganz genau wissen wir das noch nicht«, antwortete Toppe. »Morgen können wir Ihnen mehr sagen, Frau Poorten. Wann haben Sie Ihren Sohn zuletzt gesehen?«
»Am Freitag nachmittag. Er hat noch mit uns Kaffee getrunken, wie er von der Arbeit kam. Dann ist er duschen gegangen, und dann war er in seinem Zimmer. Ich habe seinen Fernseher laufen hören.« Ihre Stimme verlor sich.
»Meine Frau und ich haben freitags Kegeln«, kam ihr Mann zu Hilfe. »Wir sind um halb acht gegangen.«
»Ralf muß kurz nach uns weg sein«, erinnerte sich die Mutter. »Ich hatte ihm Schnittchen gemacht, aber die standen noch auf dem Küchentisch, als wir nach Hause gekommen sind.«
»Wann war das?«
»So zwölf, halb eins.«
»Haben Sie noch mehr Kinder?« fragte Astrid. »Oder wohnt noch irgend jemand mit Ihnen hier, der Ralf gesehen haben könnte?«
Wolfgang Poorten schüttelte den Kopf. »Wir haben noch eine Tochter. Aber die war Freitag gar nicht zu Hause. Die geht in Kleve aufs Gymnasium, die Sigrid, und wenn die am Wochenende was vorhat, dann bleibt sie schon mal über Nacht bei ihrer Freundin.« Er verzog das Gesicht. »Aber die wußte auch nicht, daß Ralf irgendwohin wollte. Wir haben auch alle Nachbarn gefragt, ob die ihn noch gesehen haben, aber … nix.«
»Mir hat er gesagt, er wollte sich einen ruhigen Abend machen«, flüsterte die Mutter.
»Bleibt Ihr Sohn öfter über Nacht weg?«
»Nein, einfach so hat er das noch nie getan.«
»Er ist ein guter Junge«, sagte der Vater.
»Was hat er beruflich gemacht?« fragte Toppe.
»Er ist Bootsbauer. gewesen. Im letzten Lehrjahr, bei Roeloffs in Niedermörmter. Da hab ich auch schon angerufen. Die wußten von nix.«
»Könnte er sich mit Freunden getroffen haben?«
»Ja, sicher, vielleicht, aber ich kann nicht sagen.«
»Unsere Tochter«, unterbrach ihn seine Frau, »die weiß besser, mit wem Ralf so zusammenkam.«
»Sie ist nicht zu Hause?«
»Nein, die hat heute abend Segelkurs.«
Toppe schälte sich umständlich aus seinem Parka. Das Zimmer war überheizt, und die Wärme vernebelte ihm den Kopf.
»Können Sie uns das Motorrad beschreiben?«
Wolfgang Poortens Augen blitzten kurz auf. »Es ist eine alte R 25, ein einmaliges Stück. Super gepflegt. Hat Ralf von seinem Opa geerbt, der Vater von meiner Frau. Ist selbst schon tot. Der Junge hat die Maschine gehütet wie seinen Augapfel und ist auch immer sehr vorsichtig gefahren. Deshalb kann ich auch nicht verstehen, wie.«
Die Frau schluchzte auf.
»Na ja«, meinte Astrid, »das Wetter im Moment.«
»War Ihr Sohn vielleicht in einem Motorradclub?« fragte Toppe. »Ich meine, ich hätte mal gehört, daß es so was in Kleve jetzt auch gibt.«
»Nicht, daß ich wüßte, oder Brigitte?«
Sie zuckte die Achseln. »Doch, ich glaube, der hat sich schon mal mit so Leuten getroffen.«
»Ach ja«, fiel es dem Vater wieder ein, »mit denen war er ja auch voriges Jahr auf dem Elefantentreffen.«
»Können Sie sich an irgendwelche Namen erinnern?«
»Nein.«
Toppe stand auf. »Ich danke Ihnen für heute. Wir werden uns morgen im Laufe des Tages wieder bei Ihnen melden.«
Astrid hängte sich ihre Tasche über die Schulter und ging zur Wohnzimmertür. »Können Sie uns bis dahin wohl ein Foto von Ihrem Sohn heraussuchen, und vielleicht haben Sie auch eins von dem Motorrad?«
Die Frau starrte auf die Jacke in ihrem Schoß und bewegte sich nicht mehr, aber der Vater stand auf und nickte, brachte sie in den engen Flur hinaus, schüttelte beiden die Hand.
»Das Motorrad«, sagte er unvermittelt. »Sie haben es nicht gefunden!«
»Noch nicht«, antwortete Toppe. »Aber gleich morgen kümmern wir uns darum.«
»Man hat uns schon 25.000 Mark dafür geboten …«
»Ihr Sohn hatte keine Papiere bei sich«, fiel es Toppe ein.
»Die hatte er immer im Tankrucksack.«
Der Mann machte die Haustür auf und knipste die Außenlampe an. Sie stiegen die Stufen zur Oberstraße hinab.
Astrid drehte sich noch einmal um. »Morgen würden wir uns gern Ralfs Zimmer anschauen. Es wäre gut, wenn Sie nichts verändern würden.«
Wolfgang Poortens Gesicht war mit einem Mal schmerzverzerrt.
»Ja«, sagte er tonlos, »in Ordnung.« Dann schloß er die Tür.
Astrid verkroch sich in ihren Mantel. Aus der Kneipe weiter unten tönte Musik und Gelächter, sonst war alles still, kein Mensch auf der Straße. Man konnte den Altrhein riechen.
»Laß uns irgendwo noch ein Bier trinken gehen«, sagte Toppe.
Christian nahm die Milchpackung aus dem Kühlschrank. Er hatte kein Licht gemacht, der Mond schien hell genug. Ihm war heiß vom Fahrradfahren. Eigentlich ganz schön beknackt, daß er nur für die zwei Stunden nach Grieth gejuckelt war. Und Clara hatte er wieder nicht getroffen – immer noch krank.
Er hörte die Haustür ins Schloß fallen. Aha, der Alte kam von seinem Scheißjob zurück. Leise machte er den Kühlschrank zu und drückte sich gegen die Wand. Er hatte jetzt wirklich keinen Bock mehr auf Gesülze.
Irgend etwas plumpste zu Boden. Himmel, warum verpißten die sich nicht endlich!
Und warum japste Astrid so? Vorsichtig lugte er um die Ecke.
Astrid hatte ihren Mantel und ihre Handtasche fallen lassen. Sie lehnte am Türrahmen. Toppe stand breitbeinig vor ihr, hatte ihr den Pullover weit hochgeschoben, den Mund an ihren Brüsten. Im hellen Mondlicht konnte Christian deutlich ihre harten, dunklen Brustwarzen sehen.
Er zuckte zurück. Waren die besoffen, oder was? Wieso verschwanden die nicht endlich in ihrem Zimmer? Und sowieso, das Schwein! Vorige Woche, als Astrid zwei Tage auf einer Fortbildung gewesen war, hatte der Alte bis nachts um zwei bei seiner Mutter oben gehockt; er hatte sie lachen und flüstern gehört.
Es raschelte, ein Reißverschluß wurde aufgezogen. Er hielt die Luft an und beugte sich vor.
Astrid hielt Toppes Hände fest und schob ihre Zunge in seinen Mund. Dann glitt sie sehr langsam ganz dicht an seinem Körper herab. Ihr Gesicht war vom Mantel verdeckt, aber sie bewegte ihren Kopf vor und zurück – steter Rhythmus. Toppe vergrub seine Hände in ihrer schwarzen Mähne, legte den Kopf weit in den Nacken und stöhnte leise.
Christian wurde die Hose eng, er schluckte trocken. Oh, mein Gott! Die feuchte Stirn gegen den Türpfosten gepreßt, schloß er die Augen ganz fest und fing an zu beten.