19

Toppe konnte froh sein, daß er noch einen freien Tisch erwischte. Die ganze Busladung Pilger hatte sich im Restaurant zum Mittagessen eingefunden. Zwei ältere und offenbar gestandene Kellnerinnen hatten Mühe durchzukommen.

Die unfreundlichere knallte ihm im Vorbeigehen die Tageskarte auf den Tisch: »Komme sofort.«

Es gab eine Vorsuppe, Schokocreme als Nachspeise, und man hatte die Auswahl zwischen vier Hauptgerichten. Die Luft war feucht von Essensdünsten, und ihm war es viel zu laut.

Er winkte. Die Kellnerin nickte giftig über ihrem beladenen Tablett, aber er hatte Astrid gemeint, die am Eingang stand und sich suchend umblickte. Sie erreichte seinen Tisch gleichzeitig mit der Serviererin. »Bitte«, hatte die schon ihren Block gezückt.

»Ich habe doch noch gar nicht in die Karte geguckt«, wunderte sich Astrid.

»Warten Sie.« Toppe hielt die Kellnerin auf und schob Astrid die Karte zu. »Das geht schnell.«

Sie überflog das Menü, während sie sich aus dem Mantel schälte. »Gemüselasagne für mich.«

»Und der Herr?« klopfte die Bedienung den Bleistift auf den Block. Ihr Zorn traf ihn zu unrecht. »Rinderbraten, bitte.«

»Getränke?«

»Pils«, sagten beide.

Astrid sah der Frau mißbilligend hinterher. Toppe zündete sich eine Zigarette an. »Du siehst nicht sonderlich zufrieden aus.«

»Du auch nicht«, gab sie zurück und nahm ihm die Zigarette aus der Hand.

Er holte sich gereizt eine neue aus der Schachtel. »Wie auch? Offensichtlich gehen die Leute hier im Dorf mit den Hühnern zu Bett, oder sie sehen fern, aber dann liegt das Wohnzimmer nach hinten raus.«

»Oder«, ergänzte Astrid, »sie waren am 9. gar nicht zu Hause, und manche sind sowieso schwerhörig. Auf jeden Fall haben sie alle Ralf Poorten noch nie in ihrem Leben gesehen.«

»Genau. Nicht zu vergessen, daß man schon immer Schwierigkeiten mit dem Gedächtnis hatte.«

». und daß in diesem Ort anständige Leute wohnen, die Schlägereien nur vom Hörensagen kennen. Ich weiß, aber deshalb mußt du doch nicht mich so wütend angucken.«

Sie holten ihre Notizen heraus und verglichen die Ergebnisse, bis das Essen kam.

Die Kellnerin hatte sich wieder beruhigt und servierte mit professionellem Lächeln.

»Ist bei Ihnen immer soviel los?« wollte Toppe wissen.

»Zwei-, dreimal die Woche bestimmt«, meinte sie. »Wenn die Busse kommen.«

»Haben Sie Verträge mit den Busunternehmen?«

Sie sah ihn herablassend an – bis zu ihr war es wohl noch nicht durchgedrungen, daß Polizei im Ort war.

»Da müssen Sie schon die Chefin fragen«, sagte sie spitz und warf einen kurzen Blick zur Theke. Dort dirigierte und herrschte eine gesträhnte Blondine, die Russ Meyer vom Fleck weg engagiert hätte, wenn sie ein paar Jahre jünger gewesen wäre.

»Danke sehr«, antwortete Toppe höflichst.

Die Suppe war gut.

»Bis auf die Lehrerin sind alle unheimlich mißtrauisch und ablehnend«, meinte Astrid. »So langsam kriegt man das Gefühl, als hätten die sich alle miteinander abgesprochen.«

»Ach was, so was gibt es nur im Krimi. Die Leute finden einfach, daß wir hier nichts verloren haben. Außerdem wollen die uns demonstrieren, wie intakt ihre Gemeinschaft ist. Das haben wir auf dem Dorf doch schon öfter so erlebt. Was mir komisch vorkommt, ist, daß hier an dem bewußten Freitag überhaupt nichts los gewesen sein soll. Bis jetzt habe ich noch keinen Menschen gesprochen, der nach acht Uhr abends auf der Straße war. Das gibt’s doch gar nicht.«

»Na, zumindest die Leute vom Jugendkreis waren unterwegs.«

»Und in der Kneipe muß doch auch Betrieb gewesen sein.«

»Also gut«, seufzte Astrid ergeben. »Bevor wir weiter durch die Straßen ziehen, frage ich den Kaplan noch mal.«

»Und ich spreche mit dem Kneipenwirt, diesem Lambertz.«

Die Treppe vom Restaurant auf die Straße hinunter war lang und steil, und Toppe blieb auf der vorletzten Stufe mit dem Absatz hängen. Er konnte sich gerade eben noch abfangen, schrabbte aber mit der linken Hand an der Hauswand entlang. Entsetzt starrte er auf die tiefe Schürfwunde und ließ sich auf die unterste Treppenstufe fallen.

»Oh Gott«, kam Astrid zurückgelaufen. »Das sieht ja scheußlich aus. Tut’s sehr weh?«

Er hielt die Augen geschlossen und strengte sich an, ganz ruhig und tief zu atmen. Wenn er starke Schmerzen hatte, vor allem, wenn er sein eigenes Blut sah, kippte ihm regelmäßig der Kreislauf weg. Das war etwas, was Astrid bisher noch nicht miterlebt hatte und was er ihr auch gern weiterhin verschwiegen hätte.

Sie legte die Hände um seinen Kopf. »Mensch, du bist weiß wie die Wand. Hast du dir sonst noch was getan?«

Langsam öffnete er die Augen, die Erde drehte sich schon weniger schnell.

»Nein, nur die Hand«, sagte er heiser.

»Verdammt, das blutet ganz schön. Warte, ich tu dir ein Tempo drauf.«

»Bloß nicht! Das klebt doch fest. Ich nehme mein Taschentuch.«

Es war groß genug, daß sie es umbinden und verknoten konnte. »Prima«, meinte sie lebhaft, als er vorsichtig aufstand. »Sieht doch hübsch dramatisch aus.«

Sie hatten keine Ahnung, wo der Kaplan wohnte, also klingelte Astrid beim Pfarrhaus. Toppe wartete mit ihr vor der Tür, er war neugierig auf den sportlichen Pastor, aber der bot heute ein unspektakuläres Bild und war in Eile. »Der Kaplan wohnt bei mir im Haus.« Er drückte lange auf den oberen Klingelknopf und rief gleichzeitig die Treppe hoch: »Stefan! Hier ist jemand für dich!« Dann war er schon mit einem Satz auf dem Bürgersteig. »Ich muß zu einer Letzten Ölung«, sagte er noch.

Toppe sah ihm nach, wie er mit flatterndem Mantel die Straße hinunterlief, und ging dann die drei Schritte bis zur Kneipe.

Es war schon halb vier, als sie endlich ins Auto stiegen und den Ort hinter sich ließen.

»Du zuerst«, sagte Toppe.

»Okay, was den Jugendkreis angeht, ist tote Hose, aber ich habe andere Sachen rausgefunden.«

Grieth hatte einen anscheinend recht bekannten Kirchenchor, der regelmäßig im Xantener Dom sang und auch schon mal größere Konzerte gegeben hatte. Jeden Freitag traf man sich in der Griether Kirche von 19.30 Uhr bis 21 Uhr zur Probe. Auch am Freitag, dem 9. Februar war der Chor vollzählig gewesen. Astrid hatte sich vom Kaplan die Namen aller Mitglieder geben lassen. Kaum einer wohnte in Grieth, die meisten kamen von außerhalb, aus Kalkar, Kleve und Goch. Insgesamt waren es zweiunddreißig Leute. Sie konnten sich leicht ausrechnen, wie lange es dauern würde, bis man alle zu dem Freitag abend befragt hatte.

»Interessant ist vielleicht eine Sache«, meinte Astrid zum Schluß, aber sie hörte sich müde und überdrüssig an. »Magda und Bernhard Mühlenbeck singen auch im Chor. Das sind die Leiter von Haus Barbara.«

Toppe verzog das Gesicht. Die Wunde an seiner Hand klopfte wie verrückt.

»Ich habe auch was: An jedem zweiten Freitag im Monat trifft sich hier der CDU-Ortsverband, also auch am 9. Februar, und zwar im Gemeindesaal schräg gegenüber vom Pfarrheim. Das habe ich beim Wirt erfahren. Die Sitzungen fangen um siebzehn Uhr an, Ende offen. Ein paar Parteimitglieder gehen hinterher bei Lambertz immer noch einen trinken. Er meinte, an dem Freitag müßte das so kurz nach acht gewesen sein. Ich muß mir morgen die Namen der Mitglieder besorgen. Lambertz fielen nicht alle ein. Auf jeden Fall gehört der alte Albers dazu. Er ist sogar stellvertretender Vorstandsvorsitzender. Wann die einzelnen Leute aus der Kneipe raus sind, konnte Lambertz mir nicht sagen. Freitags wäre zuviel los.« Toppe nahm den Blick von der Straße und sah Astrid an. »Auch auf die Gefahr hin, daß jetzt ich mich wie in einem Krimi anhöre, der Mann gefällt mir nicht. Könnte durchaus sein, daß er nicht alles sagt, was er weiß. Ein schmieriger Typ.«

Heinrichs war nicht im Büro, es war auch keine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Dafür lehnte ein Zettel an Toppes Telefon: Habe zwei Stunden gewartet und die Akten durchgearbeitet; den Rest mitgenommen. Ab morgen wieder im Einsatz. MfG Norbert.

Sie setzten sich an ihre Schreibmaschinen und schrieben ihre Berichte. Auch Astrid faßte sich kurz.

Als sie auf den Hof rollten, stieg Peter Keller gerade in sein Auto, aber er grüßte nicht, sah nicht einmal auf.

Toppe ging gleich durch in die Küche. Gabi stand am Tisch und sah ihm entgegen. »Ach, du bist es!« Dann fiel ihr Blick auf seine Hand mit dem blutigen Taschentuchverband. »Was hast du denn gemacht? Zeig mal her.« Behutsam löste sie den Knoten und sah ihn an. »Bist du umgekippt?« flüsterte sie.

»Nee, ich konnte mich gerade noch setzen«, antwortete er leise. »Laß doch, ist nicht so schlimm. Aber was ist mit dir? Krach gehabt?« Er legte ihr den Arm um die Schultern.

»Ja, das leidige Thema«, meinte sie, noch immer wütend. »Peter will unbedingt heiraten, und ich denke nicht daran. Teufel, noch mal, warum kapiert der das nicht endlich!«

Toppe lächelte und nahm sie in die Arme, spürte, wie sie weich wurde. Dann aber hielt sie ihn fester, drängte sich gegen ihn. Seine Hände glitten tiefer.

»Oh«, flüsterte sie, den Mund an seinem Ohr, »ich wußte gar nicht, daß du noch so empfänglich bist.«

»Ich auch nicht.«

Sie preßte sich dichter an ihn, er fühlte ihr Becken, ihren Busen und ihren Atem an seinem Hals.

»Du hast dich ganz schön verändert.«

Sie nahm den Kopf zurück und lachte. »Stimmt! Gott sei Dank, nicht wahr?«

Dann küßte sie ihn.

»Störe ich?« fragte Astrid.

Gabi ließ Toppe los. »Quatsch! Bloß eine kleine Trostaktion: aufgeschürfte Hand gegen Beziehungskrise. Scheint heute nicht mein Tag zu sein.« Mit beiden Händen strich sie sich das Haar zurück. »Ich war schon auf hundertachtzig, bevor Peter kam. Guckt euch mal den Schund an, den ich in Christians Zimmer gefunden habe.«

Toppe dankte dem Herrn für seinen langen Pullover und beugte sich über die bunte Broschüre, die aufgeschlagen auf dem Küchentisch lag.

Beim Einsammeln der schmutzigen Wäsche hatte Gabi in Christians Zimmer auf dem Schreibtisch eine Barbara-Broschüre Licht in der Dunkelheit gefunden. Christian hatte einige Stellen mit neongelbem Stift markiert. Die Textblöcke waren auf den Hintergrund aus rosafarbenen Gladiolen gedruckt, auf der zweiten Seite über ein wehendes Kornfeld. Es ging um die Geschichte einer Frau, die mit einem Alkoholiker verheiratet war und sich eigentlich scheiden lassen wollte. Aber dann machte sie eine Wallfahrt nach Lourdes und lernte dort Jesus lieben.

Von da an betete sie jeden Tag zur Jungfrau Maria. Aber das alles half nicht, der Mann trank weiter, die Ehe war zerstört. Doch endlich erfuhr sie von der »Gemeinschaft« und ging zu einem Seminar in das »Haus Theresa«. Und dort hörte sie einen Satz, der sie nachdenklich machte: die Frau sei dem Manne untertan.

Astrid stand über den Tisch gebeugt und wand sich. »Ich halt’s nicht aus.«

»Lies nur weiter«, sagte Gabi. »Es kommt noch viel besser.«

Die Frau lernte auf dem Seminar, daß Gott den Mann eben sachlicher geschaffen hatte als die Frau und daß sie selbst viel zu hohe Erwartungen an ihren Ehemann gestellt hatte, weil ihr Hunger nach Liebe sowieso nur von Jesus gestillt werden konnte. Außerdem hatte sie in den letzten Jahren das Geld verdient und ihrem Ehemann so die Chance genommen, die Rolle zu erfüllen, zu der er als Mann ausersehen war. Am Ende des Seminars erkannte sie, daß sie sich ihm unterzuordnen hatte und ihm gegenüber gehorsam sein mußte, da die Hand Gottes auf dem Mann liegt. Was ich in diesem Gehorsam erlebte, ist unbeschreiblich. Der Gehorsam machte mich frei. So hat Gott an mir gewirkt in Frieden und Liebe.

Toppe fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.

»Hast du schon mit Christian gesprochen?« fragte Astrid.

»Nein.« Gabi ließ sich auf die Bank fallen. »Ich habe mal wieder keine Ahnung, wo der steckt.«

»Reg dich doch nicht so auf«, versuchte Toppe sie zu beschwichtigen. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß der Junge diesen Mist wirklich glaubt.«

»Da vertust du dich aber. Ich durfte mir erst vor ein paar Tagen einen Vortrag über meine fragwürdige Moral anhören.«

»Ach komm, übertreib nicht.«

»Was? Ich übertreibe? Sag mal, merkst du eigentlich nicht, in welche Ecke mich dieser Artikel da stellt?«

»Haus Theresa, Haus Barbara«, nickte Astrid. »Ich habe euch doch gesagt, was das für ein Verein ist. Die arbeiten mit denselben Mitteln wie eine Sekte, und wenn ihr Christian nicht schnellstens da rausholt, dann ist seine Gehirnwäsche bald komplett.«

»Verflucht noch mal, Astrid«, verlor Toppe den Rest seiner mühsamen Beherrschung. »Mußt du das alles jetzt auch noch dramatisieren? Diese Leute sind vielleicht wunderlich und verschroben, aber doch nicht gefährlich.« Er ignorierte ihre beleidigte Miene. »Ich sehe ein, daß wir mit Christian darüber reden müssen, aber heute hab ich absolut keinen Nerv dazu. Mir steht diese ganze Religionskacke bis hier.«

Solange Christian sich um ihn kümmerte, solange er ihn kannte, war Opa Czesnik nicht so klar und lebendig gewesen. Er hatte rote Backen, und seine Augen glänzten. Aufrecht saß er im Bett und schimpfte wie ein Rohrspatz: »Da schicken die mir doch glatt so einen Schwarzrock rein! Letzte Ölung – da wird mir ja ganz anders.« Christian hatte sich einen Stuhl geholt und sich neben das Bett gesetzt. »Was ist denn daran so falsch?« fragte er vorsichtig.

Opa Czesnik brummte. »Mein Lebtag hatte ich mit denen nichts am Hut, und so lange ich noch bei Verstand bin, kriegen die mich auch nicht, das kannst du mir glauben.« Er hustete trocken. »Reine Kraftvergeudung, mich überhaupt aufzuregen. Erzähl mir lieber, wie es mit dir und Clara steht.«

»Ich hab sie noch nicht gesehen. Sie ist immer noch krank.«

»Aber gerade dann solltest du dich kümmern.«

Christian schlug die Augen nieder. »Die lassen mich nicht zu ihr.«

Opa Czesnik schob langsam seine linke Hand vor und umfaßte Christians Arm. »Liebst du das Mädchen?«

»Ja, ich liebe sie.« Er räusperte sich und sah den alten Mann an. »Aber nicht so, wie alle immer denken.«

Opa Czesnik wollte lachen, aber dann drückte er Christians Hand ganz fest. »Mein lieber Junge, du läßt dir von dieser Bande viel zuviel weismachen. Wenn du ein Mädchen liebst, dann willst du auch, daß sie dir dein Bett wärmt, und sonst … sonst hast du keinen Saft in den Lenden.«

Der Junge wußte nicht, wo er hinschauen sollte, aber Opa Czesnik war noch nicht fertig. »Genau da sind die Pfaffen hinterher, hinter deinem Saft. Einen kastrierten Affen wollen die aus dir machen. Und die erzählen dir so lange was vom Fegefeuer, bis du dir vor Angst in die Hosen scheißt. Und dann haben sie dich. Dann machen die mit dir, was sie wollen.«