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Die Leute von der Presse fuhren gerade ab, als Toppe am Präsidium ankam. Er fand Heinrichs allein im Büro.

»Hast du mit den Zeitungsfritzen gesprochen?«

Heinrichs nickte. »Ich weiß doch, wie sehr du dich darum reißt. Du siehst angeschlagen aus.«

Toppe hängte seinen Mantel auf und setzte sich. »Es war auch scheußlich. Hier, lies selbst.« Er schob Heinrichs van Appeldorns Beschreibung der Leiche rüber. »Und wie war’s bei euch mit dem Mädchen?«

»Genauso scheußlich. Die Kleine ist vollkommen fertig. Gott sei Dank hat sie es gleich ihren Eltern gesagt, und die sind sofort mit ihr zum Krankenhaus gefahren. Sie hat Verletzungen in der Scheide, Blutergüsse an den Armen, im Gesicht, auf der Brust und eine Platzwunde am Hinterkopf.«

Toppe seufzte und rieb sich die Stirn. »Und die haben eine Spermaprobe genommen?«

»Ja, sicher. Das Mädchen kennt den Mann. Er ist der Vater ihrer Freundin.«

»Mein Gott! Aber wenigstens ist damit die Sache klar.«

»Von wegen«, schnaubte Heinrichs. »Der Mann streitet alles ab. Astrid ist gerade mit ihm beim Ermittlungsrichter. Bis die DNA-Analyse vom BKA zurückkommt, das kann eine Weile dauern.« Das Telefon klingelte. »Ich hoffe, die buchten den solange ein.« Er nahm den Hörer ab und meldete sich. »Hier, für dich, Helmut«, gab er ihn weiter und schaltete gleichzeitig den Lautsprecher ein.

»Ja, hallo, Norbert hier. Ich wollte dich bloß vorwarnen. Unser Toter ist offenbar nicht ertrunken. Sein Schwanz ist zu lang.«

»Wie bitte?« Auch Heinrichs riß die Augen auf und tippte sich an die Stirn.

»Ist ja egal«, meinte van Appeldorn. »Erkläre ich dir alles später. Bonhoeffer geht jedenfalls davon aus, daß der Mann schon tot war, bevor er ins Wasser gekommen ist. Außerdem ist er offensichtlich mißhandelt worden. Was ist? Hast du schon mal geguckt, ob die Jungs unten eine Vermißtenmeldung haben?«

»Nein, ich bin noch nicht dazu gekommen«, gab Toppe zurück. »Fahrt ihr jetzt in die Pathologie?«

»Ja, ich melde mich dann nachher.«

Astrid war blitzwütend. »Männer!« fauchte sie. »Es ist nicht zu fassen.«

»Der Richter hat ihn auf freien Fuß gesetzt«, stellte Heinrichs fest.

»Richtig. Ein Quadratarsch, sag ich euch. Das wäre beim Knickrehm anders gelaufen.« Sie sah auf einmal ziemlich müde aus. »Die übliche Begründung: fester Wohnsitz, geregelte Verhältnisse, keine Verdunklungsgefahr. Dabei lügt der Typ, daß sich die Balken biegen. Der war es, und zwar mit hundertprozentiger Sicherheit. Er behauptet, er hätte das Mädchen zwar nachmittags kurz bei seiner Tochter gesehen, sei aber dann den ganzen Abend mit ein paar Kumpels auf Sauftour gewesen. Und dann hat dieses Schwein auch noch die Stirn zu sagen, die Kleine müßte sich nicht wundern, immer so kurze Röckchen, jedem Mann schöne Augen machen – das ganze Gewäsch. Und dieser Richter, dieser angebliche, der nickt auch noch verständnisinnig!«

»Hol mal Luft«, legte Toppe ihr die Hand auf den Arm.

»Ach!« Sie machte sich los und ging zum Fenster.

»Manchmal kann ich es einfach nicht mehr haben.«

Heinrichs und Toppe kannten das Gefühl, es gab nicht viel dazu zu sagen.

»Ich habe unseren Bericht schon fertig«, hielt Heinrichs ein paar Blätter hoch. »Ist das ein kleiner Trost?«

Sie versuchte zu lächeln. »Ja, gut.« Dann sah sie Toppe an. »Und was ist mit eurer Wasserleiche?«

»Vielleicht kann Walter es dir erzählen. Ich muß mal eben nach unten.«

Um diese Zeit war auf der Wache nie viel los. Die Kollegen aßen Streuselkuchen.

»Mahlzeit, Toppe! Auch ’n Stücksken?«

»Nein, im Moment nicht, danke.«

»Komisch, ich hab gehört, Sie wären so ’n Süßer. Ach«, grinste der Kollege dann breit, »ihr hattet ja ’ne Wasserleiche heute morgen!«

Toppe verzog unwillig den Mund. Er hatte wenig übrig für derbe Scherze. Seine Abneigung gegen die rüde Flapsigkeit, mit der einige sich den häufigen Umgang mit Toten erträglich zu machen suchten, war in den letzten Jahren immer stärker geworden und hatte so manchem schon einen Rüffel oder auch einen kleinen Vortrag über Pietät und Menschenwürde eingehandelt. Was Toppe bei einigen Kollegen nicht gerade beliebt machte, die anderen zumindest verunsicherte. Der Beamte hielt denn auch den Mund und guckte nur fragend.

»Ihr habt nicht zufällig eine Vermißtenmeldung vorliegen?«

»Ha, wat et alles gibt! Wochenlang war nix, aber …« Er bückte sich und holte unter dem Tresen ein Formular hervor.

»Hab ich übrigens selber aufgenommen. Hier, ein Herr Poorten aus Griethausen hat am letzten Samstag – das war der 10.2. – um 18 Uhr gemeldet, daß sein Sohn Ralf verschwunden ist. Ralf Poorten, 19 Jahre alt, 182 cm groß, schlank, dunkles, kurzes Haar, braune Augen. Zum letzten Mal gesehen worden von seinen Eltern am Freitag, den 9.2. zu Hause gegen 19.30 Uhr. Sein Motorrad ist auch weg. Eine schwarze BMW, Kennzeichen hab ich hier. Bekleidet war der Junge vermutlich mit einer schwarzen Lederhose, schwarzer Lederjacke und Motorradstiefeln, auch schwarz. Außerdem trug er wohl einen Integralhelm in Pink und Blau.«

»Hm«, nickte Toppe. »Was habt ihr unternommen?«

Der Kollege hob die Schultern. »Viel noch nich’. War ja Wochenende. Das Übliche eben. Is’ der denn jetzt eure Wasserleiche?«

»Könnte gut sein.«

»Und? Wat machen wir jetzt? Sollen wir die Eltern benachrichtigen?«

Toppe schüttelte heftig den Kopf. »Wir müssen den Pathologiebericht abwarten. Identifizieren kann den Toten nämlich so keiner mehr.«

Der Beamte verzog angeekelt das Gesicht. »Ba!«

»Höchstens anhand der Kleidung. Laßt mich mal eben an euer Telefon. Ich muß Bonhoeffer sagen, daß er Fingerabdrücke nehmen soll. Falls das überhaupt möglich ist …«

Behutsam, immer den Blick an die Decke geheftet, stieg Toppe von der Treppenleiter. Es klingelte.

»Die Tür ist offen«, rief er verhalten und ließ die frisch verputzte Stelle nicht aus den Augen.

»’n Abend«, sagte van Appeldorn und schloß die Haustür.

Platsch! machte es, und der nasse Klatschen Zement landete auf Toppes Schulter. Er breitete resigniert die Arme aus. »Ich kriege das einfach nicht hin, Mensch.«

Van Appeldorn betrachtete die großen Löcher in der Decke, dann die Zementplacken auf dem Boden und schmunzelte. »Da muß auch ein Fachmann ran.«

»Und der bist du?«

»Quatsch, nein. Aber mein Freund Rudi, der kann so was. Soll ich den mal fragen?«

Toppe versuchte, den Dreck von der Schulter zu wischen. »Ja, mach das, wäre nett. Warst du bis jetzt in der Pathologie?«

»Siehst du das nicht? Ich bin blau gefroren. In dem Bunker ist es auch nicht viel wärmer als draußen.«

Gabi huschte auf nackten Füßen die Treppe hinunter. Als sie van Appeldorn sah, raffte sie schnell ihren Bademantel am Ausschnitt zusammen. »Hallo, Norbert«, grüßte sie und verschwand in der Küche.

Van Appeldorn hob die Augenbrauen. »Hallo, Gabi«, rief er ihr nach. »Ihr habt’s aber schön warm hier.«

Aus dem Badezimmer kam Astrid, mehr schlecht als recht bekleidet mit einem weißen Badetuch, das sie über der Brust zusammengeknotet hatte. »Grüß dich, Norbert.«

Van Appeldorn schluckte kurz. »Living life the easy way«, summte er dann.

Astrid griente. »Ich zieh mir schnell was an und komme dann zu euch. Du hast doch sicher was zu erzählen.«

»Gib mir deinen Mantel«, streckte Toppe die Hand aus. »Wir gehen in mein Zimmer. Ich hab vorhin den Kamin angemacht.«

Van Appeldorn ging voran. »Ein eigenes Zimmer mit offenem Kamin. Nicht schlecht, muß ich sagen, nicht schlecht.«

Er sah sich um, ein großer Schreibtisch, viele Bücher, zwei Ohrensessel vor dem Feuer. Sein Blick ruhte lange auf dem Bett, das zwar breit, aber eindeutig ein Einzelbett war. Man konnte sehen, wie er an der Frage schluckte.

»Willst du was trinken?« Toppe stand noch in der Tür.

»Hast du irgendwas Warmes da? Grog oder so.« Jetzt war van Appeldorn eine passende Formulierung eingefallen: »Ihr nutzt das Zimmer wohl auch für Gäste?«

»Nein.« Toppe schwankte zwischen Belustigung und Ärger. »Wir haben jeder unser eigenes Zimmer und jeder unser eigenes Bett. Setz dich schon mal.«

Van Appeldorn ließ sich im Sessel nieder. »Kann ja unter gewissen Umständen ganz praktisch sein«, murmelte er vor sich hin. Er fröstelte, rückte dichter ans Feuer und streckte die klammen Hände vor. Seine Zehen spürte er schon seit heute morgen nicht mehr, dabei trug er die gefütterten Schuhe, die Marion ihm für einen Skiurlaub gekauft hatte, der nie gelaufen war. Irgendwas war damals dazwischen gekommen, aber er konnte sich nicht mehr erinnern, was es gewesen war. Er sah sich um. Sein Blick glitt über die Bücherwand, die beiden gerahmten Drucke, den indianischen Bettüberwurf. Dieses Zimmer war so gemütlich, daß es schon aufdringlich war.

»So, jetzt bin ich wieder einigermaßen salonfähig.« Astrid stand da und hielt ihm eine Schale Pistazien hin. Sie trug irgendwas langes Schwarzes und dicke graue Socken. Er winkte ab, wollte eigentlich nur endlich nach Hause. Toppe brachte drei Becher Grog, bot Astrid den zweiten Sessel an, aber sie wollte lieber auf dem Boden gleich vorm Feuer sitzen.

Van Appeldorn holte seine Notizen aus der Innentasche. »Männliche Leiche, 181 cm groß, Gewicht: 74 kg, Schuhgröße 42, braunes Haar, braune Augen, Alter ca. 20 Jahre. Es ist inzwischen eindeutig, daß der Mann bereits vor seinem Eintritt ins Wasser tot war. Darauf weist der geringe, nur passive Wassereintritt in die Lunge hin. Die Lunge war zunächst mit Luft gefüllt, dadurch war sie leicht. Das heißt, der Leichnam ist relativ spät gesunken.«

»Was muß ich mir unter relativ spät vorstellen? Eine Stunde, zehn Minuten?« fragte Toppe.

Van Appeldorn runzelte entnervt die Stirn. Er war müde, und jede Unterbrechung bedeutete, daß er noch länger hier sitzen mußte. Aber er riß sich zusammen. »Ich weiß es nicht. Die Frage ist mir, ehrlich gestanden, nicht in den Sinn gekommen. Soll ich Bonhoeffer deswegen anrufen?«

»Ach was, das hat Zeit bis morgen.«

»Also weiter … relativ spät gesunken. Das kann man deutlich an der Betonung der Totenflecken an Kopf, Armen und Beinen sehen.«

Astrid räusperte sich vorsichtig und sah ihn an. Van Appeldorn legte seine Zettel auf die Sessellehne. »Bevor eine Leiche sinkt, hängt sie quasi im Wasser.« Er beugte sich vor, ließ Kopf und Arme baumeln. »So. Alles klar?«

Toppe nickte ruhig.

»Gegen den Tod durch Ertrinken sprechen auch noch andere Dinge: das Blut ist nicht auffällig flüssig sondern völlig normal, der Mageninhalt ist nicht schaumig. Der Mann hatte nichts verschluckt, da war kein Schlamm in der Speiseröhre, kein Wasser in der Paukenhöhle. Vor allem aber gab es im Magen keine Diatomeen.«

»Selbstverständlich, ist doch ganz klar«, murrte Astrid.

»Kieselalgen«, erklärte van Appeldorn. »Und der Tote hat keine Gänsehaut.«

Er ließ den Satz ein bißchen stehen, und beide schauten ihn an. »Ich fand das auch spannend. Leute, die ertrunken sind, haben eine Gänsehaut. Verrückt, nicht? Aber weiter: Es liegen einige Verletzungen vor, die erst nach dem Tode beigebracht worden sind: parallele Schnitte mit kreidigweißlichen Rändern, besonders am Gesichtsschädel, weisen auf Kontakt der Leiche mit einer Schiffsschraube hin. Ferner gibt es Rißwunden ohne Einblutung – weil der Mensch eben schon tot war – die auf einen Aufprall schließen lassen. Brückenpfeiler, Buhnen, die Verladerampe bei Spyck oder so. Wichtiger für uns sind aber die Verletzungen, die dem Mann vor seinem Tod zugefügt worden sind. Die Totenflecken sind spärlich, was auf eine Anämie hindeutet, auf einen Blutverlust vor dem Tod durch blutende Verletzungen. Es finden sich Hinweise auf Schläge mit einer Stange, Parallelstreifen, wo die Haut unterblutet ist. Des weiteren Anzeichen für Tritte, nämlich dreieckig abgerundete Blutergüsse. Der Tote hat mehrere Knochenbrüche: rechter Oberschenkel, rechter Ober- und Unterarm, ein paar Rippen. Die darüberliegenden Weichteile sind eingeblutet. Bonhoeffer hat«, van Appeldorn mußte auf seinen Zettel schauen, »einen leichten Katecholaminanstieg im Blut gefunden, ebenso einen Histaminanstieg. Beides bedeutet, daß der Mann vor seinem Tod unter Streß gestanden hat. Er war ziemlich eindeutig in einen Kampf verwickelt. Darauf weisen Abwehrverletzungen an Händen und Unterarmen hin.«

»Woran ist er denn gestorben?« wollte Astrid wissen.

»Durch die Knochenbrüche ist es zu einer Fettembolie der Lunge mit Rechtsherzstauung gekommen. Aber wahrscheinlich ist er an einer Milzruptur gestorben. Die Milz ist gerissen, vermutlich durch die Fußtritte. Und Bonhoeffer sagt, an so was stirbt man ganz fix. Ob der Tote noch eine Hirnverletzung gehabt hat, war nicht mehr festzustellen, denn das Gehirn war ja nicht mehr da.«

»Hat Arend Fingerabdrücke nehmen können?« fragte Toppe.

»Ja, das war nicht so schwierig. Er hat irgendwas in die Fingerbeeren gespritzt. Glyzerin, glaube ich. Und dann ging’s.«

»Hast du sie bei dir?«

Van Appeldorn sah ihn irritiert an. »Nein, die kriegen wir morgen zusammen mit dem Bericht. Wieso ist es denn plötzlich so eilig?«

»Es gibt einen Vermißten, dessen Beschreibung auf unseren Toten paßt.« Toppe holte die Anzeige vom Schreibtisch und gab sie van Appeldorn.

Es klopfte, und Gabi steckte den Kopf herein. »Bleibst du zum Abendbrot, Norbert?«

»Danke, aber ich möchte schnell nach Hause, in die heiße Wanne und dann ins Bett.«

Gabi nickte nur und war schon wieder verschwunden.

Van Appeldorn stand auf und gab Toppe die Vermißtenmeldung zurück. »Willst du heute noch was unternehmen? Die Kleidung von dem Jungen hab ich im Auto.«

Toppe seufzte. »Mir wird ja wohl nichts anderes übrig bleiben.«

Van Appeldorn schwieg unbehaglich, und Toppe befreite ihn schnell von seinen Sorgen. »Nein, ich erledige das schon. Du hast dir deinen Feierabend verdient. Gib mir die Klamotten und mach, daß du nach Hause kommst.«