20

»Guten Morgen, ihr zwei. Der Kaffee ist schon fertig«, begrüßte Heinrichs Toppe und Astrid aufgeräumt. »Und packt mal ganz schnell eure düsteren Gesichter weg. Ich bin da nämlich auf was gestoßen.«

»Auf was?« fragte Toppe unlustig.

»Gestern abend hab ich mich noch schnell an die Akten gesetzt und dabei auch die Berichte von euren Befragungen gelesen. Dann habe ich Albers angerufen und mir die Namen der CDU-Leute geben lassen. Dieser Schmitz und der Gottfried Klinger sind beide im Parteivorstand. Entweder haben die schlicht gelogen, oder die haben am 9. beide gefehlt. Das wäre allerdings merkwürdig, zumindest bei Klinger, denn der ist der Vorsitzende.«

»Großartig«, meinte Toppe muffig. »Auf ein Neues also. Ich wußte sowieso nicht, was ich heute tun sollte. Willst du wieder mit Ackermann los?«

»Ja, wir kommen ganz gut voran. Hee, was hast du denn mit deiner Hand gemacht?« rief Heinrichs und zeigte auf das große, weiße Pflaster.

»Nichts«, brummte Toppe. »Ist nur eine Schürfung.«

Draußen auf dem Gang näherten sich schlorrende Schritte.

»Das wird Jupp sein.«

Aber es war van Appeldorn, ein blasser und magerer, aber höchst energischer van Appeldorn.

»Morgen«, krächzte er, legte einen Stapel Papiere auf seinem Schreibtisch ab und setzte sich, ohne den Mantel auszuziehen.

»Was willst du denn hier?« fragte Astrid. »Du kannst doch unmöglich schon wieder fit sein.«

»Fitter als manch anderer«, sah er sie eindringlich an. »Ich bin voll auf der Höhe, sowohl gesundheitlich, als auch, was den Fall angeht.« Er tippte auf den Aktenstapel.

»Na wunderbar«, meinte Toppe, dem van Appeldorns Ton nicht gefiel, »dann können wir ja einfach weitermachen.«

»Genau. Nur eine Frage vorweg: Was habt ihr gestern gemacht?«

Heinrichs gab ihm eine für seine Verhältnisse ausgesprochen kurze Zusammenfassung.

»Dann war also keiner von euch bei Poortens Familie oder im Haus Barbara?«

Die anderen drei sahen sich verständnislos an.

Van Appeldorn stand auf und ließ zwei Schnellhefter in Astrids Schoß fallen. »Du hast einen ganz schönen Bock geschossen, werte Dame.«

»Hee«, griff Toppe ein, »halt den Ball flach, Stürmer, ja? Und mach es nicht so spannend.«

Van Appeldorn setzte sich wieder. »Ich kapiere einfach nicht, daß sie das übersehen konnte.«

Astrid erkannte die Schnellhefter sofort. Sie stammten aus Ralf Poortens Zimmer, es waren die gesammelten Zeitungsausschnitte.

»Du hast alles in deinen Berichten stehen, Astrid«, begann van Appeldorn ein wenig ruhiger. »Und dann zählst du zwei und zwei nicht zusammen.«

In diesem Moment ging leise die Tür auf, und Ackermann kam auf Zehenspitzen herein. »Ich hab deine Stimme schon anne Treppe gehört, Norbert. Mach ruhig weiter, ich sach auch nix.« Er huschte an van Appeldorn vorbei und setzte sich hinten in der Ecke auf den Besucherstuhl.

Van Appeldorn beachtete ihn gar nicht, sondern sah weiter Astrid an. »Andauernd beschreibst du, wie angepaßt dieser Junge ist, aber du hakst nicht nach, wenn die Schwester dir erzählt, daß er in letzter Zeit sogar kritischer war als sie, kritischer, was diese ›Gemeinschaft zur Anbetung des reinen Herzens‹ angeht. Da habe ich zum ersten Mal gestutzt. Und diese Frau Mühlenbeck vom Haus Barbara erzählt dir, daß der Junge plötzlich zweifelnd geworden ist und nicht mehr zu den Seminaren kommt. Dann finde ich deine Liste mit all den Gegenständen, die in Poortens Zimmer waren. Irgendwo unter ferner liefen tauchen auch die beiden Mappen da auf mit Artikeln über Sekten, religiöse Verführer und Drogentote. Wie geht das zusammen mit all dem, was ihr über diesen braven, naiven Jungen gehört habt?«

Toppe lief ein vertrauter Schauer über den Rücken, van Appeldorn hatte ein Puzzleteil gefunden, das ihm die ganze Zeit gefehlt hatte.

»Und dann bist du zu Poortens gefahren und hast die Mappen geholt.«

»Richtig, gestern nachmittag noch. Ich habe sowieso nicht verstanden, warum keiner von euch ein zweites Mal mit der Familie gesprochen hat. Bei den ersten Gesprächen standen die doch noch unter Schock.«

»Jetzt ist es aber gut, Norbert«, regte sich Heinrichs auf. »Oder glaubst du, wir können uns vierteilen?«

»Schon in Ordnung«, winkte van Appeldorn ab. »Von der Familie habe ich ja auch nichts Wesentliches mehr erfahren. Aber wenn du mal die blaue Mappe aufschlägst, Astrid, und dir die letzten beiden Seiten anguckst …«

Es war ein karierter Zettel, auf dem fünf Namen standen: Karsten Bülow, Alexander Wirtz, Claudia Hamaekers, Kirsten Glade, Frank Toenders.

»Und wie ich feststellen konnte, ist das Ralf Poortens Handschrift«, sagte van Appeldorn.

Astrid nickte und blätterte um. Die letzte Seite war eine aus der Zeitung ausgeschnittene Todesanzeige, sauber auf schwarzen Karton geklebt und in eine Prospekthülle gesteckt: Wir trauern um unseren geliebten Sohn, Karsten Bülow, geboren 12.9.79, gestorben 21.1.95.

»Von den Eltern dieses Jungen komme ich gerade her.«

Astrid stöhnte unterdrückt.

»Komm, Mädchen«, sagte Heinrichs leise. »Fang bloß nicht an, dir irgendwelche Vorwürfe zu machen. Ich hab das schließlich auch übersehen.«

»Weiter«, drängte Toppe.

»Karsten Bülow war Epileptiker«, berichtete van Appeldorn. »Er mußte regelmäßig Medikamente nehmen. Am 20. Januar 95 ist der Junge zu einem Wochenendseminar ins Haus Barbara gegangen. Der Vater hat ihn noch selbst hingefahren. Am 21. Januar bekamen die Eltern einen Anruf aus dem Klever Krankenhaus, ihr Junge sei gestorben. Offenbar ist er während des Seminars umgekippt, und als er im Krankenhaus ankam, war es schon zu spät.«

»Wie ist er ins Krankenhaus gekommen?« fragte Astrid.

»Das weiß ich alles noch nicht. Aber etwas anderes weiß ich: Ralf Poorten ist bei Bülows Eltern gewesen, und das ist noch gar nicht so lange her, im letzten August, meinten sie.«

Heinrichs schaute auf die Todesanzeige. »Mehr als ein halbes Jahr später? Was wollte er denn?«

»Das wußten die Eltern auch nicht so genau. Er hat ihnen erzählt, daß er auch bei dem Seminar war, daß er dabei war, als ihr Sohn bewußtlos wurde. Es war bei einer Meditation, wo sie irgendwelche Sprachübungen gemacht haben. So genau haben die Eltern den Poorten nicht verstanden.«

»Glossolalie«, nickte Astrid. »Darüber habe ich mal was in so einem Esoterikbuch gelesen. Haben die Eltern denn nicht im Haus Barbara nachgefragt?«

»Nein, das sind sehr einfache Leute. So was kommt denen gar nicht in den Sinn.«

»Wieso besucht Poorten die erst nach sieben Monaten?« dachte Toppe laut nach.

»Was ist mit den anderen Namen auf dem Zettel?« fragte sich Heinrichs.

Van Appeldorn nickte. »Kirsten Glade und Frank Toenders sind in Kleve nicht gemeldet, aber die Adressen von Alexander Wirtz und Claudia Hamaekers habe ich. Ich hatte eigentlich vor, die der Reihe nach zu überprüfen, aber jetzt … Was denkst du, Helmut, wäre es nicht einfacher, gleich mit den Leitern dieser netten Einrichtung zu sprechen und mal zu gucken, ob die wirklich so reinen Herzens sind?«

»Wenn die tatsächlich Dreck am Stecken haben, und sei es auch nur unterlassene Hilfe, und Poorten ist dahintergekommen und hat denen das auch serviert, dann hatten die doch allen Grund.« Mit Heinrichs gingen die Pferde durch. »Ja, paßt eigentlich alles. Die wollten dem gar nicht ans Leben, sondern ihm vielleicht bloß einen Denkzettel verpassen. Nur leider ist der ein bißchen zu hart ausgefallen.«

»Walter«, verdrehte Toppe die Augen. Ackermann hatte die ganze Zeit kein Wort gesagt und schaute jetzt ziemlich belämmert von einem zum anderen. »Un’ wat is’ jetz’ Sache? Ich mein, wat tun wer denn nu? Isset vorbei mit de Boote un’ mit Grieth un’ all dat?«

»Nein«, beschloß Toppe. »Das ganz bestimmt nicht.«

Sie teilten gemeinsam den Tag ein.

Als sie schon auf dem Parkplatz waren, fiel es Ackermann wieder ein: »Gott, Chef, hab ich fast verschwitzt. Wegen dem Verputzen.«

Toppe hatte keinen Schimmer.

»Die Schlitze un’ die Placken da in Ihre Eingangshalle! Ich hätt da einen, Heinz Vermoelen, is ’n Nachbar von mir. Der käm heut abend ma’ ebkes bei Ihnen kucken, wenn ’t recht is’. Wat ich die ganze Zeit schon fragen wollte: Wat haben Sie da ei’ntlich an Ihre Hand, Chef?«

»Halb so wild, nur an einer Wand aufgeschürft.«

»Aua!« Ackermann pfiff durch die Zähne. »So wat tut gemein weh. Wenn ich Sie war, würd ich da allerdings Luft dranlassen. Dat heilt dann viel schneller.«

»Schade, daß es hier kein Hotel gibt«, murrte Astrid vor sich hin, als sie wieder einmal ihr Auto auf dem Griether Markt abstellte. »Lohnt sich kaum noch, daß man nach Hause fährt.«

Sie ärgerte sich sowieso, daß sie sich die Schlappe geleistet hatte. Aber vor allem wurmte es sie, daß van Appeldorn darauf gestoßen war. Ausgerechnet van Appeldorn, der sie von Anfang an nicht für voll genommen hatte. Die ganzen ersten Jahre hatten sie sich ständig gefetzt, aber in letzter Zeit war es ruhiger geworden, und dann heute wieder dieser Tenor. Scheißkerl! Außerdem hatte sie Bauchschmerzen.

Der alte Schmitz hatte sich ja schon bei ihrem ersten Gespräch nicht gerade vor Freundlichkeit überschlagen, aber heute war er geradezu feindselig. Er ließ sie nicht einmal ins Haus, sondern fertigte sie auf der Eingangstreppe ab. CDU-Ortsverband? Selbstverständlich war er zur letzten Sitzung gegangen. Wann sollte das gewesen sein? Am 9. Februar? Gut möglich. »Ich habe Ihnen doch gestern schon gesagt, daß ich von nichts weiß. Wieso sollte das heute anders sein?«

»Na ja, Sie hatten ja auch vergessen, daß Sie am 9. Februar auf der Sitzung waren …«

Hinterher war er bei Lambertz in der Kneipe gewesen, wie immer. Mit wem? Mit Werner Albers und Gottfried Klinger. »Später ist der junge Albers auch noch gekommen.«

»Wann war das?«

»Kann mich nicht mehr erinnern.«

Wann sie nach Hause gegangen waren, wußte er auch nicht mehr, vielleicht um elf, konnte auch schon zwölf gewesen sein.

Astrid stand schon wieder auf der Straße. »Ach, Herr Schmitz, Sie wissen nicht zufällig, wann ich Herrn Klinger heute erreichen könnte?«

Er sah sie herablassend an. »Natürlich weiß ich das. Ich sagte doch gestern schon, wir sind hier alle eine große Familie. Gottfried arbeitet bis vier Uhr und ist pünktlich um Viertel nach fünf zu Hause.«

Na fein, dachte Astrid, wenn die Leute hier alle so nett sind, habe ich bis dahin Frostbeulen.

Ein alter Mann in brauner Mönchskutte öffnete ihnen und starrte sie erschrocken an, als sie sich vorstellten.

»Ja, ja, ja, ich hole den Hirten«, brabbelte er und lief davon.

Van Appeldorn sah ihm verblüfft nach. »Der hat sie nicht alle! Wen will der holen?«

Bernhard Mühlenbeck sah aus, als käme er von einer Beerdigung. Er trug einen schwarzen Anzug mit weißem Hemd und schwarzer Krawatte und einen melancholischen Ausdruck im Gesicht. Er nahm Toppe und van Appeldorn mit in sein aufdringlich gediegenes Büro, schob zwei Stühle vor den Schreibtisch, bat sie förmlich, Platz zu nehmen, und setzte sich in den Chefsessel.

Van Appeldorn grinste breit und rückte mit seinem Stuhl weg bis an die Schreibtischecke, so daß Mühlenbeck sie nicht beide zusammen im Blickwinkel hatte.

»Geht es immer noch um Ralf Poorten?«

»Es geht um Karsten Bülow«, sagte van Appeldorn.

»Um wen, bitte?« Mühlenbecks ganze Gestalt war ein einziges Fragezeichen.

»Um den Jungen, der voriges Jahr auf einem Ihrer Seminare einen epileptischen Anfall hatte«, erklärte Toppe.

»Und der daran gestorben ist«, ergänzte van Appeldorn.

Mühlenbeck verzog voller Schmerz das Gesicht. »Guter Gott, ja, eine grausame, furchtbare Geschichte.«

»So grausam, daß Sie den Namen des Jungen vergessen haben«, stellte van Appeldorn fest.

»Wie bitte?« Die Empörung in Mühlenbecks Stimme paßte nicht zu seinem Gesicht.

»Können Sie uns sagen, was genau passiert ist?« fragte Toppe beschwichtigend.

»Ich verstehe zwar nicht, was das nach all der Zeit … aber natürlich, ich war ja dabei.« Mühlenbeck schloß die Augen und rieb sich mit Daumen und Mittelfinger die Nasenwurzel. »Es war während einer unserer meditativen Übungen mit Kerzenlicht. Um letztendlich zum tiefsten Punkt der Versenkung zu finden, sind sprachliche Übungen ein gutes Mittel.«

»Lallen?« hakte Toppe nach.

»So könnte man es nennen. Jedenfalls passierte es dabei. Es war erschreckend. Wir haben sofort den Notarzt gerufen.«

»Bitte schildern Sie uns genau, was passiert ist.« Toppe ließ nicht locker.

Mühlenbeck seufzte. »Nun, bei den Glossolalieübungen fing der Junge plötzlich an zu zucken. Daß es sich um etwas Schlimmeres handeln mußte, haben wir erst bemerkt, als Blut aus seinem Mund kam. Er hatte sich die Zunge durchgebissen. Außerdem hatte er auch Schaum auf den Lippen.«

»Hatte der Junge seine Medikamente genommen?«

Mühlenbeck sah Toppe bedauernd an. »Das kann ich Ihnen leider nicht sagen. Ich wußte doch gar nicht, daß der Junge krank war.«

»Interessant«, fuhr van Appeldorn dazwischen. »Eine ärztliche Betreuung haben Sie hier vermutlich nicht.«

»Nein, wozu?«

»Sehr interessant. Die Jugendlichen legen Ihnen auch kein Gesundheitszeugnis vor, nehme ich an.«

Mühlenbeck funkelte ihn an. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, worauf Sie hinauswollen, aber Ihr Ton gefällt mir nicht.«

»Nicht?« Van Appeldorn lächelte ölig. »Ich sammele nur Informationen, das ist alles.«

»Und Ralf Poorten war dabei, als die Sache mit Bülow passierte?«

Mühlenbeck drehte sich wieder zu Toppe und überlegte. »Daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Da müßte ich in meinen Unterlagen nachschauen.«

»Sparen Sie sich das«, übernahm van Appeldorn wieder. »Er war dabei. Aber Sie haben Unterlagen über die einzelnen Seminare, Teilnehmerlisten?«

»Selbstverständlich.«

»Das ist sehr gut. Dann wollen wir uns die doch mal ansehen.« Van Appeldorn zeigte auf die Regale, aber Mühlenbeck blieb sitzen.

»Sie werden Ihre Nase auf gar keinen Fall in unsere Papiere stecken. Ich nehme den Datenschutz nämlich sehr ernst. Oder haben Sie eine richterliche Anordnung?«

»Nein, aber ich freue mich, daß Sie die Frage gestellt haben.«

Toppe holte einen Zettel aus der Innentasche seines Mantels. »Sagt Ihnen der Name Alexander Wirtz etwas?«

Mühlenbeck schüttelte den Kopf.

»Claudia Hamaekers, Kirsten Glade, Frank Toenders?«

Immer nur Kopfschütteln.

»Die waren samt und sonders bei Ihnen auf einem Seminar«, sagte van Appeldorn. »Darauf wette ich.«

Bernhard Mühlenbeck sah auf seine Uhr. »Also, meine Herren, da kann ich Ihnen im Augenblick nicht helfen.«

»Selbstverständlich könnten Sie uns helfen«, unterbrach ihn Toppe. »Sie könnten uns Einblick in Ihre Unterlagen gewähren.«

Mühlenbeck blieb fest. »Dazu habe ich Ihnen meine Ansicht bereits mitgeteilt.«

»Gut«, meinte Toppe ruhig. »Zwei Fragen hätten wir noch: Hat es bei Ihnen noch einmal einen ähnlichen Vorfall gegeben wie mit Karsten Bülow?«

»Das hätte ich Ihnen doch längst gesagt!«

Van Appeldorns Kommentar war nicht zu verstehen.

Toppe nickte. »Dann stelle ich Ihnen die letzte Frage für heute: Hat Poorten Sie auf Karsten Bülow angesprochen?«

»Ralf? Nein, warum? Ich kann mich nicht mal erinnern, ob Ralf danach noch einmal bei einem Seminar gewesen ist. Hören Sie, ich mache Ihnen einen Vorschlag: Sie lassen mir die Namen hier, und ich schaue in den Unterlagen nach und spreche auch mit meiner Frau und mit Bruder Ignatius.«

»Eine gute Idee«, lächelte van Appeldorn ihn an. »Sie hören dann morgen wieder von uns.«

»Mußtest du so hart rangehen?« schimpfte Toppe, kaum daß sie aus dem Haus waren.

Van Appeldorn blieb stehen. »Was ist denn in dich gefahren? Das ist doch bloß eine verfluchte Abzockertruppe, die die Blödheit von Minderjährigen ausnutzt!«

»Stimmt. Trotzdem haben deine moralischen Bedenken in einer Vernehmung nichts zu suchen.«

»Sag mal, spinnst du jetzt? Ach, mir geht ein Licht auf! Du bist sauer, weil ich Astrid angemacht habe.«

»Das war auch verdammt überflüssig«, antwortete Toppe wütend. »Walter und ich haben denselben Mist gebaut.«

Van Appeldorn hielt ihn an der Schulter fest. »Ist schon in Ordnung, Helmut, du hast recht. Es tut mir leid. Ich bin wohl doch noch nicht wieder so ganz fit. Aber die richterliche Verfügung für morgen besorge ich mir trotzdem.«

Toppe knurrte nur.

Christian verzog gequält das Gesicht. »Ich will nicht streiten, Mutter.« Seit über einer halben Stunde versuchte Gabi, ein einigermaßen vernünftiges Gespräch mit ihm zu führen, aber er tauchte dauernd weg, ließ sich auf nichts ein.

»Aber ich!« schrie sie und knallte die Broschüre auf den Fußboden. »Du bist nicht mehr gescheit! Ich verbiete dir, noch einmal zu diesen Leuten zu gehen. Schluß damit, verstanden? Noch bist du nicht volljährig.«

»Ach, Mama«, sagte er nur traurig und stand auf.

»Wo willst du hin?«

»Ins Altenheim.«

»Von wegen! Du bleibst schön zu Hause, mein Lieber.«

»Ich muß zu Opa Czesnik.«

»Wer ist das?«

»Das ist. mein Freund. Er kann jeden Tag sterben, und ich will ihn sehen.«

»Gehört der auch zu diesen. Leuten?«

Christian hielt kurz die Luft an. »Nein«, meinte er dann, »der bestimmt nicht.«

Sie drehte sich weg und legte die Hände vors Gesicht.

»Mama.« Er umfaßte sie von hinten und küßte sie linkisch aufs Haar. »Ich bleibe nicht lange, okay?«

Wer auch immer Alexander Wirtz sein mochte, sein Elternhaus lag nicht gerade in der feinsten Wohngegend von Kleve. Toppe wich naserümpfend einem Hundehaufen aus und schaute hoch zu den nackten Fenstern des Wohnblocks. Eine Haustür gab es nicht mehr, die meisten Klingelschilder waren nicht beschriftet. Den Namen ›Wirtz‹ fanden sie jedenfalls nicht am Block mit der Nummer 5, wo er eigentlich hätte sein sollen. Van Appeldorn streckte die Hand aus, zögerte dann aber und sah Toppe an. Der grinste versöhnlich; er wußte, daß Norbert in solchen Fällen gern die ganze Hand auf die Klingeln legte und genüßlich das Chaos abwartete. Aber da kam auch schon eine hutzelige Frau um die Ecke, in jeder Hand einen prallgefüllten Nylonbeutel. Sie ließ sie zu Boden plumpsen.

»Wer seid ihr denn?«

»Wir suchen die Familie Wirtz«, sagte Toppe nur.

»Kripo«, fügte van Appeldorn gern hinzu.

Sie musterte ihn. »Kripo, so so? Familie Wirtz, aha. Da kommen Sie zu spät, würde ich meinen.«

Sie mußte weit über Siebzig sein, und sie stank nach Urin und saurer Milch. »Der Alte ist heute morgen in den Bau gegangen. Ihr wollt Bullen sein und wißt dat nicht? Zeigt mir doch mal eure Marken!«

Van Appeldorn zückte seinen Dienstausweis und hielt ihn ihr so dicht unter die Nase, daß sie zurückstolperte.

»Und wo ist Frau Wirtz?« fragte Toppe.

»Wat weiß denn ich? Die hab ich schon wochenlang nich’ gesehen. An deren Stelle hätte ich schon vor Jahren in den Sack gehauen. Der Alte hat die doch regelmäßig durchgelassen.«

»Eigentlich möchten wir mit Alexander Wirtz sprechen«, hob Toppe wieder an.

»Mit dem Ali? Ha!« Sie verzog das Gesicht zu einer komischem Grimasse, eine einzige ausgemergelte Faltenlandschaft. »Der sitzt schon lang in Bedburg.«

»Wo?« Toppe hatte sie kaum verstanden, weil sie anscheinend plötzlich ihre Stimme verloren hatte.

»In der Klapsmühle«, schrie sie ihm ins Ohr. »Der is’ nich’ ganz dicht, verstehst du?«

Es kostete sie eine Menge Überredungskunst, einen Kaffee, ein Stück Schwarzwälder Kirsch, vier Schnäpse, die verächtlichen Blicke der Serviererin im nächstgelegenen Café und über eine Stunde Zeit, dann endlich hatten sie ein Bild: Wirtz war ein Säufer, der ab und an einen kleinen Bruch machte. Seine Frau hatte in den letzten zwei Jahren mehr Zeit im Frauenhaus verbracht als in der Wohnung. Sie hatten fünf gemeinsame Kinder. Nach ewigem Hin und Her waren inzwischen vier davon dauerhaft in Pflegefamilien untergebracht. Alexander, oder Ali, wie die Hutzelfrau ihn nannte, der Älteste, war der einzige, der ständig bei den Eltern gelebt hatte, und »Mutters Augäpfelchen«. Eine Zeitlang war er sogar auf die Penne gegangen und hatte »in anderen Kreisen verkehrt«, hatte »seinen Alten sogar die Pfaffen auf den Hals gehetzt«.

»Jedenfalls is’ der dann mal von so ’ner Kirchengeschichte nich’ mehr nach Hause gekommen, weil er wohl die Engelkes fliegen sah. Un’ seitdem sitzt der Kerl in Bedburg.«

»Was für eine Kirchengeschichte?« hatte Toppe gefragt.

»Fragen Se mich! Irgendwat vonne reinen Seele oder so. Dat, wat die einem immer so verkaufen wollen.«

Sie saßen kaum im Auto, als van Appeldorn grau in sich zusammenfiel.

»War wohl doch ein bißchen viel für dich«, meinte Toppe besorgt.

Van Appeldorn schwieg.

»Es ist sowieso zu spät, jetzt noch nach Bedburg zu fahren. Du kannst also ruhig Feierabend machen. Soll ich dich zu Hause absetzen?«

»Nee, ich fahre mit zum Präsidium«, quetschte van Appeldorn durch die Zähne. »Ich brauche mein Auto.«

Toppe machte es sich im Ledersessel bequem, legte die Beine auf den Tisch und genoß die Ruhe in seinem Chefbüro. Damit würde es wohl nächste Woche vorbei sein. Er ließ seinen Gedanken freien Lauf, und je länger er nachdachte, um so frischer fühlte er sich. Dieser Fall kriegte endlich Hand und Fuß.

Zweimal störte ihn das Telefon. Beim ersten Mal war es Arend Bonhoeffer, der ihn und Astrid für morgen abend einladen wollte. »Sofia bereitet in Antwerpen eine Ausstellung vor, und ich habe das Strohwitwerdasein langsam dicke. Ich koche uns auch was. Wäre Rehrücken genehm?«

»Perfekt«, lachte Toppe.

»Und frag doch Gabi, ob sie auch Lust hat.«

»Die wollte mit Peter übers Wochenende wegfahren. Nach Amsterdam, glaube ich.«

»Was ist mit Walter? Den hab ich seit einer Ewigkeit nicht gesehen.«

»Lust hat der bestimmt, aber ich habe meine Zweifel, ob dann ein Rehrücken ausreicht.«

»Das laß nur meine Sorge sein.«

Der zweite Anruf kam von Astrid. »Ich bin immer noch in Grieth. Der alte Schmitz sagt mir, er hätte einfach vergessen, daß am 9. die Sitzung war. Gerade hab ich mit Klinger gesprochen. Der meinte, seine Frau hätte wohl auch einfach nicht daran gedacht. Ich weiß jetzt, wer nach der Sitzung noch bei Lambertz in der Kneipe war.«

»Stop mal«, unterbrach Toppe ihren müden Redefluß. »Du hörst dich furchtbar an. Ist es wegen Norbert heute morgen?«

»Ach, ich bin einfach kaputt. Also, in der Kneipe waren nur Klinger, Schmitz und der alte Albers. Später ist dann noch dessen Sohn dazugekommen. Die anderen Leute vom CDU-Ortsverband sind sofort nach Hause gegangen. Ich habe alle gesprochen, bis auf die Albers, und da gehe ich jetzt hin.«

»Astrid«, Toppe wäre gern bei ihr gewesen, »das kannst du ebenso gut morgen erledigen. Du mußt niemandem beweisen, daß du gute Arbeit leistest. Das wissen wir.«

»Ach!« Sie ließ ihn nicht an sich heran.

»Was ist los, Liebes?« fragte er eindringlich.

»Ich weiß nicht, vielleicht ist es ja bloß die Mens.«

»Komm nach Hause«, sagte er leise. »Ich warte mit einer Wärmflasche und einer Decke, ja? Tee oder Kakao?«

Er konnte sie lächeln hören. »Kakao – mit Rum und ganz viel Zucker. Ich beeile mich mit dem Albers, okay?«