12
Astrid war als Kind irgendwann schon einmal in Grieth gewesen, auf einem dieser sonntäglichen Ausflüge, die ihr Vater immer mit ihr unternommen hatte, wenn er wieder mal, aufgedreht wie ein kleiner Junge, ein neues Auto ausprobieren wollte. Erinnern konnte sie sich aber nur noch an den gigantischen Eisbecher, den er in einem Café für sie bestellt hatte; die Kellnerin hatte einen dichten Damenbart gehabt, und Astrid hatte vor lauter Kichern kaum essen können. Es mußte ziemlich lange her sein.
Gelesen hatte sie natürlich immer wieder mal von dem malerischen Fischerdörfchen, von der Fußgängerfähre, die neulich ihren Betrieb wieder aufgenommen hatte.
Das klotzige Kriegerdenkmal aus grauem Beton gleich am Ortseingang war allerdings wenig malerisch.
Sie hatte keine Ahnung, wo der Jugendkreis sich traf, aber es war sicher nicht falsch, in der Nähe der Kirche zu suchen, und wie es aussah, gab es hier nur eine. Die Hauptstraße war eng, die schmucken Häuser drängten sich dicht heran. Selbst jetzt im tiefsten Winter hingen überall Blumenkästen vor den Fenstern, Eriken und Silberkraut. Vor einer Haustür standen zwei große Kübel mit krähroten Plastikgeranien.
Die Straße endete auf einem rechteckigen Platz, Griether Markt las Astrid, auf dem dicht an dicht Autos geparkt waren. Nachdem sie einmal ums Geviert gerollt war, fand sie endlich eine enge Lücke am Straßenrand, gleich vor der Sparkasse, einem Gründerzeithaus, frisch gestrichen in sonnengelb und braun. Im kleinen Wohnhaus gleich daneben war das Heimatmuseum untergebracht: Sie sind uns willkommen samstags auf Anfrage, sonntags von 14 bis 17 Uhr. In den Sprossenfenstern standen Schiffsmodelle.
Sie schloß den Wagen ab und sah sich um. Hier war nicht gerade der Bär los, eine Volksbankfiliale, ein Postamt, eine Bäckerei. Schräg links gegenüber am anderen Ende des Marktes lugte der Kirchturm über die Hausdächer.
Kein Mensch war zu sehen, trotzdem hatte sie das Gefühl, daß sie beobachtet wurde. Als sie jetzt den Platz überquerte, entdeckte sie die vielen alten Gesichter hinter den Fensterscheiben. Altenheim St. Martin. Astrid hob grüßend die Hand, aber kaum einer reagierte.
Das Pfarrbüro war das letzte Gebäude vor der Kirche. Sie klingelte, doch es blieb alles still. Durch das erste Fenster konnte sie lange Bücherwände erkennen, das war sicher die Pfarrbibliothek; vor allen anderen Fenstern hingen Gardinen. Halbherzig drückte sie noch einmal auf den Klingelknopf. Mit Pfarrbüros schien sie nicht viel Glück zu haben.
Aus dem Haus links kam eine junge Frau, warf ihr einen kurzen Blick zu und entfernte sich rasch. An der Hand hatte sie ein kleines Kind, das in seinem grünen Skianzug fast ertrank und sich mit durchgedrückten Knien mitzerren ließ.
»Entschuldigen Sie«, rief Astrid, aber die Frau drehte sich nicht mehr um. »Danke, sehr freundlich.«
Na gut, dann also mal wieder die Kirche. Durch ein Tor, in dem am Scheitelpunkt ein Kreuz eingearbeitet war, kam man auf den Vorplatz. Die Kirche war recht klein, mit nur einem Seitenschiff, und rundum von Rasen und alten Rhododendronbüschen umgeben. Das Haupttor war sichtlich schon lange nicht mehr benutzt worden, denn gleich davor befand sich ein beeindruckendes Taubenklo. Die Viecher gurrten über ihrem Kopf, saßen auf jedem Kragstein. Die Tür an der linken Seite war auch abgeschlossen. Das Grundstück grenzte an den Deich, ein paar Stufen führten über die Mauer hinauf. Sie waren ganz neu, Sand und Steine lagen daneben, ein Geländer gab es noch nicht. Astrid stieg trotzdem hoch, aber ein harter Wind, der vom Fluß her gefegt kam, nahm ihr den Atem, und sie zog den Kopf ein. Ein zweiter Ausgang führte auf eine kurze Gasse, in der sich niedrige Häuschen an den Deich duckten.
»Hallo«, rief eine barsche Stimme. »Was suchen Sie denn da?«
Aus einem der Häuser lief eine ältere Frau auf sie zu. Sie trug eine graue Kittelschürze und hohe braune Pantoffeln. Über die Schultern hatte sie einen Tweedmantel geworfen, den sie mit der linken Hand unterm Kinn zusammenhielt.
»Guten Morgen«, ging Astrid auf sie zu und beschloß, daß diese Situation eine der wenigen war, wo der Dienstausweis richtig gut kam.
»Oh, ach so!« Die Frau entspannte sich, war aber keineswegs eingeschüchtert. »Sie müssen schon entschuldigen, aber man kann gar nicht genug aufpassen mit all diesen Randalierern heutzutage.«
»Haben Sie denn hier in Grieth Probleme damit?«
»Bis jetzt noch nicht, aber man weiß ja nie. Liest man doch jeden Tag von in der Zeitung.« Sie streckte energisch ihr rundes Kinn vor. »Ich hab jedenfalls immer ein Auge drauf, wenn Unbefugte hier rumlungern.«
Nicht nur du, dachte Astrid; in mindestens zwei Häusern hinter ihr bewegten sich die Gardinen.
»Ist ja auch quasi meine Aufgabe«, redete die Frau weiter. »Ich mache ja unserem Pastor den Haushalt.«
Astrid nahm ihr Glück gelassen hin. »Dann bin ich genau an der richtigen Adresse, Frau.«
»Jansen!«
»Frau Jansen. Den Pastor suche ich nämlich.«
»Unseren Pastor? Der soll Ärger mit der Polizei haben!« Sie senkte ihre Stimme zu einem spröden Flüstern. »Mir können Sie das ruhig erzählen. Ich bin ja sozusagen eine enge Vertraute.«
Astrid biß sich fest auf die Lippen, aber das Lachen blitzte ihr aus den Augen. »Nein, nein. Ich habe nur ein paar Fragen, bei denen er mir hoffentlich weiterhelfen kann.«
Frau Jansen raffte eingeschnappt ihren Mantel enger. »Tja, dann schellen Sie am besten mal bei ihm. Der müßte zu Hause sein. Sein Auto steht jedenfalls da.«
Astrid konnte nicht erkennen, über welches Fahrzeug sie ihren Blick hatte gleiten lassen. Die Frau machte einen Arm frei und zeigte auf die andere Seite des Platzes. »Das Haus neben Lambertz.«
»Lambertz?«
»Das ist die Wirtschaft da vorne! Direkt links daneben wohnt der Pastor.«
Aha, das Haus mit den Plastikgeranien. Hätte sie eigentlich drauf kommen müssen, denn an jedem Fenster von Frau Jansens Haus flammten dieselben Blüten in grünen Kästen, im Obergeschoß sogar in rankender Variante.
Astrid bedankte sich sehr höflich und wollte sich schon abwenden, als ihr einfiel: »Wie heißt Ihr Pastor eigentlich?«
»Horst Deckers«, antwortete Frau Jansen fahrig und blieb mit offenem Mund stehen. Und die wollte bei der Kripo sein!
Die Restauration Lambertz sah nicht aus wie eine Kneipe, eher wie ein Tante Emma Laden. Durch die verstaubte Fensterscheibe konnte Astrid ein buntes Sammelsurium erkennen: Putzmittel, Zucker, Mehl, Linsen, Obstkonserven, Caro Kaffee, Gummistiefel, Klopapier, Essiggurken, Insektenspray. Zwei ausgetretene Stufen führten zur Tür hoch. Der Laden war verwaist. Ob man da durch mußte, wenn man in den Schankraum wollte? Im zweiten Fenster Glitzerpracht. Astrid blieb stehen. Rosenkränze in verschiedenen Ausführungen, ein schimmernder Kelch, dicke gelblichweiße Kerzen mit goldenen Verzierungen und vier von den Kreuzen, die sie schon bei Ralf Poorten und Christian gesehen hatte, ein Ständer mit Postkarten, auf denen dasselbe Kreuz abgebildet war, allerdings mit einem Dach darüber, ein Wegkreuz oder ein Marienhäuschen.
Sie war immer noch in Gedanken, als sie beim Pastor klingelte.
Der Mann, der ihr öffnete, starrte sie entgeistert an. »Du liebe Güte!« Und dann lachte er dröhnend.
Auch Astrid stand recht fassungslos da. Sie hatte mit dem Pastor gerechnet, aber nicht mit diesem muskelbepackten Kerl in gleißender Jogginghose und naßgeschwitztem Achselhemd.
»Bitte, entschuldigen Sie«, lachte der Mann noch immer, »aber ich hatte jemand anders erwartet.«
»Ich möchte zu Pastor Deckers«, sagte Astrid, als sie ihre Sprache wiedergefunden hatte.
Er hielt ihr die Haustür weit auf. »Der bin ich! Kommen Sie nur herein.«
Sie zögerte, schüttelte leise den Kopf.
»Nein, nein«, kämpfte er immer noch mit seinem Lachen. »Keine Sorge. Ich war nur gerade beim Training.« Er schob sie beinahe vor sich her in ein kleines Arbeitszimmer. »Setzen Sie sich schon mal. Ich ziehe mir nur schnell was über.«
Das Zimmer war bis auf den letzten Zentimeter mit Möbeln zugestopft: Bücherregale mit Fachliteratur, an den wenigen leeren Stellen Wandteppiche, geknüpft und gestickt, die meisten übelst modern aus den siebziger Jahren, eine beigefarbene Couch mit zwei Sesseln und einem niedrigen Teakholztisch. Am schlimmsten war wohl das eichene Stehpult mit den fetten Schnitzereien in der Mitte des Zimmers.
Hier stand die Zeit, war angehalten worden, irgendwann vor zwanzig Jahren, als der Mann so um die Dreißig gewesen sein mußte.
Sie kam nicht dazu, sich die Fotos anzusehen, die neben der Telefonanlage in silbernen Rahmen auf dem Schreibtisch standen. Deckers war schon wieder da, jetzt ganz pastormäßig in anthrazitfarbenen Flanellhosen, einem schwarzen Pullover und weißem Hemdkragen. Er hatte sich wirklich rasch was übergezogen, über den ganzen Schweiß.
»So, da wären wir«, kollerte er. »Jetzt schauen Sie mich nicht so an. Auch ein Pastor muß sich fit halten. Nehmen Sie Platz und erzählen mir, was ich für Sie tun kann.«
Astrid setzte sich auf die Sofakante und erklärte ihm, wer sie war, aber er merkte, daß sie immer noch staunte.
»In meiner Jugend habe ich geboxt«, er schmunzelte, »doch das schickt sich nicht mehr für so einen wie mich.«
»Und jetzt machen Sie Bodybuilding?«
»Warum denn nicht? Mens sana … Sie wissen schon.«
Ein lustiger Vogel, der Mann, aber weiterhelfen konnte er ihr nicht.
»Die Jugendarbeit überlasse ich inzwischen völlig meinem Kaplan. Und Sie können mir glauben, daß ich sehr froh darüber bin. In meinem Alter – das sage ich nicht gern, aber auch ich muß den Tatsachen ins Auge sehen – in meinem Alter hat man doch nicht mehr so den rechten Zugang zur Jugend. Aber unser Kaplan ist der richtige Mann dafür. Der geht ganz darin auf. Nur leider …«
Der Kaplan war im Augenblick nicht in Grieth, sondern auf der Taufe seiner Nichte in Meiderich und würde erst spät am Sonntag zurückkommen.
Von dem Toten im Rhein hatte Pastor Deckers natürlich in der Zeitung gelesen, aber der Name Ralf Poorten sagte ihm nichts. Er erzählte das alles sehr sachlich, ohne aufgesetzte Rührung oder Mitleid. »Unsere Dorfjugend? Die werden den Jungen wohl gekannt haben, wenn Sie sagen, daß er in unserem Jugendkreis war. Aber Sie haben sich eine dumme Zeit ausgesucht, wenn Sie mit denen sprechen wollen. Die sind doch jetzt alle in der Schule.«
Der Jugendkreis war offen für jeden, von montags bis freitags immer von 19 bis 21.30 Uhr.
»Am besten wäre es wohl, Sie gingen am Montag abend einfach mal hin. So gegen acht. Da treffen Sie alle, auch den Kaplan.«
Der Pastor begleitete sie bis vor die Haustür. »Vielleicht sieht man sich einmal wieder«, meinte er, aber es klang ein wenig gezwungen.
Astrid wollte sich noch ein bißchen umsehen, wenn sie schon einmal hier war, zumindest einen kurzen Blick auf den Rhein werfen. Am Heimatmuseum vorbei führte ein Weg zum Deich. Sie hatte das Ende des Pfades noch nicht erreicht, als der Eiswind sie wieder packte. Nächstes Mal, sagte sie sich, kehrte um und kroch in ihr warmes Auto.
»Wie war dat doch noch mit dem Kleckern un’ dem Klotzen?« Ackermann staunte nicht schlecht. »Wo ich dat letzte Mal hier war, waren se die Halle gerade am bauen, aber den Prachtschuppen mit de Goldschrift, den hatt ich noch nich’ gesehen.«
Es ließ sich nicht länger vermeiden. »Sie kennen also die Werft?« fragte Toppe geduldig, aber der übliche Wortschwall blieb aus.
»Klar«, nickte Ackermann nur, »ich segel doch schon von Kind an.« Dann kniff er die Augen zusammen. »Wenn mich nich’ alles täuscht, is’ dat da vorne der Franz, der alte Gauner. Ej, Franz!« brüllte er und lief los.
Franz Roeloffs, der gerade dabei war, eine dicke Kette um einen Motorblock zu schlingen, hielt inne und sah stirnrunzelnd auf. »Ach nee!« Das breite Grinsen nahm ihm all seine Bärbeißigkeit. »Der Jollenschänder aus Kranenburg!«
»Wieso?« meckerte Ackermann und mimte Entrüstung. »Dat war ich doch gar nich’ in schuld. Ich war doch in Lee, un’ der andere Torfkopp mit seiner 420er in Luv. Der hat doch au’ die Rechnung bezahlt damals.«
Franz Roeloffs schlug ihm seine Pranke auf die Schulter. »Hätteste ja trotzdem mal Ausguck halten können, oder? Sonst kommste noch mal unter ’nem Tanker zu liegen und weißt nicht mal, wie de dahingekommen bist. Aber bei deiner Brille haste bestimmt beim Prüfer dat Deck geschrubbt, damit du durch den Sehtest kommst, oder wie hab ich dat? Versenkste immer noch im Altrhein?«
Ackermanns Augen blitzten vergnügt. »Nee, ich bin jetz’ in Plasmolen. Dat Revier is’ besser un’ die Frittensoße auch.«
Franz Roeloffs zwinkerte ihm zu. »Un’ wenn du mal wieder gegen den Steiger bretterst, sagste einfach: nix verstehn, ich deutsch, wa?«
Lachend zog er einen Lappen aus der Hosentasche und wischte sich die Hände ab. »Warst lange nicht mehr da, Jupp. Bist du jetzt in ’ner Trockenmarina, oder hast du ’ne andere Werft?«
»Ach, weißte, mein Schwager is’ aus Cuyk, un’ der hat ’en guten Draht nach Plasm olen, un’ da krieg ich alles zum Schmuggeltarif. Bei dir is’ ja immer schon Luxusyachtzuschlag gewesen.«
»Ich mache ja auch Deutsche Wertarbeit. Bei den Friesen wird das Leck ja immer mit Epoxy gestopft, und den Rest muß die Lenzpumpe rausdrücken.«
Toppe war inzwischen herangekommen und hörte amüsiert zu.
Ackermann winkte ab. »Nee, Franz, auf deine Arbeit laß ich nix kommen. Dat hab ich auch gegen mein Schwager gesacht. Der Franz, hab ich gesacht, also, der macht kein Pröllekram. Un’ die Mahagoniketsch, die der baut, sach ich noch, die is’ dat schärfste Schiff, dat ich in mein ganz’ Seglerleben gesehen hab. Machste die ei’ntlich noch? Ich hab schon rumgeguckt.«
»Dat is’ ’ne Yawl, du Bilgenfisch! Und Mahagoni ist nur innen, aber wie: Vollholz. Klinkerbeplankung, Langkieler, Fock und Genua, Besan mit Besanstag, Vierzehnmetermast mit Gaffel und schnell wie ein Torpedo. Ist ja auch nur zwei fuffzig schmal, liegt aber wie ein Kind in der Wiege. Die kriegst noch nicht mal du auf die Backe gelegt. Klar, bau ich die noch. Aber nur auf Anfrage und gegen Vorkasse.«
»Un’ wieso machste jetz’ diese Zuhälterschleudern mit Bakelitrumpf aus Taiwan un’ Sonnendeck für de Bikinibräute?« fragte Ackermann unvermittelt ernst.
Roeloffs zog die Brauen zu einem dicken Strich. »Rechnet sich besser.«
»Tut dir dat denn nich’ weh in deine alte Seglerseele?«
»Wenn du mit deiner BM in ’ner Flaute liegst, und die Strömung treibt dich auf Legerwall, dann packst du doch auch den Jockel aus, bevor du auf die Rockies knallst, oder?«
Toppe hätte sich den Satz gern übersetzen lassen, aber eigentlich war schon klar, was Roeloffs meinte.
»Sie hatten vor ein paar Jahren ganz schöne finanzielle Probleme mit der Werft?« mischte er sich ein.
Roeloffs zuckte die Achseln. »Wer hat die heute nicht im Bootsbau?« Dann sah er Ackermann ins Gesicht. »Du bist also bloß beruflich hier?«
»Wat denks’ du denn?« antwortete Ackermann überrascht. »Wo ich mit ’m Chef komm un’ der Ralf Poorten dein Lehrjung war!«
Roeloffs Miene verfinsterte sich weiter, er machte alle Schotten dicht.
»Wo waren Sie am Freitag abend?« fragte Toppe.
»Warum?«
»Weil Ralf Poorten am Freitag abend getötet wurde.«
Ackermann wieselte dazwischen und packte Roeloffs beim Arm. »Jetz’ laß uns ma’ Klartext reden, Franz.« Er sprach leise. »Jeder im Umkreis von hundert Kilometer weiß, dat dein Laden damals den Bach am runtergehen war. Jeder weiß, dat dein Bruder die Karre aus ’m Dreck gezogen hat. Aber leider weiß au’ jeder, wat dein Bruder für einer is’, un’ dat der in seinem Leben noch nich’ ein sauberes Geschäft gemacht hat. Et war ’ne Kleinichkeit für mich, rauszukriegen, dat dat heut noch genauso is’.«
Roeloffs schüttelte Ackermanns Hand ab. »Ja? Dann mach doch! Ich verstehe bloß nicht, was Ralf.« Aber dann ging ihm ein Licht auf, und er schüttelte sprachlos den Kopf.
»Ja …« drängelte Ackermann.
»Gut!« Roeloffs sah ihm in die Augen. »Dann will ich auch mal Klartext reden. Was mein Bruder für einer ist, weiß ich selbst wohl am allerbesten. Und trotzdem sage ich dir, ich bin froh, daß der sich um die Geschäfte kümmert, denn davon versteh ich nichts, und das interessiert mich auch nicht. Wenn du meinst, du mußt uns was ans Zeug flicken, dann kann ich dich nicht davon abhalten. Aber eines will ich euch sagen: der Ralf, der war wie ein eigener Sohn für mich. Und alles, was ihr euch da in eurem kranken Hirn zusammengereimt habt, könnt ihr getrost in die Tonne kloppen.«
»Nu reg dich doch nich’ so auf«, versuchte Ackermann ihn zu bremsen. »Du meins’ also, geschäftlich läuft bei euch alles astrein?«
»Soweit ich weiß, ja. Aber ich sage doch, es interessiert mich nicht. Und den Ralf hat es auch nicht interessiert. Der wollte Boote bauen und sonst nichts, genau wie ich.«
»Is’ schon in Ordnung, Franz. Dein Bruder, is’ der im Büro?«
Roeloffs nickte nur und wandte sich ab.
»Kommste nich’ mit?«
Roeloffs hatte sich schon wieder über den Motor gebückt. »Nee, muß sehen, wie ich hier über die Runden komm ohne Lehrling«, knurrte er. »Der Geselle ist auch schon den halben Tag mit ’nem Trailer beim TÜV.«
»Und wo waren Sie jetzt am Freitag abend?« fragte Toppe.
Roeloffs richtete sich wieder auf. »Da, wo ich freitags immer bin, beim Schießen. Um sieben gehe ich in die Kneipe, esse was, dann wird geschossen, und bis ich nach Hause komme, ist es meistens zwei Uhr morgens.«
»Ach ja«, nickte Ackermann. »Schütze biste ja auch. Inne Eiche in Huisberden, ne? Dat kriegen wir schon geklärt.«
Paul Roeloffs schien es höchst amüsant zu finden, daß sie sich für sein Alibi interessierten. »Ich habe Ihnen doch schon erzählt, daß ich auf Geschäftsreise in Amsterdam war, Herr Hauptkommissar.«
»Ir’ndwer, der dat für Freitach abend bezeugen könnt?« fiel ihm Ackermann ins Wort.
Paul Roeloffs rieb sich nachdenklich die knubbelige Nase. »Unser arabischer Kunde ist schon abgereist, aber. Freitag abend. ah, genau, da sind wir. ausgegangen …« Er griente.
»Wat?« rief Ackermann. »Die Scheiche stehen auf holländische Puffs?«
»Und wie!« Roeloffs stülpte die fleischigen Lippen vor. »Ich bin sicher, daß sich zwei der Damen genau an mich erinnern.«
Wenn der sich noch mehr in die Brust wirft, dachte Toppe, hebt der gleich mit seinen Dackelbeinen ab. »Welcher Laden?« fragte er.
»Vom Feinsten natürlich. Ich führe doch unseren besten Kunden nicht in irgendeinen Bums. Wir waren im La Rose.«
»Edel geht die Welt zugrunde«, pfiff Ackermann anerkennend. »Dat möcht ich mir ma’ leisten können! Un’ wat sacht die Mutti dazu, wenn ihr Dicker so auf die Kacke haut?«
»Die?« Roeloffs lachte. »Was glauben Sie denn, wo ich die her habe?«
Als Ackermann ihn dann nach den Geschäften fragte, gab Roeloffs sich schwer gekränkt. »Bitte, meine Herren, Sie können jederzeit unsere Bücher prüfen lassen. Jederzeit! Wir haben nichts zu verbergen. Ich bin es ja mittlerweile gewöhnt, aber leicht hat man es in unserer Gesellschaft wahrhaftig nicht, wenn man sich einmal etwas hat zuschulden kommen lassen.«
»Einmal?« Ackermann schüttete sich aus vor Lachen, »’n Klassewitz, werd ich bei Gelegenheit zum besten geben.«
Sie saßen gerade erst im Auto, als Ackermann sich vorsichtig räusperte. »Äh, Chef?«
»Hm?« Toppe ließ den Motor an.
»Wat dagegen, wenn ich die Alibis überprüf? Ich mein, ich hätt sowieso nix vor dies’ Wochenende.«
Toppe konnte es sich nicht verkneifen: »Und was sagt die Mutti dazu, wenn sich ihr Dicker in solchen Etablissements rumtreibt?«
»Ach, die kennt mich doch! Außerdem könnt ich mir in dem Schuppen keine Nummer leisten. Unter tausend Eiern geht da gar nix ab.«
»Sie kennen sich aber gut aus in der Szene.«
»Logo! Wat haben Sie denn in Ihre wilden Jahre so getrieben, he?«
Toppe bog in die Haupststraße ein und lächelte. »Ich glaube, die habe ich ausgelassen.«
Ackermann sah ihn lange an. »Da könnt ich ja jetz’ wat drauf sagen, laß ich aber.«
Toppe erwiderte nichts.
»Hören Sie ma’, Chef, ich glaub, dat kratzt Sie echt, wenn die Leute lästern, von wegen Dreieckskiste, wa?«
»Dreieckskiste«, schnaubte Toppe. »Ja, stimmt, das kratzt mich tatsächlich.«
»Komisch, versteh ich nich’. Sollen doch löllen, die Leute. Wenn die sons’ nix haben im Leben – ihr Pech! Man kann sowieso machen, wat man will, ir’ndeiner zerreißt sich immer dat Maul. Also, wenn ich Sie war, ich würd den Affen richtich Zucker geben. Jede Woche inne Apotheke un’ Potenzpillen holen – Jumbopackung – un’ dafür sorgen, dat et jeder mitkriegt.«
Toppe lachte mühsam, aber Ackermann war noch nicht fertig.
»Hee«, stupste er ihn mit dem Ellbogen. »Sie müssen sich dat wirklich nich’ so zu Herzen nehmen. Dat dauert kein halbes Jahr, un’ die Leute haben wat anderes zum Quatschen gefunden. Dat kenn ich vom eigenen Leib. Wie meine Frau vor’ges Jahr ihre Ausbildung fertichgemacht hat un’ für zwei Monate nach Breda hin mußte, wat meinen Sie, wat da los war in Kranenburg! Von wegen Schnauze voll un’ abgehauen un’ hat den Alten innen Wind geschossen. Wie dat eben so geht. Un’ dann? Keine drei Wochen später läuft auf einmal Paul Meier seine Tochter Lisbeth mit ’m dicken Bauch rum, noch keine sechzehn un’ nie ’n Freund. Aber auffe Scheffenthumer Kirmes haben mindestens vier Mann – wat sach ich: vier? Zum Schluß waren et an die dreißig – jedenfalls haben die dat Mädchen inne Scheune verschwinden sehen, un’ zwar mit unserm Bürgermeister! Wat meinen Sie, wat der liebe Ackermann den Leuten da auf einma’ schnuppe war.«