8

Wenn Walter Heinrichs nicht mindestens zweimal am Tag pünktlich seine warme Mahlzeit kriegte, konnte er ziemlich nörgelig werden. Das hatte Astrid oft genug erleben müssen und sich deshalb zu einem Mittagessen in der Kantine überreden lassen.

»Die Pressefritzen wollen um zwei noch mal vorbeikommen. Hoffentlich ist van Gemmern bis dahin mit den Abdrücken fertig.«

Heinrichs leckte genüßlich die Finger ab und nahm sich die nächste Hähnchenkeule. Astrid staunte mal wieder über die Portionen, die dieser Mensch verdrücken konnte. Kroß gegrillter Hähnchenschenkel mit Pommes frites und feinen Erbsen stand heute als Tagesmenu auf dem Plan. Schon vor Jahren hatte Heinrichs mit den Frauen an der Essensausgabe Sonderkonditionen ausgehandelt, und so bestand seine Portion heute aus drei Hähnchenschenkeln, einem Berg Pommes und einem Löffelchen Erbsen.

Astrid schob den Teller weg – von wegen ›kroß gegrillt‹ das Heisch war nicht mal richtig durchgebraten. Sie holte das Foto aus ihrer Handtasche, ein Abzug von dem großen Bild, das über Ralf Poortens Bett hing, und schob es Heinrichs über den Tisch. »Das ist der Junge.«

Heinrichs nahm das Foto mit spitzen Fingern an einer Ecke hoch und schluckte. »Der sieht aber nicht aus wie neunzehn.«

»Das Bild ist auch schon älter. Ein neueres hat die Mutter nicht gefunden.« Sie knüllte die Papierserviette zusammen und warf sie auf den Teller. »Soll ich schon mal hochgehen und im Labor ein paar Abzüge für die Presse machen lassen? Am besten wäre wohl eine Ausschnittvergrößerung vom Gesicht des Jungen.«

»Hm«, überlegte Heinrichs. »Ist vielleicht gar nicht so schlecht, wenn das Motorrad mit auf dem Foto ist.«

»Hast du die Suche nach dem Ding schon angeleiert?«

Er sah Astrid unzufrieden an. »Im Augenblick halten alle Streifen besonders Ausschau, aber eigentlich müßte man das ganze Ufer in einzelne Abschnitte einteilen und gezielt absuchen, und zwar auf beiden Rheinseiten. Aber versuch doch mal, die Leute dafür zusammenzubekommen.«

Astrid nickte; seit Siegelkötter weg war und die Chefstelle unbesetzt, war zwar das Arbeitsklima deutlich besser geworden, aber wenn es um die Zusammenarbeit verschiedener Abteilungen ging, wurde es meist schwierig »Hoffentlich kriegen wir jetzt kein Hochwasser«, meinte sie und zündete sich eine Zigarette an.

»Dann brauchten wir erst gar nicht mehr nach der Maschine zu suchen. Aber ich habe mich beim Wetteramt erkundigt. Es sieht nicht so aus, als würde es in den Bergen so bald schon tauen.« Heinrichs starrte auf ihre Zigarettenpackung. Seit seinem Herzinfarkt rauchte er offiziell nicht mehr. Sie schob ihm die Packung und ihr Feuerzeug rüber.

»Danke«, grinste er ein wenig verlegen. »Und? Hast du mehr über den Jungen erfahren?«

»Zu wenig.« Sie sah Toppe und van Appeldorn über den Parkplatz kommen und klopfte gegen die Fensterscheibe. Toppe nickte ihr zu und wandte sich zum Eingang. Van Appeldorn zögerte, folgte ihm dann aber.

Heinrichs holte zwei Stühle vom Nebentisch. »Wollt ihr auch was essen?«

Van Appeldorn schüttelte hustend den Kopf, aber Toppe hatte schon sein Portemonnaie in der Hand. »Soll ich jemandem noch was mitbringen?«

»Einen Liter Milch«, krächzte van Appeldorn.

»Bist du krank?« wunderte sich Astrid, aber van Appeldorn gab keine Antwort.

»Nun erzähl schon«, drängelte Heinrichs. »Was ist jetzt mit dem Gellings?«

»Nix«, meinte van Appeldorn, hängte seine Jacke über die Stuhllehne und setzte sich. »Bei dem Verein ist nichts zu holen. Die kannten den Poorten kaum.« Dann putzte er sich erst einmal die Nase.

»Du hast dir eine Grippe geholt«, stellte Heinrichs mißbilligend fest.

»Quatsch!« Van Appeldorn nahm die Milchpackung vom Tablett, das Toppe auf den Tisch stellte.

»Hühnerkeulen waren alle.« Toppe betrachtete nachdenklich den Knochenberg auf Heinrichs’ Teller, sagte aber nichts dazu, sondern machte sich über seine Pommes her.

Astrid erzählte von Ralf Poortens Zimmer. »Ein ganz biederer Junge, würde ich sagen, fast schon langweilig. Und ziemlich katholisch, wie es scheint. Der hat einen ganzen Stapel Heftchen von diesem Haus Barbara.«

Die drei Männer schauten sie verständnislos an.

»Haus Barbara, Helmut«, meinte sie ungeduldig. »Christian hat doch dort am Wochenende seine komischen Exerzitien.«

»Ach ja«, fiel es Toppe wieder ein. »Lag hier in Kellen, gleich am Breijpott, hat er gesagt. Was ist das eigentlich für eine Geschichte?«

Astrid zuckte die Achseln. »Irgendwas Katholisches, ziemlich heilig. Muß wohl in sein bei den Kids. Na, wie auch immer, Hinweise auf Drogen habe ich nicht finden können. Das würde auch nicht zu dem Jungen passen. Eigentlich hätte ich gern mit seiner Schwester gesprochen, aber die steht kurz vorm Abi und war in der Schule. Ich fahre heute nachmittag noch mal hin. Die Mutter wollte dafür sorgen, daß das Mädchen um fünf zu Hause ist. Eigentlich müßte die doch eine Ahnung haben, mit wem ihr Bruder befreundet war und was der in seiner Freizeit so getrieben hat. Außer Motorrad fahren und beten, meine ich.«

Auf Heinrichs’ Schreibtisch lag eine Nachricht von van Gemmern: Fingerabdrücke identisch – v. C, und Astrid machte sich sofort mit dem Foto auf den Weg zum Labor, um die Abzüge für die Presse machen zu lassen.

»Als nächstes steht dann wohl Poortens Arbeitsplatz an«, meinte van Appeldorn.

»Ja.« Toppe stand schon vor der Kreiskarte. »Hast du mal die Adresse da, Walter?«

Heinrichs langte ihm über die Schulter, und sein dicker Zeigefinger senkte sich auf einen blauen Fleck dicht vor der Reeser Rheinbrücke. »Ich hatte mir das schon angeguckt. Die Werft liegt an diesem See, oder was das ist, und der hat einen direkten Zugang zum Rhein.«

»Ach was?« kam es von van Appeldorn, der am Tisch saß, die Stirn in beide Handflächen gestützt.

Heinrichs drehte sich um. »Geht es dir nicht gut?«

Van Appeldorn gab sich einen Ruck. »Mir geht es ausgezeichnet, Mensch. Das ist bloß kein See, sondern ein Sporthafen, und als solcher hat der natürlich eine Verbindung zum Rhein. Da liegen Boote vom Wassersportverein Xanten, soweit ich mich erinnere.«

»Und woher weißt du das?« fragte Heinrichs pikiert.

»Ich war beim letzten Hochwasser mal in der Gegend. Wir hatten Besuch aus dem Schwarzwald. Du weißt ja, wie Touristen sind.«

»Ist ja auch egal«, unterbrach ihn Heinrichs. »Wir müssen uns auf alle Fälle dort umsehen.«

»Roeloffs-Werft«, sagte Toppe. »Die bauen ziemlich dicke Motoryachten, hab ich mal gelesen.«

»Stimmt genau, Chef«, kam es von der Tür, und alle drei fuhren sie herum. Keiner hatte Ackermann hereinkommen hören.

»Ich hab geklopft«, verteidigte er sich.

Jupp Ackermann, ein Kollege vom Betrugsdezernat, Kranenburger Urgestein, den nicht einmal eine Naturkatastrophe bewegen würde, seinen Niederrhein zu verlassen. Drei Wochen Spanien im Sommer, der Familie zuliebe, und die vier Tage über Ostern auf Ameland waren das äußerste, vielleicht noch das ein oder andere Wochenende bei seinen holländischen Schwiegereltern, aber die wohnten gottlob in Cuyk, und das war ja quasi Inland. Er war letztes Weihnachten vierzig geworden – »wat könnt’ ich wohl anders sein als ’n echtes Christkind!« – aber der Zahn der Zeit hatte bisher nur unwesentlich an ihm genagt: Die Haare waren immer noch schulterlang und fragwürdig gepflegt, auch von seinem Zottelbart hatte er sich noch nicht getrennt. Meist trug er schmuddelige Jeans und irgendwas obenrum und Turnschuhe, im Sommer an den nackten Füßen Sandalen, die er ›Jesuslatschen‹ nannte. Zumindest hatte er anläßlich des großen Wiegenfestes – »ir’ndwann mußt et ma’ sein, die Konkurrenz schläft nich’« – eine gründliche Zahnsanierung durchführen lassen und das alte Kassengestell für seine dicken Brillengläser durch eine neue neongrüne Fassung ersetzt.

Van Appeldorn schloß laut stöhnend die Augen. »Laß es nur das Fieber sein, Herr!«

»Hallo, Ackermann«, grüßte Heinrichs munter, und Toppe grinste. »Was führt Sie denn zu uns?«

»Die pure Langeweile. Bei uns is’ total tote Hose, un’ ich hab heut keinen Bock, mich an so ’n alten Fall zu setzen un’ einen auf Beschäftigungstherapie zu mimen. Da steh ich nich’ drauf, wenn et wat Richtiges gibt.«

»Und jetzt willst du bei uns mal wieder den Libero machen«, stellte van Appeldorn gereizt fest.

»Dat wär super«, strahlte Ackermann.

Toppe lachte. »Bis jetzt brauchen wir noch keine Hilfe.«

»Na ja«, brummelte Heinrichs, »das Motorrad.«

»Wat denn für ’n Motorrad? Ich denk, ihr habt ’ne Wasserleiche aus ’m Rhein gefischt.«

»Das kannst du dir alles auf der Pressekonferenz anhören.« Van Appeldorn stand auf. »Na los, es ist schon zehn nach zwei!«

Die Reporter waren friedlich heute. Es war offensichtlich, daß das K 1 alle Informationen, die es hatte, auf den Tisch legte. Am nächsten Tag würde die Bevölkerung über die Zeitungen um Mithilfe gebeten werden: Wer hatte diesen jungen Mann oder das Motorrad am Freitag nach 19.30 Uhr gesehen? Hatte jemand eine Schlägerei beobachtet oder ungewöhnliche Vorgänge am Rheinufer bemerkt? Oder war jemand Zeuge eines Motorradunfalls geworden?

»Un’ der Jung hat bei der Roeloffs-Werft gelernt?« fragte Ackermann, als sie wieder auf dem Hur waren. »Interessant.«

Van Appeldorn stieß ihm den Ellbogen in die Seite. »Jetzt red schon!«

»Ich?« Ackermann riß die Augen auf. »Nee, nee, ich halt mich fein geschlossen. Ich mein bloß, man hört ja so einiges, un’ wenn dat schon bis Kranenburg rund is’ …«

»Was denn?« Auch Astrid wurde ungeduldig.

»So einer bin ich nich’«, wehrte Ackermann ab. »Dat wißt ihr doch. Ich muß dat ers’ ma’ genau haben, bevor ich einem wat an ’t Zeug flick. Aber morgen könnt ich euch bestimmt schon wat sagen. Meine Schwägerin in Hönnepel, die hat nämlich ihren Nefffen da am …«

Van Appeldorn stöhnte wieder. »Ich gehe den Bericht schreiben.«

»Nein!« Toppe hielt ihn auf. »Das mache ich schon. Du gehst nach Hause und legst dich ins Bett. So, wie du aussiehst!«

»Blödsinn!«

»Kein Blödsinn! Trink dir was Warmes, nimm ein paar Aspirin und zieh dir die Decke über den Kopf. Mir ist es lieber, du bist morgen wieder richtig fit, wenn wir zur Werft fahren.«

»Find ich auch, Norbert. Der Mensch muß sich schonen, so gut er kann. Un’ wir allemal, grad in den heutigen Zeiten«, bekräftigte Ackermann.

»Wer weiß, wat kommt«, flüsterte er dann plötzlich bedeutungsschwer, und das war so ziemlich das schlimmste, was passieren konnte. Wenn Ackermann ins Flüstern verfiel, wurde es für seine nähere Umgebung nicht nur unangenehm feucht, er sprach dann auch so außergewöhnlich artikuliert, daß jeder Mensch im Umkreis von fünfzehn Metern ihn klar verstehen konnte. »Mit Ihrem schönen eigenen Büro isset ja wohl bald Essig, Chef, wa?« zischelte er. »Habt er se auch schon gesehen?« Verschwörerblick. »Echt nich’? Unser neuer Boss, die oberste Majestät! Ziemlicher Feger, wenn ihr meine unmaßgebliche Meinung hören wollt. Die läßt sich den Käs nich’ nehmen. Trotzdem, ich glaub, die is’ in Ordnung. Hab ja schon selbst mit ihr gesprochen. Die soll ja mit ’ner Frau zusammenleben, aber fragt mich nich. Verheiratet muß die aber auch schon mal gewesen sein, sogar öfters. Aber wat kann man schon auf dat geben, wat die Leute quaken? Außerdem hat die rote Haare. Mehr muß ich ja wohl nich’ sagen! Warum guckt ihr denn so?

Die is’ übr’ens genauso alt wie Sie, Chef, hat sogar am selben Tag Geburtstach. Wenn dat nix heißt! Jedenfalls hat die oben anner Schweizer Straße ’n Haus gekauft, zusammen mit der Freundin oder wat dat is’ – Anwältin, hab ich gehört. Jedenfalls is’ die Dame schon vor Ort. Un’ dat die lesbisch is’, glaub ich persönlich ja nich’.« Endlich hörte er mit dem Flüstern auf. »Charlotte Meinhard heißt se.« Er lachte herzhaft. »Charlie, übernehmen Sie?«

Sigrid Poorten sah ihrer Mutter sehr ähnlich, die gleichen kurzen braunen Locken, das gleiche offene Gesicht. Sie ließ Astrid hinein, blieb dann aber zögernd im Flur stehen. Aus dem Wohnzimmer hörte man aufgeregte Stimmen.

»Können wir nicht woanders miteinander reden?« meinte sie. »Meine Tante und meine Oma sind da.«

»Sicher«, nickte Astrid. »Gibt es denn hier eine einigermaßen vernünftige Kneipe?«

Das Mädchen lachte kurz auf. »Wohl kaum.« Dann strich sie sich müde die Haare aus dem Gesicht. »Wir könnten in die Pommesbude gehen. Wenn ich ehrlich bin, habe ich nämlich Hunger wie ein Tier.«

Sie nahm einen langen weißen Wollschal vom Garderobenhaken und wickelte ihn zweimal um den Hals. »Warten Sie, ich sage nur kurz meinen Eltern Bescheid.«

Astrid ließ ihr Auto stehen; bis zu Harry’s Imbiß waren es nur ein paar hundert Meter.

»Bei uns geht alles drunter und drüber«, erzählte das Mädchen. »Ich werd noch verrückt. Den ganzen Tag klingelt das Telefon, hundert Leute kommen angetrabt, um Trost zu spenden. Lächerlich!«

Astrid stutzte. »Wieso lächerlich?«

»Als wenn man da trösten könnte! Mist, ich hab meine Handschuhe vergessen.« Sie hauchte sich in die gewölbten Handflächen und sah Astrid ins Gesicht. »Ich kriege das alles überhaupt nicht auf die Reihe. Die ganze Zeit versuche ich, mir irgendwie den Kopf für das Abi freizuhalten. Dabei hab ich das Gefühl, ich ersticke an dem Kloß in meinem Hals.«

In der kleinen Imbißstube gab es nur drei Tische, und sie waren die einzigen Gäste. Ein älterer Mann, Harry vermutlich, mit Pomade im schütteren Haar kam sofort gelaufen, legte zwei in Papierservietten gewickelte Besteckpäckchen auf den Tisch und hauchte: »Mein Beileid, Sigi.« Dann zückte er Bleistift und Block und schaute auffordernd von einer zur anderen.

»Currywurst mit Pommes und Mayo und ’ne Cola«, bestellte Sigrid.

Astrid hatte eigentlich noch keinen Hunger, aber wenn sie dem Mädchen beim Essen zuschaute, würde das Gespräch wohl kaum entspannt laufen.

»Bringen Sie mir eine Fleischrolle mit Pommes.«

»Spezial?«

»Nein, ohne alles. Und einen Kaffee vorher, bitte.«

»Kaffee ham wer nich’.«

»Dann auch eine Cola.«

Sigrid wickelte endlich ihren Schal ab. »Und Sie sind bei der Kripo? Komisch!«

Ähnliche Sätze hatte Astrid schon hundertmal gehört. »Wieso ist das komisch?«

»Ich weiß auch nicht«, antwortete das Mädchen gedehnt. »Kommissarinnen habe ich mir einfach anders vorgestellt, irgendwie bärbeißig.«

Astrid lachte. »Sie haben mich noch nicht in Aktion erlebt!« Dabei holte sie ihren Notizblock aus der Tasche. »Wie weit sind Sie denn mit dem Abi?«

»Es dauert noch ein paar Wochen, bis es los geht. Aber wir schreiben vorher noch zwei Klausuren. Morgen ist Deutsch dran.«

»Irgendwelche Probleme?«

»Nö, eigentlich kann gar nichts mehr schiefgehen.« Sie stockte und starrte auf die Tischplatte. »Können Sie mir denn sagen, was nun eigentlich mit meinem Bruder passiert ist?«

Astrid atmete einmal tief durch und erzählte dann, so schonend wie möglich, was sie bisher wußten.

»Zusammengeschlagen?« Das Mädchen verlor die Fassung und kämpfte arg mit den Tränen. »Wer sollte denn so was tun, um Himmels willen? Ralf war immer so nett und so …«

Astrid konnte sie kaum verstehen.

»Er war einfach ein lieber Kerl und völlig. harmlos. Irgendwie hatte ich immer das Gefühl, ich wäre die ältere und er.«

»Wir müssen wissen, mit wem Ihr Bruder zu tun hatte«, begann Astrid, aber das Mädchen sah sie nur verwirrt an.

Harry brachte das Essen und verschwand sofort wieder nach hinten.

Wortlos wickelten sie ihr Besteck aus und fingen an zu essen.

»Okay«, meinte Astrid nach den ersten zwei Bissen.

»Ich will mal ganz anders anfangen. Als ich mich im Zimmer Ihres Bruders umgesehen habe, ist mir aufgefallen, daß er offensichtlich ziemlich religiös war. Ich meine, das große Kreuz über dem Bett, diese Heftchen.«

»Ach, die Kiste!« Sigrid Poorten hatte sich wieder so einigermaßen im Griff. »Ralf war immer schon ganz anders als ich. Sehr ruhig, fast schon lahm. Und ein totaler Spätzünder. Deshalb hat er auch nur die Hauptschule gemacht, obwohl er bestimmt nicht blöd war. Außerdem war er ziemlich schüchtern und hatte eigentlich nie richtige Freunde hier im Dorf. Na ja, und mit der Kirche, ich weiß nicht, wie ich das sagen soll, der war einfach. angepaßt. Hat eben alles brav mitgemacht: Kommunion, jeden Sonntag in die Kirche, und Meßdiener war er auch.« Sie schnitt ein Stück Wurst ab und schob es sich in den Mund. »Unser Pastor war jahrelang Ralfs großes Vorbild, ein Halbgott quasi, dabei ist der Typ wirklich nur ein kleiner Kacker.« Sie grinste herausfordernd.

Astrid unterdrückte ein Lachen. »Sie haben offenbar mit der Kirche nichts am Hut?«

»Nee, sowieso nicht. Auch mit dem ganzen Dorfrummel nicht. Ich hab mich vor Jahren schon abgesetzt und bin froh, wenn ich nach dem Abi hier ganz weg kann. Na, jedenfalls hat sich der Pastor den Ralf gekrallt, so vor zwei, drei Jahren, und ihn auf diese Barbarasache gebracht, und Ralf ist total darauf abgefahren.«

»Was ist das eigentlich für eine Geschichte? Ist das eine Sekte?«

»Haus Barbara? Nein, ’ne Sekte ist das nicht, obwohl ich mich frage … egal. Das ist ein Haufen religiöser Spinner. Gehören zu irgendeinem katholischen Mutterhaus oder so und versuchen hauptsächlich Jugendliche in den Schoß der Kirche zu holen. So mit Pseudoseminaren, Exerzitien, Askese und Jugendlagertricks. Ralf war hin und weg. Mann, was hab ich ackern müssen, bis der mal kapierte, was da für ein Mist abging, was das für Abzocker sind. Die kassieren nämlich ganz fein Knete für ihr hohles Gesabbel.«

»Sie haben also versucht, ihn davon abzubringen?«

»Klar. Und irgendwann hat er’s dann auch geschnallt. In letzter Zeit war der kritischer als ich. Auf jeden Fall aber hat er durch die ganze Sache endlich mal Freunde gefunden.«

Astrid kramte einen Kuli aus der Tasche.

»Ach, genau«, sagte Sigrid, »Sie wollten ja wissen, mit wem Ralf zu tun hatte. Vielleicht wundert Sie das, aber ich kann Ihnen keinen einzigen Namen nennen. Gesehen hab ich auch noch nie einen bei uns zu Hause. Aber Ralf brachte sowieso nie jemanden mit. Jedenfalls hat er bei einem von den Seminaren ein paar Leute kennengelernt, und die sind in so einem kirchlichen Jugendkreis in Grieth. Und da war mein Bruder mindestens dreimal in der Woche.«

»Und was macht dieser Jugendkreis?«

Sigrid hob die Hände. »Fragen Sie mich nicht. Die werden wohl nicht bloß beten. Ich weiß, daß Ralf mal was von sozialpsychiatrischer Hilfe erzählt hat, Betreuung von psychisch Kranken und so. Aber mich hat das alles nicht richtig interessiert.«

»Und sonst hatte Ihr Bruder keine Freunde?«

»Nein.« Ihre Lippen wurden steif. »Und ich wüßte auch niemanden, der ihn zu Tode prügeln würde.«

Astrid klappte ihren Block auf und holte ein Foto heraus. »Dieses Bild habe ich auf Ralfs Nachttisch gefunden. Kennen Sie das Mädchen?«

Sigrid nahm das Foto in die Hand und nickte nachdenklich. »Das ist Clara Albers. Die ist an meiner Schule, ein oder zwei Klassen unter mir. Ich wußte gar nicht, daß Ralf die kennt. Ach, ich glaube, die wohnt in Grieth!«

»Ob das seine Freundin ist?«

Sigrid hatte wieder Tränen in den Augen. »Ich weiß es nicht. Erzählt hat er mir davon nichts.« Sie legte ihr Besteck auf den noch halbvollen Teller. »Sollen wir gehen?«

Den ganzen Weg zurück zur Oberstraße weinte sie leise. Vor der Haustür putzte sie sich die Nase und schluckte.

»Die ganze Zeit ist es gut gegangen, und jetzt kann ich auf einmal nicht mehr aufhören.«

»Sie sollten sich von der Klausur morgen befreien lassen.«

Sigrid schüttelte heftig den Kopf. »Das pack ich schon!«

Astrid legte ihr die Hand auf die Schulter. »Kann ich noch mal kurz mit reinkommen? Ich würde gern diese Barbara-Hefte aus Ralfs Zimmer mitnehmen.«