14
Es war, wie Ackermann es ausgedrückt hätte, eine »kleine Beerdigung« – höchstens dreißig Trauergäste, die in der Friedhofskapelle vor sich hin froren.
Toppe wollte eigentlich als letzter kommen und sich dann hinten an den Rand stellen, aber bei den ganzen leeren Stühlen hätte das besonderes Aufsehen erregt. Also zog er Astrid leise mit in die letzte Reihe.
Die Trauernden saßen dicht beieinander zu dritt oder zu viert, hatten große Lücken dazwischen gelassen. Manchmal scharrte jemand mit den Füßen, ein Mann räusperte sich laut. Ralf Poortens Eltern und seine Schwester kauerten allein in der ersten Reihe, ihre Blicke starr auf den hellen Eichensarg gerichtet.
Rote Rosen, dachte Toppe. Warum mußten es immer rote Rosen für das Sarggesteck sein? Und warum sahen alle Särge immer so erbärmlich klein aus, viel zu kurz und zu schmal, um bequem darin zu liegen? Ich laß mich verbrennen, dachte er.
Auf dem Schieferboden lehnten an dreibeinigen Ständern die großen Kränze, fast alle aus Fichtenzweigen und Gerberas in flammenden Farben. Die Schleifen waren sorgfältig ausgebreitet.
Astrid stieß ihn leise an. »Siehst du das Herz da?« wisperte sie.
Toppe nickte, statt eines Kranzes lag mitten vor dem Sarg ein großes Herz, aus Buchsbaum gebunden, mit einer weißen Schleife: Du lebst in unseren Herzen – Deine Freunde. In der Mitte des Buchsbaumes eine weiße Rose und eines der Kreuze, die Astrid inzwischen so gut kannte.
Aus der Seitentür kam jetzt der Priester mit zwei Meßdienern und schritt zur Mitte, ein dünnes Buch vor sich hertragend. Er ließ seinen Blick auf den Trauernden verweilen, schlug dann mit einer flüssigen Bewegung das Büchlein auf und hielt inne. Ein paar Nachzügler kamen auf Zehenspitzen, eine Gruppe Jugendlicher. Astrid erkannte den sportlichen Griether Pfarrer unter ihnen und – Christian.
»Hast du mir nicht erzählt, Christian kannte den Poorten kaum?« beugte sich Toppe zu Astrid, ohne den Blick von seinem Sohn zu nehmen.
Astrid war erst einmal auf einer katholischen Beerdigung gewesen und auch nur drei- oder viermal in einer Messe, bei Hochzeiten und Taufen, aber das war auch schon eine Weile her. Als der Priester begann, zuckte sie zusammen. Der Mann leierte und quäkte wie in einer sehr schlechten Parodie, wie in diesen alten Witzen: dominus vobiscum? Hier für ’n Groschen Brötchen! Sie sah sich irritiert um, aber keiner der Anwesenden regte sich, verzog auch nur die Miene.
Nach ein paar Gebeten und Sprüchen räumte ein Mann in schwarzem Anzug die Kränze beiseite, der Sarg wurde auf einer Karre nach draußen geschoben, und die Trauergemeinde schloß sich an: zuerst die Eltern mit der Schwester, dann eine alte Dame, aufmerksam flankiert von zwei Männern, ein paar Leute mittleren Alters, zwei Jugendliche in schwarzen Jeans und Pullovern.
Auch Toppe war aufgestanden, wartete aber, bis der Griether Pastor mit seiner Gruppe vorbei war. Christian ging mit gesenktem Kopf und fest gefalteten Händen.
Der Zug bewegte sich langsam, der Priester an der Spitze sang seine Litanei in ein Mikrophon. Einer der Meßdiener hielt den scheppernden Lautsprecher.
Der Griethausener Friedhof war lang und sehr schmal, und durch die hohen Mauern an den Seiten fühlte man sich wie auf einem Gefängnishof. Der neue Teil war eigenwillig phantasielos, Sechserreihen von Gräbern, unterbrochen von ordentlichen Linien gerade gewachsener Bäume, eine Reihe Zedern, eine Reihe Blutbuchen, eine Reihe Eiben, wie das Ausstellungsgelände einer Baumschule.
Das Grab lag an einer Ecke. Bei dem tief gefrorenen Boden mußte es mühsam gewesen sein, es auszuheben. Astrid erkannte die Umrisse einer Spitzhacke unter dem Rasenimitat aus Plastik, mit dem die Ränder des Grabes und der Hügel aufgeworfener Erde abgedeckt waren.
Als der Sarg langsam in die Grube herabgelassen wurde, hielt es den Vater nicht länger am Grab. Er drehte sich um und ging weg, fast lief er.
Der Kirchturm mit dem langen Spitzdach war nur ein paar hundert Meter entfernt, und sie gingen alle zu Fuß hinüber.
Auf dem Hof der Grundschule tobten die Kinder – große Pause – durch Rennen und Schreien konnte man sich am besten warmhalten.
Toppe und Astrid ließen sich ein wenig zurückfallen. »Der mit dem grünen Mantel, das ist Franz Roeloffs, der Bootsbauer«, sagte Toppe leise. »Und der daneben sein Geselle.«
Astrid hakte sich bei ihm ein. »Die meisten scheinen Verwandte zu sein, aber ich werde die Schwester noch mal fragen.«
Ein paar Trauergäste drehten sich zu ihnen um und äugten.
Auch bei der Messe saßen sie in der letzten Bank, und Toppe fragte sich, was er hier eigentlich noch sollte.
Astrid beobachtete den Priester, wie er den Altarraum betrat, und sie staunte. Das sichere Schreiten, die kraftvollen Gesten, selbst bei der kleinsten Handlung, wohlgesetzt mit stimmigem Timing. Mit welcher Bestimmtheit er den Kelch auswischte. Der Mann stand auf einer Bühne, ein Schauspiel war das. Am fremdesten war ihr das ungeheuere Selbstbewußtsein, das der Mann ausstrahlte, unangenehm, aufdringlich. Durfte der sich so erheben? Sie verstand jetzt auch, warum sie nicht in den Altarraum stürmen durfte. Da gab es lauter heilige Gegenstände: Kelche, vor denen man das Haupt neigte, Bücher, die man küßte. Nein, falsch, Bücher, die er küßte, andere Leute durften das wohl nicht, oder?
Richtig absurd wurde es, als der Mann vor dem Tabernakel in Ehrfurcht versank, sich noch einmal sammelte, bevor er es öffnete, und was er dann herausholte, war eine Schüssel! Der Behälter für die Oblaten. Was sollte das? Ich bete dich an, du heilige Schüssel? Wie war das noch mit dem Goldenen Kalb und den Götzendiensten? Und dann die Unruhe, der harte Rhythmus: aufstehen – niederknien – hinsetzen, niederknien – hinsetzen – aufstehen, hinsetzen – aufstehen – niederknien. Nicht einer, der aus dem Takt kam. Wie sollte man sich dabei sammeln, zur inneren Einkehr finden? Oder ging es nicht darum?
Der Priester las jeden Satz ab, die Gebete auch, selbst beim Vaterunser hatte er ein Buch in der Hand. Astrid ärgerte sich. Konnte man denn nicht erwarten, daß der Mann seinen Job anständig machte und die wichtigsten Texte auswendig konnte, daß er frei sprach, Blickkontakt mit der Gemeinde hatte, damit ein Dialog zustande kam? Aber das war vielleicht der Punkt. Vielleicht ging es genau um diese Distanz. Deshalb die Altarbühne, die Gesten. Der Priester sollte wohl nicht Gleicher unter Gleichen sein. Was sagte der da? Schuld?
»Also, das ist doch wohl nicht wahr!« schreckte sie Toppe auf. »Bist du etwa auch schuldig geworden?«
»Was?« Er verstand kein Wort.
»Der Pfaffe da oben sagte gerade, wir seien alle …«
Er legte den Finger auf den Mund, ein paar Leute hatten sich schon umgedreht. »Pst. Wieso hörst du da überhaupt hin?«
Sie riß sich zusammen, aber als sie es endlich hinter sich gebracht hatten und zum Auto gingen, ließ sie sich nicht mehr bremsen. »Kein Wort über den Toten, nichts! Man kann ja schon froh sein, daß sein Name erwähnt worden ist, damit man wenigstens weiß, hinter wessen Sarg man da herläuft. Warum hat der nichts von dem Jungen erzählt? Er hat ihn doch angeblich so gut gekannt. Wenigstens vier, fünf Sätze. Sag mal, läßt dich das völlig kalt?«
»Mittlerweile ziemlich, ja.«
Sie blieb stehen und sah ihn aus kleinen Augen an. »Das muß am Alter liegen!«
»Vermutlich«, stimmte er ihr zu, aber sie legte erschrocken die Hand auf den Mund. »Oh Gott, Helmut, so hab ich das nicht gemeint.«
Er nahm sie in die Arme. »Wieso? Du hast doch recht.«
Heinrichs hatte schon ungeduldig auf seine Wachablösung gewartet und sich sofort auf den Weg zu Schneider gemacht. Auch Toppe hielt sich nicht lange auf, sondern fuhr gleich weiter nach Niedermörmter.
Astrid setzte erst einmal die Kaffeemaschine in Gang, goß die Pflanzen, trödelte eine Weile herum. Auf Heinrichs’ Schreibtisch lag die Tageszeitung. Als sie sich dabei ertappte, daß sie bei den Geschäftsanzeigen angekommen war, gab sie sich endlich einen Ruck und setzte sich an den Bericht über ihren Beerdigungsbesuch. Aber schon nach zwei Minuten gab sie wieder auf; es gab nichts zu berichten. Mißmutig holte sie sich noch einen Becher Kaffee und suchte alle Akten zum Fall Poorten zusammen. Dann also noch einmal ganz von vorn. Knapp eine Stunde später hatte sie alles gelesen und war genauso schlau wie vorher. Keine Erleuchtung, nicht einmal das Fitzelchen einer Idee. Verflucht noch mal, irgendwer war diesem Jungen ganz brutal an die Wäsche gegangen. Das hieß doch, er mußte irgend jemandem auf die Füße getreten haben, in die Quere gekommen sein. Aber dafür gab es nicht den geringsten Hinweis. ›Ein lieber Jungec, ›ein guter Kerle, ›naiv‹, und was sie da eben noch so gelesen hatte – alles konturlos und schlapp. Ob man ihn verwechselt hatte?
Nur dreißig Menschen auf der Beerdigung. Die Leutchen vom Jugendkreis, die wußten vielleicht mehr über ihren Freund. Aber die würde sie erst am Montag treffen. Sie gähnte. Doch, Haus Barbara heute abend, da konnte auch was bei rumkommen.
Das Telefon auf Heinrichs’ Schreibtisch bimmelte. Es war nur Ackermann, der sich nach Amsterdam abmeldete. Als Astrid auflegte, fiel ihr Blick auf einen gelben Aktendeckel – die Vergewaltigung. Ob Heinrichs schon was erreicht hatte wegen der DNA-Analyse? Sie fand keinen Eintrag. Na bitte! Sie war doch im Moment der Aktenführer. Dann auch richtig. Entschlossen wählte sie die Nummer vom BKA. »Oh, da muß ich erst mal schauen, wer heute im Hause ist.« Klar, war ja Freitag, aber Astrid kannte das Spiel, sie ließ sich nicht abwimmeln, wurde hin und her verbunden, sagte wohl fünfmal ihren Spruch auf und mußte sich zu guter Letzt auch noch Beethovens Elise ins Ohr dudeln lassen. Der Arzt oder Chemiker, oder was immer der Mensch sein mochte, hielt sich nicht mit Freundlichkeit auf: Ob sie sich vorstellen könne, wie viele Analysen sie zu machen hätten? Das konnte sie durchaus. Man habe schließlich auch nur zwei Hände. Klar! Und der Tag habe nur acht Stunden. Das war ihr neu. Jedenfalls gäbe es Fälle, die dringlicher seien als ihrer.
»Und wann können wir mit dem Ergebnis rechnen?«
»Gehen Sie mal von drei Monaten aus, dann sind Sie wenigstens nicht enttäuscht.«
Zur selben Zeit haderte auch Toppe mit seinem Schicksal. Hauptkommissar wollte er sein? Daß er nicht lachte! Latschte hier rum und machte stupide Routinearbeit, die jeder noch so blutige Anfänger hätte erledigen können, und bei der nicht einmal etwas herauskam. Die Anwohner in Niedermörmter wußten von nichts, hatten nichts beobachtet, und wenn sie was gehört hatten, dann wußten sie nicht mehr, wann das gewesen war. Und außerdem fuhren auf dieser Straße ständig größere Fahrzeuge. Schließlich mußte die Roeloffswerft beliefert werden. Am schlimmsten war ihre aufdringliche Beflissenheit – viermal hatte er eine Tasse Kaffee ablehnen müssen – und mittlerweile fiel ihm auf »nee, nee, et is’ ja auch ’ne furchtbare Sache, der arme Junge« keine neue Erwiderung mehr ein.
Am liebsten wäre er auf der Stelle nach Hause gefahren und hätte diesen Tag ruhig und vor allen Dingen warm ausklingen lassen, aber leider war da noch ein Name auf seiner Liste.
Franz Roeloffs schien sich daran gewöhnt zu haben, daß die Polizei alle naselang bei ihm auftauchte. »Ihren Beruf möcht ich auch nicht haben«, meinte er liebenswürdig.
»Ich hab Sie heute morgen doch schon auf der Beerdigung gesehen.«
Er wußte, daß Ralf Poortens Motorrad gefunden worden war. Der Kneipenwirt war extra rübergekommen, um es ihm persönlich zu erzählen. Einen Reim konnte sich Roeloffs nicht darauf machen, und er hatte auch keine Ahnung, wie die Maschine dort hingekommen war. Aber Toppe hatte ein paar andere Fragen, ihm gingen Heinrichs’ Bemerkungen nicht aus dem Kopf. Hatte Ralf Poorten Kontakte zu Partikulieren gehabt?
Roeloffs stutzte. »Zu Rheinschiffern? Nicht, daß ich wüßte.«
»Können eigentlich größere Schiffe hier bei Ihnen im Yachthafen anlegen?«
»Größere Schiffe?« Dann fiel der Groschen. »Ach, Sie denken, das Motorrad ist mit ’nem Boot hergebracht worden!« Roeloffs lachte kurz auf. »Nee, ein größerer Pott paßt bei uns nicht rein, und auch an der Schanz vorne ist kein Anleger. Rheinschiffer.« schüttelte er den Kopf. »Glauben Sie, daß man den Jungen von einem Boot aus in den Fluß geschmissen hat?«
Toppe zuckte die Achseln. »Kann schon sein.«
»Und warum haben die Kerle dem sein Moped nicht gleich mit versenkt?«
»Gute Frage«, antwortete Toppe. »Vielleicht war es doch nur ein kleines Boot.«
Roeloffs kratzte sich am Hinterkopf. »Wär ’ne Möglichkeit.« Dann ging er zum Medizinschränkchen, das neben dem Feuerlöscher hing und holte eine Flasche Schnaps und zwei Gläser heraus. »Wollen Sie auch einen Korn?«
»Einer könnte nicht schaden.« Toppe nahm ihm das Glas ab.
Roeloffs schenkte es randvoll. »Wie gesagt, Ihren Job möcht ich nicht geschenkt. Prost!«
»Wie ist es? Trinkst du noch einen Kaffee mit mir, bevor du zu deinem Seminar abschwirrst?« Gabi hatte schon einen zweiten Becher aus dem Küchenschrank geholt.
»Ich dachte, dein Macker war da«, erwiderte Christian und ließ seinen Rucksack fallen.
»Peter kommt später. Er hatte noch einen Notfall.«
»Notfall in ’ner Zahnarztpraxis!« tippte sich Christian an die Stirn.
»Sei froh, daß du so gute Zähne hast. Von Zahnschmerzen könnte ich dir ein Lied singen. Wie ist das jetzt mit dem Kaffee?«
Er grinste. »Okay. Meinen Schlafsack kann ich auch gleich noch runterholen.« Damit schob er sich an seiner Mutter vorbei und setzte sich auf die Eckbank. »Liebst du diesen Typ eigentlich?«
Gabi goß den Kaffee ein und legte die Hände um ihren Becher. »Lieben? Ach Gott, manchmal frage ich mich, ob es das überhaupt gibt, die große Liebe, die einzig wahre. Ich mag ihn sehr gern, und ich schlafe gern mit ihm. Es macht mir viel mehr Spaß als früher …«
»Sex!« schüttelte Christian heftig den Kopf. »Geht es bei euch eigentlich immer nur darum? Ist doch total öde.«
Gabi mußte lachen. »Öde? Und das aus dem Mund eines Siebzehnjährigen. Ihr seid schon eine komische Generation, aber wahrscheinlich haben wir es euch auch in der Hinsicht zu leicht gemacht. Als wir so alt waren, hatten wir kaum was anderes im Kopf.«
Christian trank einen Schluck und sah sie eindringlich an. »Und wie hast du das mit deinem Glauben vereinbaren können?«
Gabi merkte, daß ihr die Röte in die Wangen stieg. »Meine unkeuschen Gedanken? Na ja, ich hab schon ein bißchen darunter gelitten, aber so schlimm war ich ja nicht. Der erste Mann, mit dem ich geschlafen habe, war dein Vater.«
»Hast du dich hinterher nicht schmutzig gefühlt?«
Sie atmete scharf ein. »Schuldig habe ich mich gefühlt, aber ich glaube, die Beichte hat mir dann ein bißchen geholfen.«
Christian nickte, aber sie sah ihm an, daß er damit nicht zufrieden war, und dann kam’s auch: »Heute beichtest du nicht mehr, Mutter, oder? Deinen Ehebruch zum Beispiel.«
Gabi bemühte sich, gelassen zu bleiben, trank erst noch einmal. »Ich verstehe nicht, was du meinst. Ich bin geschieden und kann tun und lassen, was ich will.«
»Vor Gott gibt es keine Scheidung!«
Das wischte sie mit einer Handbewegung weg. »Für die Kirche gibt es keine Scheidung. Aber selbst innerhalb der Amtskirche gibt es mittlerweile Strömungen, die das ganz anders sehen. Man ist da viel toleranter …«
Er ließ sie nicht ausreden. »Die Amtskirche interessiert mich nicht! Ich will echt nicht mit dir streiten, Mama. Mir geht es einzig und allein um meinen Glauben, um die Inhalte. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sich alles verändert hat, seitdem ich meinen Weg kenne. Ich habe das Gefühl, daß ich jetzt erst anfange, wirklich zu leben.«
»In Keuschheit?« konnte sie es sich nicht verkneifen.
»Davon rede ich doch jetzt gar nicht«, fuhr er hitzig auf. »Aber ja, durchaus, bis ich die richtige Partnerin gefunden habe, die Frau, die für mich bestimmt ist, die Gott für mich vorgesehen hat. Im Augenblick sind andere Dinge viel wichtiger: meine Hingabe an den Herrn, Jesu Weg nachvollziehen, das Wort leben und unter die Menschen streuen. Das ist meine Aufgabe, in der ich ganz aufgehe.«
Sie fröstelte. »Willst du ins Kloster?«
»Blödsinn! Im Gegenteil, ich will mitten im Leben, mitten in dieser Welt stehen.«
»Ist es das, was ihr auf diesen Seminaren lernt?«
»Nicht lernen. Wir wissen! Wir praktizieren. Mama, du bist doch selbst gläubige Katholikin. Du mußt doch verstehen, wovon ich rede.«
»Ich sage ja gar nicht, daß ich es nicht verstehe. Ich freue mich auch darüber. Deine Veränderung ist nur so plötzlich. Oder vielleicht kommt mir das auch nur so vor. Wir haben schrecklich lange nicht mehr miteinander geredet. Was macht ihr denn da so auf diesen Seminaren?«
»Beten, gemeinsame Einkehr, unseren Glauben erleben.« Er nahm ihre Hand und lächelte. »Du kannst dir nicht vorstellen, was das für ein Gefühl ist. Da brauchst du keine Drogen.«
Sie lächelte zurück. »Doch, ich kann mir das vorstellen. Damals als wir mit der Schule zu Exerzitien in Maria Laach waren, das war schon ähnlich …«
»Und dann, Mama?«
Gabi hob die Schultern. »Ich weiß nicht. Irgendwie ging das normale Leben weiter. Ich habe mir nie so viele Gedanken gemacht wie du. Es waren auch noch andere Zeiten.«
Christian suchte ihren Blick. »Das ist sehr schade.«
Sie entzog ihm ihre Hand. »Ich glaube einfach nicht, daß man durch Beten die Welt verändern kann.«
Er seufzte ergeben. »Na gut, dann laß uns erst mal von was anderem reden. Von tätiger Nächstenliebe zum Beispiel. Die Arbeit im Altenheim. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wieviel Segen … ach ja, in dem Zusammenhang wollte ich mal mit dir über Opa reden …«
Die Haustür klappte. »Jemand zu Hause?«
Christian verdrehte die Augen und stand auf.
»In der Küche«, rief Gabi und erhob sich ebenfalls.
Peter Keller kam herein, in der linken Hand zwei Plastikbeutel, mit der Rechten packte er Gabi um die Taille, zog sie zu sich heran und küßte sie. »Hallo, meine Schöne!« Dann ohne aufzusehen: »’n Abend, Christian.«
Gabi strahlte. »Und was sind das für Tüten?«
»Ich bin beim Chinesen vorbeigefahren. Ich dachte, wir könnten heute mal oben essen, nur wir beide.«
»Ich bin sowieso schon weg«, bellte Christian.
Peter lachte. »Sei doch nicht gleich eingeschnappt, Kumpel. Ich denke, dir geht diese WG auch auf den Geist. Sorge lieber dafür, daß deine Mutter mich endlich heiratet. Dann hättest du nämlich demnächst die Bude da oben ganz für dich allein.«
Gabi machte sich frei. »Fang nicht wieder damit an, Peter.«