IM SUMPFLAND

Wir schafften meine persönliche Habe aus dem kalten goldenen Käfig in Ikeja zu Victors feudaler Residenz auf Ikcr denn es galt, einen schnellen Schlußstrich unter mein Strengfur Leben zu ziehen.

Nickel legte auf meine Anwesenheit keinen Wert. Zu meinem Nachfolger hatte er Okoro bestimmt. Mir war unbe greiflich, warum man in Köln zuließ, daß der Bock zum Gärtner befördert wurde.

Doch was ging es mich noch an? Ich arbeitete Okor ein, erschien pro forma täglich in der Firma. Gleichzeitig began ich mein neues Leben zu organisieren, das völlig von Victor bestimmt wurde. Nur einen aus der Strengfurt-Zeit wollte ich behalten - den treuen Femi, der mich weiterhin sicher durch das chaotische Land chauffieren sollte. In Zukunft würden große Reisen anstehen, um Victors hochfliegende Pläne zu verwirklichen. Er wollte soviel Europa wie möglich nach Nigeria einführen. Er begann mit spleenigen Ideen: Die erste war eine Kerzenzieherei.

„Echtes Wachs! Nicht das stinkende Stearin!“

Er hatte das Klima nicht bedacht. Wachskerzen taugen nicht für die Hitze Afrikas. Die zweite Idee war die Produktion von Wegwerfwindeln. Aber keine der bekannten Firmen traute sich auf den nigerianischen Markt. Denn allenfalls die schwarze Oberschicht verpaßt den Popos ihrer Babys Pampers. Die dritte Idee resultierte aus seinem Hobby, dem Polo. Doch Polobälle herzustellen scheiterte wie eine weitere Idee - Toilettenpapier produzieren - am selben Problem: Holzwirtschaft wurde nicht kommerziell genug betrieben, Recycling-Papier gab es nicht.

Der Gedanke war trotzdem richtig: Eine Papierfabrik brauchte das Land. Aus Victors Sicht schon allein, um etwas für die Auflagen der einheimischen Zeitungen zu tun. Wir planten, Holz im großen Stil einzuführen. Doch dann erfuhr Victor, daß es Bäume gab, die in sieben Jahren schlagreif waren. Man mußte sie nur anpflanzen und dann sieben Jahre warten ... Ein Langzeitprojekt, das Victors Zeitrahmen sprengen sollte.

Nachdem Victor seine sieben edlen Polopferde und die drei Dobermänner nach Lagos hatte bringen lassen, war Abiola häufiger Gast. Der Tierarzt hatte inzwischen kräftig bei Wachfirmen für die Idee geworben, Menschen mit Hunden als Wachen einzusetzen.

Abiola begann mit Victors und meiner Hilfe, in großem Stil Doggen, Schäferhunde und andere Wachhunde zu importieren. Zu meines Vaters großer Freude, kassierte er doch für die Vermittlungen ordentlich Provisionen. Was lag für den ideenreichen und finanzstarken Victor näher, als eine Fabrik für Hundefutter in Dosen aufzuziehen?

Mit Abiola flogen wir in den Norden. Aber auch diese Seifenblase platzte schnell: Eine Rinderpest hatte die Viehbestände der Nomaden hinweggerafft. Aufgebläht lagen die toten Tiere auf den Weiden. Diese ersten Fingerübungen des ehrgeizigen Jung-Unternehmers Victor, die sein Vater mit lächelnder Skepsis verfolgte, schärften aber auch seinen Blick fürs Land. So war uns beispielsweise zwar klar, daß Düngemittelimport ein einträgliches Geschäft darstellen würde. Trotzdem ließ Victor die Finger davon, nachdem er sich mit Fachleuten ausgetauscht hatte. Düngemittel würden einerseits von den Industrienationen abhängig machen, andererseits zum Auslaugen des Bodens beitragen.

Victor konzentrierte sich aufs Stammgeschäft, das Öl. Wir flogen wieder zu den riesigen Ölfeldern im Nigerdelta. Unser erster Ausflug nach Warri hatte unseren Blick kritisch geschärft: totes Land, vergiftet von schlecht gewarteten Pipelines, abgestorbene Flüsse ohne Fische, verlassene Dörfer, deren ehemalige Einwohner in Slums nahe den Raffinerien lebten. Vor dem Hintergrund einer in Europa bereits lebhaft geführten Debatte über Ökologie konnten wir nicht die Augen geschlossen halten.

Victors Onkel Sunny legte den Finger in die offene Wunde im Leben Victors: „Was willst du, Victor? Lebst du nicht gut? Was glaubst du, woher all das Geld kommt? Von den Ölfeldern, über deren Ausbeutung du dich aufregst!“

„Sunny ist korrupt, Ilona“, ereiferte sich Victor, „er läßt sich von den Ölkonzernen dicke Bestechungsgelder zahlen, damit die nicht die Umweltschutzauflagen befolgen müssen. Und wir sehen zu, wie unser eigenes Land verseucht wird. Niemand unternimmt etwas dagegen.“ Der Ölboom hatte 1982 seinen Höhepunkt erreicht - das frühere Agrarland lebte im Rausch der Petro-Dollars, als ob man in der Lotterie gewonnen hätte. „Schnell reich werden“ war die Devise. Niemand fragte nach den Konsequenzen.

Beim Flug über die weiten, dünnbesiedelten Flächen im Süden und Südosten entdeckten wir riesige Mülldeponien, teilweise im Regenwald oder im Sumpfland versteckt, teilweise auf offenem Land. Giftmüll, den Schiffe aus Europa ins Land geschafft hatten.

Statt verantwortungsbewußt entsorgt zu werden, vergammelte das Zeug unter freiem Himmel und verseuchte den Boden für Jahrzehnte. Victor nahm sich vor, all das zu ändern. Endlich hatte er seine Aufgabe ins Visier genommen. Etwas, das seinen vollen Einsatz lohnte.

„Du wirst dir Feinde machen, Victor“, warnte ich. „Du kommst in dieses dir eigentlich fremde Land und willst nach europäischem Standard aufräumen. Unsere Methoden funktionieren hier nicht.

Nicht mal bei deutschen Firmen. Ich habe es doch bei Strengfurt erlebt.“

„Mein Wort hat Gewicht, Ilona. Ich kann mit Menschen wie meinem Onkel Sunny umgehen. Mach dir um mich keine Sorgen.“ Doch mit seinen Sprüchen konnte Victor mir meine Sorgen nicht nehmen.

Trotzdem stand ich an seiner Seite, als er eine Firma gründete, die Umweltprojekte betreuen sollte. Anfang der achtziger Jahre stieß Victor mit seinen Plänen zunächst nur auf Ablehnung. In der nigerianischen Regierung wollte man nichts davon hören. Er gab nicht nach, reiste im Süden umher, flog nach Europa, weil er wußte, daß

die dort residierenden Ölfirmen sensibler auf das Thema reagierten.

Und tatsächlich: Er zog die ersten - allerdings nicht mal die Kosten deckenden - Aufträge an Land.

Über einen Freund, den Victor im Polo-Club gefunden hatte und der für die Regierung arbeitete, bekam die neue Firma einen Auftrag im äußersten Südosten des Landes, nahe der Grenze zu Kamerun. In den Mangrovensümpfen waren Fässer entdeckt worden, in denen sich höchstwahrscheinlich Gift befand. Als wir mit dem Flugzeug in Calabar eintrafen, einer legendären früheren Sklavenstadt, machten wir uns keine Vorstellung, wie schwierig diese Reise werden sollte.

Zu unserer Begleitung und unserem Schutz hatte Victor einen kräftigen Einheimischen namens Steve mitgenommen. Die Fähre brachte uns von Calabar aus in vierstündiger Fahrt durch das Delta des Cross River nach Eket, wo uns Mike in Empfang nahm. Mike besaß eine kleine Firma, die gelegentlich Reparaturaufträge für die großen Raffinerien durchführte. Über Victor hoffte Mike, in einen möglicherweise einträglichen Markt für Bodensanierung vorzudringen.

Mike und seine sympathische, fröhliche Frau bewirteten uns in ihrem hübschen kleinen Haus, bevor es am nächsten Tag in vier Kanus, bepackt mit Bergen von Proviant und Zelten, in das dichte Grün des Mangrovensumpfes und des Regenwaldes ging. Unsere beiden Führer, Mba und Ukwu, brachten die Einbäume immer tiefer in die Sümpfe hinein. Das dichte Dschungelgrün wurde immer wieder von kleinen, parkähnlich angelegten Grundstücken unterbrochen. Als ginge sie die urwüchsige Kraft des Regenwaldes nichts an, hatten die Bewohner Pflanzen in Tontöpfen dicht ans Wasser gestellt. So entstand bei uns die irrige Annahme, daß die Zivilisation doch nicht ganz so weit weg war. Sogar Kirchen mit spitzen Türmen hatten Missionare hier errichtet. Und doch war der Urglaube der Menschen vom Fluß sehr lebendig.

Plötzlich begann es zu regnen. Ein Guß wie aus Kübeln! In Sekundenschnelle waren wir bis auf die Haut durchweicht. Wir paddelten aus dem dichten Regen, der die Sicht nahm, heraus und machten an der nächsten Anlegestelle fest, wo alles trocken war.

Mba sagte mit der größten Selbstverständlichkeit, daß in der Nähe ein babalawo wohne. Der Mann verstehe sich aufs Regenmachen.

Ein paar Stunden später tat sich Mba mit dem Paddeln plötzlich schwer. Wir fielen immer weiter zurück. Er rief seinem Kollegen Ukwu etwas zu. Als wir Ukwu endlich erreicht hatten, gab er Mba eine Flasche Gin. Während ich mich noch fragte, ob Mba sich alkoholisiert mit dem Paddeln leichter tun würde, leerte der die Flasche Gin komplett ins Wasser.

„Ein Opfer für die Götter“, murmelte Mba zur Erklärung. Und plötzlich bewegte er das Paddel wieder mit größter Leichtigkeit. Gin schlürfende Götter machen offensichtlich weniger Probleme. Was sich auf unser Trinkgeld für die Spender günstig auswirkte.

An einer Lagunenbucht war die Fahrt erst einmal zu Ende. Ein paar der Männer bauten die Zelte auf. Mit zwei Booten fuhren Ingenieur Mike, Leibwächter Steve, Victor und ich in einen Seitenarm hinein.

Eine mückenverseuchte, unangenehme Fahrt bis zu einem Brackwasserteich. Die Fässer waren achtlos abgeworfen worden; rote, durchkreuzte Totenköpfe sprachen eine deutliche Sprache. Die Behälter stammten laut Aufdruck aus Frankreich. Mike und Victor machten Fotos und nahmen Proben mit. Ich war froh, als wir die Lagune mit einer leichten Brise wieder erreicht hatten.

Während wir hungrig am offenen Feuer unser Abendessen verzehrten, erzählten Mba und Ukwu Geschichten von Fledermäusen mit riesigen Flügeln, deren Biß Polio übertrug, von Schlangen, die Geschwüre verursachten. All diese Tierchen seien nichts anderes als Hexen. Und die wollten nicht unbedingt töten, sondern bewohnten den Körper eines Menschen, um sich daran satt zu sehen, wie der Gepeinigte Haus und Landwirtschaft, Frau und Kinder verlor, bis er endlich selbst dahingerafft war.

Während Victor und ich teils amüsiert, teils angeekelt lauschten, kam eine Frau aus dem Busch. Mba lud sie ein, sich zu uns zu setzen. Schweigend nahm sie je eine Schale Reis und eine voll Fleisch mit scharfer Sauce. Wir dachten, daß sie sich nun setzen würde, um zu essen. Statt dessen drehte die Frau die Schalen mit der Öffnung auf den Boden. Danach verschwand sie genauso stumm, wie sie gekommen war. Wir kommentierten das Geschehen mit verständnislosem Lachen, und Steve drehte die Schalen wieder um.

Doch sie waren leer und sauber, als ob sie nie gefüllt gewesen wären.

Mit bangem Herzen verkrochen wir uns in unsere Moskitozelte. In der Nacht wachte ich von einem kratzenden Geräusch an der Zeltwand auf. Ein langgestreckter Schatten huschte draußen am Zelt entlang. In Panik weckte ich Victor. Er rief laut und klatschte in die Hände. Sein Rufen alarmierte die anderen, die zu unserem Zelt stürzten und die Umgebung mit ihren starken Taschenlampen ableuchteten. Ihre Suche blieb ergebnislos. An unserem Zelt machten sie jedoch deutliche Kratzspuren aus. Und dann entdeckte Steve den Grund für den Besuch: In einer Ecke unseres Zeltes lagen mehrere Brocken Fleisch. Mba und Ukwu schimpften uns, weil wir den Leoparden durch unseren Leichtsinn angelockt hatten.

Ich war jedoch ebenso wie Victor absolut davon überzeugt, daß wir keine Nahrung ins Zelt mitgenommen hatten.

„Dies ist die Gegend, in der der Leopard nachts jagt“, sagte Mba.

„Das Mädchen, das uns aufgesucht hat, war der verwandelte Leopard. Es hat euch das Fleisch aus der Schüssel ins Zelt gehext.“

Veranstalteten unsere horrorkundigen Flußführer all diesen Zauber, um uns einen Schrecken einzujagen? Durch die Wand unseres dünnen Moskitonetzes hatte ich eindeutig den Schatten einer großen Raubkatze gesehen. Das zerkratzte Zelt war ein weiterer Beweis. Allerdings hörte ich später, daß es Menschen gibt, die sich geschickt und katzenhaft wie der Leopard am Boden bewegen können.

Nach einer schlaflosen Nacht paddelten Mba und Ukwu uns zu einem babalawo, jenem, der angeblich auch den Regenguß zuwege gebracht hatte. Er sollte das Orakel befragen und im Zweifelsfall die Götter versöhnen. Victor sagte mir zwar, daß er die Orakelbefragung für ausgesprochene Scharlatanerie halte, aber er erkannte sehr wohl, daß die anderen aus unserer Gruppe das ganz anders sahen. Nachdem der babalawo Victors Geld bereitwillig genommen hatte, befragte er das Orakel. Wieder sah ich fasziniert zu, wie ein Busch-Priester die Palmnüsse jonglierte.

Wir hätten uns einen mächtigen Gegner ausgesucht, verkündete der babalawo nach einer Ewigkeit. Dieser Gegner müsse in einer Zeremonie besänftigt werden. Der babalawo tat dies, indem er einem kleinen Holzmännchen mit einem mächtigen, aufgerichteten Phallus kaltes Flußwasser über den dunklen, verwittert aussehenden Körper kippte und ihn danach mit rotem Palmöl einrieb.

Ich merkte Victor die Ungeduld während der Zeremonie deutlich an.

Er saß unruhig und fand keine Position, in der er seine langen Beine angemessen unterbringen konnte. Ungeniert blickte er immer wieder auf seine teure Schweizer Uhr. Ich wußte, daß er am Abend wieder in Lagos sein wollte. Und dann schleppte ein Helfer des

babalawo noch eine Ziege an, die geopfert werden sollte. Das war der Moment, in dem Victor endgültig der Kragen platzte. So hatte ich ihn noch nie erlebt. Er stand abrupt auf, reichte mir die Hand und zog mich hoch.

„Mister“, zischte er den babalawo an, „da hinten liegt irgendein Gift im Wasser und verseucht die Fische. Die Menschen werden diese Fische essen und krank werden oder sterben. Wie wäre es, wenn Sie Ihren Zauber mal dagegen einsetzen würden?“

Äußerlich zeigte der babalawo keine Verärgerung. Er gab lediglich der Ziege einen Klaps und jagte sie davon. Dann fixierte er Victor und sagte ganz ruhig: „Wenn der Leopard seine Beute nicht beim ersten Mal tötet, so heißt das nicht, daß er sie verschmäht.“

Während sich die anderen artig verbeugten, gingen wir zu den Kanus zurück. „Er hat eine schwarze Kerze angezündet“, hörte ich Mba zu Mike sagen, als wir in die Boote stiegen. Mike schnalzte mißbilligend mit der Zunge. Von ihm bekam Victor die Quittung für seine Ungeduld, und zwar bereits am Nachmittag. Mike sagte, ihm sei es zu riskant, sich an der Bergung der Fässer zu beteiligen. Ich fand lediglich, daß Victors Auftritt unnötig brüsk gewesen war. Eine Stunde lang dem Ziegenopfer beizuwohnen, hätte unseren Zeitplan nicht erheblich durcheinandergebracht. Zumal wir nachher ohnehin anderthalb Stunden auf die Fähre nach Calabar warten mußten.

Über die schwarze Kerze erfuhr ich, daß sie entzündet wurde, um jemanden mit einem Fluch zu belegen.

Erst Wochen später gelang es Victors Firma, ein Spezial-Unternehmen zu finden, das sich mit einem entsprechenden Schiff in die Sümpfe wagte. Als die Giftfuhre schließlich in dem Hafen ankam, den ich von Johns Rostautos kannte, war die Überraschung groß.

Ein Hafenarbeiter erzählte einem von Victors Männern, daß die Fässer im selben Hafen umgeladen worden seien - auf ein Schiff, das einer Reederei von Onkel Sunny gehöre. Die trickreichen Spiele des Leoparden liebenden Onkels.

Sunny spielte mit dem Tod: In den Fässern war mit Dioxin verseuchter Schlamm. Der Onkel zeigte sich tief betroffen über die Schlamperei seiner Angestellten. So stand es jedenfalls in der Zeitung. Familienintern lief die Angelegenheit anders ab. Chief William besuchte Victor und unterhielt sich lange unter vier Augen mit ihm. Hinterher war Victor sehr schweigsam, aber es war deutlich, daß er vom Clanchef einen Rüffel bekommen hatte. Nach der Entdeckung der Fässer hätte Victor die Familie verständigen sollen und nicht die Regierung.

„Und woher sollte ich wissen, daß der Dreck von Sunny stammte?“

fragte Victor mit unterdrücktem Ärger. Er hatte zwar geahnt, daß Sunnys Geschäfte nicht sauber waren. Den Onkel aber vor aller Augen zu überführen, das hatte eine andere Qualität. Victors erster großer Erfolg war gleichzeitig seine erste Niederlage geworden.

Weihnachten 1982 stand kurz bevor. Ich wollte zu meinen Kindern nach Deutschland, Victor nach London, wo wir dann gemeinsam Silvester feiern würden. Femi brachte uns zum Flughafen. Er reichte uns eine Tageszeitung nach hinten. „Haben Sie es schon gelesen, Ma'am?“

In dicken Lettern stand auf der Titelseite: „Deutscher Geschäftsmann in seinem Büro erschossen“. Ein Schwarzweißfoto von einem Mann am Boden, in seinem eigenen Blut liegend. Hastig überflog ich den Text. Klaus Nickel war von hinten von mehreren Kugeln getroffen worden, als er vor seinem Tresor stand. Der Täter mußte Nickel gekannt und ihn gebeten haben, etwas aus dem gut bewachten Tresor zu holen, in dem alle Firmenunterlagen und große Geldsummen verwahrt wurden. „Menschen wie Nickel stürzen über ihre eigenen Machenschaften“, hatte Bernd einmal zu mir gesagt.

Ich reichte die Zeitung an Victor weiter, der den Text gründlicher las. „Du hast nicht zu Ende gelesen, Ilona. Hier steht, daß auch Nickels Oberbuchhalter ermordet wurde. Ein Lion Okoro. Er ist schon vorzweiTagen auf der Straße erstochen worden.“ Pause.

„Was ist das bloß für ein Land!“

Sicher: Die beiden Toten hatten mir ganz schön zugesetzt. Mit einem weniger wachsamen Schutzengel an meiner Seite hätte ich die Heimfahrt von Okoros Fest vielleicht nicht überlebt. Aber der Tod der beiden war unnötig: Mit einem Prozeß hätte man viel mehr erreicht. Aber das lag wohl in niemandes Interesse. Strengfurt schloß ich bei diesem Gedanken durchaus mit ein. Nickel war kinderlos geblieben, aber Okoro hatte drei kleine Kinder. Was konnten sie für das skrupellose Vorgehen ihres Vaters?

Am Neujahrstag hatte ich das seltene Vergnügen, eine Dame aus dem britischen Hochadel kennenzulernen - Victors Mutter. Sie war sicher älter als Mitte Fünfzig, aber ihre Haut war faltenfrei. Als wäre sie gebügelt wie alles in ihrem Haus. Haus? Es war ein türmchen-verziertes Schloß mit eigenem Stadtpark vor den Toren Londons.

Alles sah so aus, als wäre Victor der einzige Mensch dunklerer Hautfarbe, der jemals den Haupteingang benutzen durfte.

„Wie lange hast du deine Mutter nicht gesehen, Victor“, hatte ich vorher gefragt.

Er überlegte eine Weile. „Vier Jahre? Nein, fünf.“

Zur Begrüßung hielt sie ihrem Sohn die Hand hin - für einen Handkuß. Keine Umarmung. Und so verlief auch die Konversationen der eigentlich nur eines bemerkenswert war, nämlich der Kommentar: „Victor, du solltest nicht in Afrika bleiben.

Das ist nicht dein Land.“

Victor widersprach nicht, nahm es nur schweigend zur Kenntnis.