Mit Victor.
„Warum haben Sie mir nicht gesagt, daß Sie ein echter Prinz sind, Victor?“ fragte ich ihn, als wir in dem aus der Jahrhundertwende stammenden Treffpunkt der Elite tafelten.
„Was kann ich dafür, daß ich ein Prinz bin? Das ist mir in die Wiege gelegt worden. Um die Anerkennung meiner Mitmenschen muß ich dagegen kämpfen. Wie kann ich das, wenn man weiß, wer ich bin?
Jeder erstarrt in Ehrfurcht. Das ist langweilig, glauben Sie mir!“
sagte er mit seinem leicht blasierten Oxford-Akzent, der mich bei jedem anderen Mann wahrscheinlich gestört hätte. Den schönen Victor machte er unwiderstehlich.
„Ist es für Sie belastend, wenn man weiß, wer Sie sind?“
„Nein. Heute nicht mehr. Ich habe gelernt, damit umzugehen.
Ansehen zu genießen ist sehr angenehm. Ich habe es mir auf der Universität erarbeitet. Respekt, der mir gezollt wird, gilt meiner Person. In erster Linie jedenfalls. Ich wollte nicht - wie einige meiner Vettern - ein Leben als Playboy führen. Das hätte mich zum unnützen Anhängsel meiner Familie gemacht.“
„Sie haben mir damals in London erzählt, daß sich Ihr Vater nie um Sie gekümmert hat. Aber jetzt respektiert er Sie?“
Bevor er antworten konnte, erschien der Ober. „Mögen Sie immer noch so gern Mousse au chocolat, Ilona? Es gibt hier sehr gutes!“
„Das haben Sie sich gemerkt?!“ Ich spürte mein Herz ein paar Takte schneller schlagen.
„O ja, das habe ich.“ Ein langer Blick in meine Augen. Dann -ganz Prinz aus der Oberschicht - zum Kellner: „Bitte zweimal Mousse.“
Ja, Victors Vater respektierte seinen wohlgeratenen Sohn. Und zwar so sehr, daß der mittlerweile fast siebzigjährige Senior ihn als sein ein und alles betrachtete. Der Vater hatte nach der Scheidung von Victors Mutter nicht wieder geheiratet. Victor blieb sein einziger Nachkomme. Ungewöhnlich für einen Afrikaner.
„Sagen Sie bloß, Sie werden mal König Ihres Stammes!“
„Das finden Sie sicher sehr altmodisch, nicht wahr?“
Es verwirrte mich. Schließlich hatte mich noch nie ein künftiger König zum Schokoladenpuddingessen eingeladen!
Victor lachte. „Künftiger König!“ Ein leicht bitterer Zug spielte um seinen gutgeschnittenen Mund. „Ich stand auch schon vor der Tür zu einer Diskothek, in der man mich nicht kannte. Neger dürfen hier nicht rein, fuhr mich der Türsteher an. Ich bin dem Typ heute noch dankbar, auch wenn sich das seltsam anhört. Solche Erfahrungen prägen, weil sie Grenzen aufzeigen. Für die einen bin ich ein künftiger König, für die anderen eben nur ein Neger.“
„Sagen Sie das nicht so, Victor! Die Welt ist voller Dummköpfe!“
„Richtig, Ilona. Und es ist gut, wenn man das am eigenen Leib erfahren hat, bevor man König wird.“
„Sie werden ein guter König.“
„Was ist gut, Ilona? Alles hat zwei Seiten, auch das Gute. Was die einen für gut empfinden, lehnen die anderen ab. Ich möchte beide Seiten sehen können. Aber das ist wohl kaum möglich.
Verantwortungsbewußt, das möchte ich sein.“
Victor war schön, aufmerksam und zurückhaltend, Philosoph und Prinz. Schweigend aß ich mein Mousse und beobachtete, wie er mit seinen feingliedrigen, gepflegten Händen die Serviette nahm und sich den Mund tupfte, um ganz unverfänglich zu fragen: „Haben Sie schon etwas von Nigeria gesehen, Ilona? Oder sind Sie bislang noch nicht aus diesem Lagos herausgekommen?“
Dieses Lagos... Für Victor eine gesichtslose, chaotisch wuchernde Boomtown. Er dachte europäisch, schwärmte von der Schweiz und natürlich von London. Wie seine Mutter, die noch nie in Nigeria gewesen war. Sie hatte in zweiter Ehe ein Mitglied des britischen Oberhauses geheiratet. Das war schon eher Victors Welt, in die er in ein paar Tagen zurückkehren wollte. Doch vorher mußte er in den Norden, nach Kaduna, fliegen. Ich glaubte aus seinem Ton herauszuhören, daß er den Trip nicht gern in Angriff nahm.
„Waren Sie schon mal im Norden, Ilona?“ Ich verneinte. Mein Herz schlug etwas schneller, als er fortfuhr: „Begleiten Sie mich! Sie sollten den Norden Nigerias unbedingt kennenlernen. Er ist ganz anders als die Gegenden, die Sie kennen“, sagte er auf seine elegante Art in einem beiläufigen Ton. Als ob es um meine geographischen Kenntnisse ging. Sein seidenweicher Blick unter den langen Wimpern schien sich der Bedeutung der Worte nicht ganz bewußt zu sein. Oder doch? Suchte er eine sympathische Reisebegleitung, mit der er sich unangestrengt unterhalten konnte?
Oder hatte es der aristokratisch kühle Mann mit dem sanften Blick faustdick hinter den Ohren?
„Wollen Sie dort auch ein Grundstück verkaufen, Victor?“ fragte ich ausweichend. Obwohl die Aussicht auf eine gemeinsame Reise mit diesem Mann in mir natürlich ganz andere Fragen aufwarf...
„Nein, mein Vater hat dort eine Zeitung. Nichts Großartiges, wie Sie es aus Europa kennen. In diesem Land haben die größten Tageszeitungen
200 000 Stück Auflage. Selbst in Ibadan, der größten Stadt, in der mehr Menschen als in London leben.“
„Die Analphabeten?“ vermutete ich, die Konversation recht unkonzentriert fortsetzend.
„Nein, das Papier. Es gibt nicht genug.“ Pause. „Und die Politik“, fügte er leiser hinzu. „Eigentlich fahre ich hin, weil mein Vater sagt, ich wüßte zuwenig vom Land meiner afrikanischen Vorfahren.
Damit hat er zweifellos recht.“ Nach einer Pause sagte er erklärend:
„Nächstes Jahr soll ich Vizepräsident seines Konzerns werden. Da muß ich mich vorher wohl wirklich umsehen.“
Prinzen reisen komfortabler als Normalsterbliche: Die zweimotorige Privatmaschine von Victors Vater stand bereit, um uns fast 900
Kilometer weit nach Kaduna zu bringen. Es war das erste Mal, daß ich in eine solche Blechkiste mit Flügeln kletterte, setzte mein Herzschlag doch schon bei jedem Luftloch aus, in das die großen Linienmaschinen sackten.
In der Maschine, die in der prallen Sonne gewartet hatte, war es drückend heiß. Und sehr eng. Plötzlich befand sich mein Prinz auf Tuchfühlung neben mir. Ein heißkaltes Kribbeln lief mir über den Rücken, meine Hände wurden feucht, und der Schweiß schoß mir aus den Poren. Rumpelnd und kaum gefedert sauste die Maschine über die Piste, stieg steil auf. Welch ein Blick auf Lagos, die Stadt mit den tausend Lagunen, Flußarmen, dem nahen Meer. Wie wundervoll sie liegt! Der Pilot zog eine enge Schleife, legte die Maschine extrem schräg, um nach Norden abzudrehen. Unsere Körper wurden aneinandergedrückt.
„Haben Sie Angst, Ilona?“ Victor sah mich besorgt an.
„Ich bin noch nie in so einem Ding gesessen“, gab ich kleinlaut zu.
Er nahm meine feuchtkalten Hände. Ich schämte mich, vor allem, weil ich nun noch stärker zu transpirieren begann. Ich atmete den frischen Duft seines Parfüms ein und hörte seiner melodischen Stimme zu, die mir etwas über Lagos erzählte. Kluge Sätze über das Bevölkerungswachstum, die vielen Religionen und die Unfähigkeit der Regierungen, die im Widerstreit der Interessen die Stadt sowenig wie das ganze Land in den Griff bekamen. Was zählte all das -
hier oben? Das Maschinchen sackte zwar alle naslang ab, wurde wieder hochgezogen. Aber ich merkte nicht mehr, daß ich eigentlich um mein Leben hätte fürchten müssen. Victor hielt ja meine Hände.
Meinetwegen hätte der Flug ewig weitergehen können. Fliegen verbindet. Nun hatte ich das auch am eigenen Leib erlebt...
Das grüne Land wechselte irgendwann in braunes Land, wüstenartig ausgedörrte Ebene, aus der die abgebrannten Felder wie häßliche schwarze Flecken hervorstachen. Victor berichtete über die vielen Stämme, die weit unter uns ihr schweres Leben fristeten, die vielen Kriege, die um dieses teilweise so ausgetrocknete Land geführt worden waren. Und so bekam ich nebenbei mit, warum wir ausgerechnet nach Kaduna flogen, eine erst 1913 von den Briten aus dem Boden gestampfte Stadt: weil Victors Vater die einstigen Kolonialherren bewunderte. Nichts war es mit der von Yemi beschworenen kulturellen Selbstbestimmung -
statt dessen eine Stadt vom Reisbrett mit breiten Alleen. Nicht so afrikanisch, wie ich Nigeria kannte.
Der Zeitungsbau war ein kolonialer Zweckklotz. Mit einer ungewöhnlichen Selbstverständlichkeit nahm Victor mich zu seinen Gesprächen mit, stellte mich als „eine Freundin aus Deutschland“
vor. In Deutschland waren damals elektrische Schreibmaschinen Standard, wurden die ersten Computer in die Büros gestellt, die Zeitungen schafften gerade den Bleisatz ab. Hier klapperten alte Remingtons, doch die Leute waren glücklich. Endlich durften die Zeitungsmacher drucken, was sie wollten. Unter dem gewählten Präsidenten Shehu Shagari herrschte für kurze Zeit Pressefreiheit.
Victor wollte die Pferderennbahn und den angegliederten Poloplatz der Stadt sehen, eine staubige Angelegenheit. In den Ställen fachsimpelte der Verlegersohn mit den Stallburschen. Das war eher seine Welt als der altertümliche Verlag. Nicht weit vom Poloplatz lag unser Hotel, das damals gerade fünf Jahre junge Hotel „Durbar“. Es verfügte sogar über Fernsehen in der Suite. Wir schalteten es allerdings nicht ein einziges Mal an ...
Elegant sprang Victor in den Pool des Hotels, und ich, die Nicht-schwimmerin, wartete, bis ich seinen sehnigen Körper mit einem Badetuch abtrocknen durfte. In der komfortablen Suite servierten uns elegante Etagenkellner perfektes britisches Essen. Ein festliches Essen gehörte für meinen Prinzen zum Vorspiel. Bevor er endlich vergessen konnte, daß er nicht nur Prinz war, sondern auch Mann.
Von einem fliegenden Händler hatte ich vor dem Hotel ein paar hübsche Schnitzereien aus dunklem Holz - Löwen, Elefanten und Antilopen - gekauft. Ich fragte Victor, ob es solche Tiere noch in freier Wildbahn gebe. Er stutzte einen Augenblick und strahlte mich dann an. „Ilona, das ist eine blendende Idee!“
Er meinte den Yankari-Nationalpark, ein 2 200 Quadratkilometer großes Wildreservat etwa 250 Kilometer östlich von Kaduna. Am nächsten Morgen saßen wir wieder in der kleinen Maschine seines Vaters und waren auf dem Weg zum Jos-Plateau. Wir flogen bis zur Stadt Bauchi, wo Victor für uns einen Wagen samt Fahrer mietete, einen ziemlich verrosteten Landrover, der mir nicht sehr vertrauenerweckend erschien. Ebensowenig wie der Fahrer, Hassan, ein knochiger Mann in weißem, langem Gewand und mit weißem Turban. Hassan tat zwar sehr ehrerbietig, sah uns aber nicht in die Augen. Überhaupt verzog er nie eine Miene, egal, was noch kommen sollte. Victor lächelte mich aufmunternd an, also krabbelte ich in Hassans Gefährt hinein. Vielleicht hätte ich Victor darauf aufmerksam machen sollen, daß ich bei Überlandfahrten in diesem Land schon unangenehme Überraschungen erlebt hatte.
Aber er war so voll positiven Schwungs.
Das Jos-Plateau ist eine fruchtbare Hochebene, ein nigerianischer Garten Eden, in dem Gemüse angebaut wird. Das Klima war angenehm und nicht so heiß. Victor gab sich Mühe, nicht den reichen Mann aus London herauszukehren, und befragte Hassan über sein Gefährt aus England. Es hatte 200 000 Meilen nigerianischer Land- und Sandstraße absolviert...
Das Gras der Savanne war recht hoch und saftig grün. Löwen, Elefanten, Giraffen, Geier, Affen - all diese Tiere hatte Hassan uns versprochen. Doch erst mal sahen wir kein einziges davon.
Mindestens zwei Meter hohe, rostrote Termitenhügel ragten auf, mit gezackten Türmen wie gotische Miniatur-Kathedralen. Hassans Ehrgeiz, uns die versprochenen Tiere zu zeigen, wuchs. Immer tiefer lenkte er den Wagen in dichte Vegetation. Endlich sahen wir in einiger Entfernung eine Herde Elefanten, eine Gruppe von etwa acht Tieren. Es war bereits nachmittags, die Sonne hatte ihren höchsten Punkt verlassen. Um besser sehen zu können, streckten wir die Köpfe durch eine Luke im Dach des Landrovers. Die grauen Riesen nahmen keine Notiz von uns.
„Fahren Sie uns ein bißchen näher ran“, bat Victor. Hassan legte knirschend den Gang ein und ließ das Gefährt über den unebenen Untergrund rumpeln. Der laute Motor des Rovers störte die Elefanten nicht. Mit den Ferngläsern sahen wir die Tiere recht gut.
Sie fächelten sich mit ihren erstaunlich großen Ohren Kühlung zu.
Hassan stand neben uns und suchte die Gegend ab. Plötzlich deutete er in eine ganz andere Richtung.
„Sehen Sie da drüben. Da ist ein Löwe. Sie haben wirklich Glück!“
In der angegebenen Richtung mußte ich lange suchen, bis ich in der Astgabel eines Baumes tatsächlich einen hellbraunen Fleck ausmachen konnte. Ich hörte wieder das ungesund klingende Ratschen aus dem Motorraum, als Hassan schaltete, um den Wagen näher an das Objekt unserer Neugier heranzufahren. Der Motor heulte kurz auf, aber das Auto bewegte sich nicht. Hassan wiederholte die Schalterei, es kratzte noch lauter; schließlich rumpelte der Wagen weiter. Während wir uns stehend am Dach festhielten, fuhr Hassan langsam näher an die Löwin heran. Ein Schwarm Vögel stieg auf. Die Elefanten liefen ein paar Schritte weiter, verharrten. Die Löwendame, inzwischen etwa 200 Meter links von uns, rührte sich nicht. Schlafend lag sie in der Gabelung eines Baumes.
„Wir müßten kurz vor Sonnenuntergang hier sein“, sagte Victor,
„dann wäre die Lady vielleicht etwas munterer.“ Ich sah Victor an.
Hatte er denn nicht mitbekommen, daß mit dem Rover etwas nicht stimmte? Victor genoß die Natur - während meine Sorge mehr unserem Rückweg galt. Ich nahm mein Fernglas und suchte die Savanne ab, aber nicht nach Tieren, sondern nach anderen Autos.
Doch da waren keine. Hassans Safari-Ehrgeiz hatte uns weitab von der befestigten Straße in den Park hineingeführt.
„Hassan, meinen Sie, wir finden ein paar Giraffen?“ fragte Victor in bester Safari-Laune.
Ein lautes Krachen aus dem Motorraum - der Motor jaulte gepeinigt auf, das altersschwache Gefährt bewegte sich keinen Meter weiter.
„Das wird wohl das Getriebe sein“, meinte Victor gelassen.
Verlassen Sie den Wagen nicht, hatte das Schild am Parkeingang gewarnt. Hassan stieg aus dem Landrover, öffnete in aller Ruhe die Motorhaube und blickte hinein. Ich sah Victor an. Ein ironisches Lächeln spielte um seinen Mund.
„Ilona, das ist Afrika. Es passiert, was eigentlich nicht passieren sollte. Ist das nicht interessant?“
Ich hätte wohl auch ein paar Jahre Oxford absolvieren müssen, um das Leben so gelassen beurteilen zu können! Doch leider gab es nicht nur eine Löwendame und einige Elefanten in unserer Nähe, sondern viele in ihrer Blutgier nicht zu unterschätzende Mücken, die sich über unsere Haut hermachten. Victor schloß das Dach, und wir klatschten Mücken.
Der sandfarbene Landrover war in der grünbraunen Savanne mit Sicherheit schlecht auszumachen. „Wir sollten vielleicht hupen“, schlug Victor vor. Hassans Blick in den Motorraum hatte lediglich eine simple Erkenntnis gebracht: „Engine broken.“ Motor kaputt.
Während wir schwitzend im Wagen warteten und hupten, war Hassan auf das Dach seines Gefährts geklettert. Wir hörten ihn durch das Blech hindurch unablässig vor sich hin sprechen. Ob er Allah oder die Geister der Vorfahren um Beistand anflehte, verriet er uns nicht. Wir begannen uns jedoch bald Sorgen um den guten Mann zu machen. Denn erst verschwand die Löwendame und war in dem schulterhohen Gras nicht mehr auszumachen. „Hassan, kommen Sie rein“, rief Victor, um zu verhindern, daß Hassan vor unseren Augen zum Appetithappen einer Löwendame wurde. Vom Gras bis zum Auto war es allenfalls ein Meter. Ein Sprung aufs Autodach, und um Hassan wäre es geschehen gewesen.
Also kam Hassan in den Wagen zurück und übernahm schweigend den Hup-Job. Ein mächtiger Elefantenbulle trottete mit er-hobenem Rüssel geradewegs auf uns zu. Ob er die Hupe abstellen wollte? „Ich glaube, Hassan sollte mit der Huperei aufhören“, sagte ich mit zitternder Stimme.
„Stop honking“, sagte Victor knapp. Hassan gehorchte, doch der Elefant kam trotzdem näher. Mit dem Rüssel fingerte er an den Scheiben entlang. „Ich glaube, er will was zu essen“, mutmaßte Victor. „Wenn wir ihm nichts geben, wird er gehen.“
Der gefrustete Dickhäuter verzog sich tatsächlich. Allgemeines Aufatmen. Unsere Situation war trotzdem unverändert. Wir schwitzten in einer Rover-Sauna und erzählten uns gegenseitig von unserem Leben. Es war das erste Mal, daß ich einem Menschen die leidvolle Autogeschichte erzählte.
„Dann war es aber mutig von dir, mit mir auf diese Safari zu gehen“, meinte Victor.
„Ich dachte, ich hätte genug Abenteuer mit Autos erlebt.“
„Du hast recht“, sagte Victor, „unser nächster Ausflug wird mit dem Boot sein.“ Er lachte mich schelmisch an und legte den Arm um mich. Ich bettete meinen schweißnassen Kopf an seine Schulter.
„Glaubst du eigentlich an das Schicksal? An so was wie Vorbestimmung?“ fragte er und blickte träumerisch in die wunderschöne Landschaft. Es war ein Moment, als wären wir beide aus der Zeit gefallen, als hätte die Erde aufgehört, sich zu drehen.
Die Autopanne hatte uns aus allen Planungen herausgeworfen.
Niemand konnte uns hier erreichen. Eigentlich ein beängstigender Gedanke angesichts unserer Lage, aber auch ein traumhaft schöner Moment. Mitten in der ursprünglichen Natur neben einem Mann, der meine Nähe genoß. Ich entspannte mich und ließ mir sanft den Nacken massieren.
Mila fiel mir ein, die Beraterin. Sie hatte mir nach meiner Rückkehr aus dem Dorf der Hexen doch noch die Kauris geworfen. „Du wirst einen Mann treffen. Er ist anders als alle anderen“, las sie in ihrem Orakel. Aber dann gab sie wieder ihren häßlichen Schnalzlaut von sich. „Du mußt auf euer Glück aufpassen. Da ist etwas, dasgegen eure Liebe arbeitet. Es kann sein, daß es diese Liebe zerstört.“
Das Orakel sagt dir nur deinen Weg voraus. Wenn du diesen Weg kennst, dann kannst du ihn ändern. Das ist der Sinn des Orakels, hatte sie gesagt.
Ich genoß Victors Nähe und fragte mich, wie ich unser Glück beschützen könnte. Und überhaupt - vor wem? Vor Löwen und Elefanten? Der Gedanke ließ mich lächeln.
„Du glaubst nicht an das Schicksal“, sagte Victor. In seiner Stimme schwang leichte Enttäuschung mit.
„Ich weiß es noch nicht“, erwiderte ich faul und genoß sein Kopfkraulen.
„Was muß geschehen, damit du es weißt?“ fragte er und beugte sich zu mir runter, um mich zart zu küssen.
„Das reicht mir erst mal als Beweis.“ Ich lachte und umschlang seinen Kopf mit beiden Armen. Nein, ich wollte keinen Beweis.
Denn wenn Milas Worte stimmten, dann mußte ich den Moment mehr schätzen als die Zukunft. Nach all dem, was ich durch Mila bereits erfahren hatte, gab es Kräfte außerhalb unserer Vorstellungskraft. Energien, die es zum Beispiel einer Frau in 400
Kilometer Entfernung möglich machten, mich zu sich rufen.
„In welcher Religion bist du eigentlich erzogen worden?“ fragte ich Victor später.
„Anglikanisch“, sagte er, „aber der christliche Glaube scheint mir nicht ausreichend Antworten auf alle Fragen zu geben. Mein Vater hat mir geraten, mich mit der Ifa-Religion zu beschäftigen. Ifa sagt, daß Spirituelles und Materielles eine Einheit sind. Unsere Havarie hier erklärt sich daraus. Der Geist unseres Fahrers befindet sich nicht im Einklang mit der Maschine, die er bedient. Darum versagt sie ihren Dienst, wenn sie am nötigsten gebraucht wird. Wenn wir uns jetzt mit dem Schicksal des kaputten Motors identifizieren, dann werden wir auch versagen. Darum ist es das beste, zu tun, was wir gerade machen. Wir warten ganz entspannt und vergessen das kaputte Auto nach Möglichkeit.“
„Und wenn uns keiner findet, Victor?“
„Wir werden gefunden. Sieh mal da, über unserem Auto fliegen große Vögel im Kreis. Das könnten Geier sein.“
„Victor, die wollen uns fressen!“ rief ich bang.
Er kraulte mich unbeeindruckt weiter, massierte meine Schläfen.
„Vielleicht haben sie das vor. Aber gleichzeitig machen sie auf uns aufmerksam.“
Er hatte recht. Zwei freundliche Park-Ranger erschienen noch vor Sonnenuntergang, ließen uns in ihrenToyota-Geländewagen wechseln und lieferten uns in einem unscheinbaren Hotel ab.
Hassan mußte seinen Landrover in der Wildnis zurücklassen, worüber er in lautes Wehklagen ausbrach.
Es gibt, das weiß ich heute, im Yankari-Park eine schöne Hotelanlage, die wie ein afrikanisches Dorf angelegt ist. Die Wildhüter aber schafften uns ins erstbeste Hotel am Rand des Parks. Die gigantischen Termitentürme davor stimmten uns auf eine Übernachtung der besonderen Art ein. Zu essen gab's Erdbeeren, frisch gepflückt auf dem Jos-Plateau, süß und fruchtig. Und zwei Betten mit löchrigen Decken. Heute steht das Hotel bestimmt nicht mehr -die Termiten haben es gewiß längst vertilgt. So wie Koran und Bibel im Nachtschrank. Und die Füße des Nachtschranks. An denen machten sie sich nämlich damals lautstark zu schaffen - ein ständiges Quietschen. Es störte uns nicht. Um wieviel romantischer war es hier, verglichen mit dem perfekten Betonklotz in Kaduna. Ich hätte nie gedacht, daß ich nur kichern würde, wenn mir eine Kakerlake am Bein hochkrabbelt. Victor schnipste sie elegant fort.
Wäre ich mit John im gleichen „Hotel“ gewesen, hätte ich bestimmt gezetert und die ganze weitere Nacht kein Auge zugetan.
„Sind das Hunde, die da bellen“, fragte ich.
„Hört sich wie Affen an“, sagte Victor.
Da fiel draußen laut scheppernd ein metallischer Gegenstand zu Boden.
„Affen?“ fragte ich.
„Wahrscheinlich Hyänen“, murmelte Victor. „In den Mülltonnen sind bestimmt Abfälle, die sie sich holen.“
„Hast du keine Angst?“
„Hyänen fressen nur Aas“, antwortete er in die Dunkelheit hinein.
„Und wir sind doch sehr lebendig, oder?“
Sollten draußen doch afrikanische Urgewalten toben. Ich schmiegte meinen Kopf auf die Brust meines Prinzen und lauschte dem Pochen seines Herzens. Es klang sehr beruhigend.
DER GEIST MIT DEN RÜCKWÄRTSGERICHTETEN FÜSSEN
Seit Yemis Tod waren einige Wochen vergangen. Ich hatte nicht mehr geglaubt, daß Abiola sich wieder bei mir melden würde. Doch plötzlich stand er vor meiner Tür. Ich freute mich unglaublich, ihn zu sehen, und empfand gleichzeitig Scheu, diese Freude zum Ausdruck zu bringen. Ich wollte ihm viel erzählen, und vor allem hatte ich Arbeit für ihn. Denn ich hatte meinem Vater leichtsinnigerweise von Nickel und dessen Machenschaften erzählt.
„Du brauchst einen Hund, der dich beschützt“, hatte Papa gesagt.
Und wie ich zu einem Hund kommen würde, wußte er auch schon.
Meine Schwester Monika wartete nach dem Abitur auf einen Studienplatz und hatte Zeit. Sie wollte mich besuchen kommen und bei der Gelegenheit einen Wachhund für mich mitbringen. Ich bat Papa, mir einen Airdale-Terrier zu besorgen, so einen großen Teddy-Hund. Statt eines Hundes kamen zwei. Was mein Vater tat, das tat er gründlich. Der Anfang war vielversprechend: Keiner der Flughafenarbeiter traute sich an die Hundekäfige. Denn statt eines Airdales brachte Monika zwei Doggen mit! „Das sind richtige Wachhunde. Die passen wirklich auf dich auf“, sagte Vater am Telefon.
Die eine Dogge war schwarzweiß gefleckt, die andere braunschwarz geströmt. Sie waren vier Monate alt und hatten schon enorme Ausmaße - sie paßten gerade noch in die Transportboxen. Abiola hatte die notwendigen Einfuhrpapiere mitgebracht. Gemeinsam hievten wir die Boxen auf einen Kleinlaster, den ich mir ausgeborgt hatte. Es dämmerte schon, als wir endlich vom Flughafen wegkamen. Die erste Polizeikontrolle ließ nicht lange auf sich warten. Monika blickte mich entsetzt an, als zwei Polizisten auf unseren Pritschenwagen zukamen - mit Gewehren.
„Oje“, stöhnte ich, „jetzt geht das wieder los! Die wollen immer Geld. Die reinste Wegelagerei, sage ich dir. Es dauert zehn Minuten, und unter fünfzig Naira Bestechungsgeld geht es bestimmt nicht ab.“
Der Polizist trat arrogant ans Fenster: „God dey, ma'am. Sie sind zu schnell gefahren.“
„Das kann nicht sein, Sir, ich bin ...“
Weiter kam ich nicht. In diesem Moment ertönte von hinten ein beherztes, tiefes: Wau! Und als Antwort darauf, etwas tiefer, noch beherzter: Wau! Wau!
Der Polizist sprang zurück, riß seine Waffe hoch, starrte auf die Ladefläche, sah die beiden Doggen, die in ihren Boxen standen und ihrerseits den Polizisten anglotzten. Sein Kollege rührte sich überhaupt nicht mehr. „Okay, ma'am, ist okay. Gute Fahrt.“
„Ich weiß gar nicht, was du willst, Ilona. Die waren doch ganz nett“, kommentierte Monika.
„Haben die Doggen eigentlich schon Namen“, fragte ich.
„Die geströmte heißt Baatzi, die gefleckte Dolly.“
„Dolly - wie Püppchen?“ Abiola lächelte. „Das ist ein passender Name ...“
„Ich glaube, Vater hatte recht, Monika. Doggen sind eine gute Idee für Nigeria“, meinte ich.
Das waren sie tatsächlich. Bei einer Polizeikontrolle reichte es von nun an, wenn ich das Fenster runterkurbelte und freundlich nach des Beamten Begehr fragte. Dann schob Dolly neugierig ihr nettes Hundegesicht an mir vorbei. Ein bemerkenswertes Gesicht: die eine Seite schwarz, die andere weiß. In der schwarzen Seite ein blaues Auge, in der weißen ein braunes. Ihre lange Zunge hing ihr aus dem Hals, die roten Lefzen tropften.
„Ist okay, Ma'am. Gute Fahrt.“
„Nette Polizisten“, sagte Monika.
„Finde ich auch“, stimmte ich zu.
Ich schob Dollys Kopf zurück, kurbelte das Fenster wieder hoch, Victor –
seine große Leidenschaft waren Polopferde.
Schönheit und Kraft: Ifeoma begleitete mich während meines Initationsritus.
fuhr los. Die Polizisten starrten uns entgeistert nach. Dolly schüttelte sich. Der Sabber flog gegen die Fenster. Es hat eben alles seinen Preis.
Apropos Preis - auch das Hundefutter in Afrika war teuer. Doggen stehen nun mal auf riesige Portionen Frischfleisch. Ich verfütterte es mit ausgesprochen gemischten Gefühlen an meine teuren Tiere.
Rons und Kens Blicke entgingen mir nicht, wenn sie Baatzi und Dolly saftiges Fleisch hinstellten. Während sie und ihre Familien tagein, tagaus die garri-Pampe aßen. Ich konnte durchaus verstehen, daß sie sich das Fleisch schnappten und den Doggen
garri gaben, wenn ich nicht aufpaßte.
„Die Doggen müssen jeden Tag Fleisch und Knochen zu fressen kriegen. Ohne das darin enthaltene Kalzium bekommen sie Rachitis. Sie sind noch im Wachstum, Ilona“, warnte Abiola. Fortan achtete ich sorgsam darauf, daß meine vier Vierbeiner tatsächlich das ihnen zugedachte Essen bekamen. Die Katzen Fisch, die Hunde Fleisch.
Die Doggen wuchsen enorm schnell. Niemand traute sich mehr in den Garten, wenn Baatzi und Dolly draußen herumsprangen. Auch Ken nicht, der den Garten zu versorgen hatte. Allerdings gab's bald nicht mehr viel zu versorgen: Baatzi und Dolly gruben alles um. Bei den Deutschen im Viertel sprach sich rasch herum, daß meine Hunde wesentlich wirksamer waren als zum Beispiel der von allen gehaßte Esel Nickels. Bald kamen die ersten Anfragen, ob ich nicht eine der beiden verkaufen wollte. Aber ich hatte meine beiden Riesenbabys schon zu sehr ins Herz geschlossen. Statt dessen leitete ich die Anfragen an meinen Vater weiter. Hunde-Import war wesentlich einfacher als Auto-Import. Und Abiola bekam immer mehr dankbare neue Kunden.
Meine Schwester sollte von Afrika natürlich soviel wie möglich zu sehen bekommen. Andererseits stand Victors Rückkehr nach London unaufschiebbar bevor. Er hatte mir ja noch einen Ausflug versprochen - mit dem Boot. Abiola und Victor, die sich schon durch ihre gemeinsame Liebe zu den Tieren bestens verstanden, steckten die Köpfe zusammen und kamen zu dem Schluß, daß wir eine Kanu-fahrt durch die Lagunen östlich von Lagos machen sollten. Abiola packte Baatzi ins Auto und bat Monika auf den Beifahrersitz; ich folgte mit Victor und Dolly im zweiten Wagen, dem standesgemäßen Jaguar meines Prinzen. Victor fand unsere tierischen Leibwächter
„very sophisticated“. Daß die eigentlich harmlosen Hunde durch ihre pure Gegenwart abschreckend wirkten, entsprach seinem trockenen britischen Humor.
In Ejinrin am Rand des Regenwalds, der sich entlang der Bucht von Benin hinter Mangrovensümpfen und breiten Lagunen Hunderte von Kilometer entlang der Küste erstreckte, fand Abiola zielsicher, was wir suchten - Kanus. Lange ausgehöhlte Baumstämme, die je nach Größe von einem oder mehreren Einheimischen gelenkt wurden.
Abiolas Begleitung (und natürlich die Anwesenheit der Doggen) ersparte uns einen Wächter für die Autos, dessen Anmietung dringend empfohlen worden war. Victors Jaguar hätte in seiner Abwesenheit mit Sicherheit einen neuen Besitzer gefunden ... Wir ließen Abiola, der sich mit den Dialekten wesentlich leichter tat, für uns den Preis eines Tagestrips inklusive zwei Paddlern aushandeln.
Während Abiola noch feilschte, kam ein junger, ziemlich muskulöser Bursche auf uns zu. Das heißt - er kam auf Monika zu, meine hübsche 19jährige Schwester. Der schlaksige Kerl winkte ihr zu, und Monika folgte der Einladung. Der junge Mann verfügte über ein etwa sechs Meter langes Kanu.
„Spezial-Preis für dich und deine Freunde“, sagte er auf Pidgin-Englisch.
„Ilona, komm doch mal!“
Der Bursche verstand sein Handwerk. In seinem Kanu lagen bereits ein paar Kissen, und sein Freund drückte Monika ohne viele Umschweife einen breitkrempigen Strohhut auf den Kopf. Ich mußte nicht lange warten und bekam auch einen. „Schutz gegen die Sonne“, sagte der Junge. Das klang einleuchtend. Als er Victor ebenfalls einen Hut in die Hand drückte, kam Abiola mit seinem Bootsmann zu spät - wir entschieden uns für Eze, wie der sportliche Knabe hieß.
Sein Freund, den er als Chidi vorstellte, war zwar wesentlich weniger redselig, bereitete aber unterdessen das Boot - man nennt
espiroge-lür den Trip vor. Auf den Boden streute er Gras, auf das er Schilfmatten legte. Eze schleppte unsere zwei Kühlboxen mit Essen und Getränken vom Jaguar zum Schiff. Abiola, der Mediziner, hatte uns ermahnt, feste Schuhe zu tragen, da man sich über das Wasser mit Bilharziose infizieren kann. Monika und ich trugen deshalb Sportschuhe, Victor edle italienische Schnürschuhe zum obligatorischen baumwollweißen Leinen-Outfit. Daß die teuren Klamotten nach diesem Trip Schrottwert hatten, ist natürlich nur die kleinkarierte Anmerkung einer peniblen Deutschen. Victor dachte in anderen Dimensionen; solche Dinge waren nebensächlich.
Die Kleidung war in dem schmalen Boot mit dem gerundeten Boden allerdings meine geringste Sorge: Die Bedenken einer Nicht-schwimmerin gelten in solchen Situationen eher der Frage, ob sie lebend wieder an Land kommt ... Das dunkle Wasser mit seinem leicht modrigen Geruch, die vielen verschiedenen Grüntöne der Bäume und das lautlose Dahingleiten ließen mich meine Befürchtungen bald vergessen.
Vögel mit buntschillerndem Gefieder, die krächzende, pfeifende, lockende Laute ausstießen, durchbrachen die Stille. Wie ein dichter Vorhang verbarg das rankende Grün der Bäume das Innere des Regenwaldes. In schmalen Seitenarmen blinkten wie bei einem verbotenen Blick durchs Schlüsselloch farbenprächtige Wasserblumen.
Hin und wieder sahen wir Fischer, die ihre Netze in weitem Bogen ins Wasser warfen. In einem Seitenarm beobachtete ich einen, der eine eigentümliche Methode hatte, Fische anzulocken: Er streute zuerst ein Pulver auf die Wasseroberfläche. Ich fragte den vor mir gleichmäßig paddelnden Eze, ob das eine rituelle Handlung sei. Und bekam eine Antwort, die ich damals für einen Witz hielt: „Nein, Miß, das betäubt die Fische.“
Ich habe später erfahren, daß es tatsächlich Pflanzen gibt, deren zerstoßene Samenhülsen auf die Kiemen der Fische wirken und die Atmung lähmen. Die Fische treiben dann kieloben auf der Wasser-Oberfläche, wo sie mit einem großen Netz eingesammelt werden.
Eine Methode, die natürlich nur in praktisch stehenden Gewässern wie dem Rand der Lagune eingesetzt werden kann.
Eze lenkte das Kanu ans Ufer und sprang flink an Land. Zeit für den Bummel an ein paar Pfahlbauten entlang - und ein Picknick.
Während sich Chidi abseits hinhockte, setzte sich Eze zu uns. Er erzählte viel von sich, zum Beispiel, daß er katholisch getauft und überhaupt viel westlicher als sein Vetter Chidi sei. Chidi glaubte noch an den „Unsinn“ der Leute vom Fluß. Ich wurde natürlich hellhörig und fragte, was er damit meine.
„Die Krokodile. Wollt ihr sie sehen?“
Natürlich wollten wir! Chidi protestierte zwar, was wir nur an seiner Stimmlage erkannten, aber Eze setzte sich durch. Er versprach sich wohl ein höheres Trinkgeld, wenn er uns etwas action bot. Unsere beiden Paddler lenkten das lange Boot in einen Seitenarm. Die Zweige der Bäume berührten dort fast die Wasseroberfläche. Eze wurde immer gesprächiger. Dies sei das Land der earthspirits,
sagte er, der Erdgeister. Sie benutzten die Körper von Krokodilen, um sich zu tarnen. Die Menschen an den Flüssen verehrten sie und brachten ihnen Opfer. Es gäbe allerdings auch mißgestaltete earth-
spirits, deren Füße rückwärts gerichtet waren. Sie waren zwar nur 80 bis 120 Zentimeter groß, aber so stark, daß sie die Boote der Fischer umwerfen konnten und die Fischer auffraßen.
Wir sahen zwar tatsächlich ein paar Krokodile im Wasser schwimmen, aber sie erschienen mir zu klein, um ein Boot zum Kentern bringen zu können. Tiefer in den Büschen lagen allerdings dickere Exemplare, zwischen zwei und drei Meter lang, die sich einen Mittagsschlaf gönnten.
„Ist wohl noch nicht die Stunde der Geister“, meinte Victor trocken.
„Haben Sie noch ein paar Naira? Dann zeige ich Ihnen den Schrein, an dem für die Krokodile geopfert wird“, schlug Eze vor. Den Protest von Chidi ignorierte er. Das Boot fuhr jetzt durch Wasser, das von einem grünen Teppich aus Algen bedeckt war, auf dem Wasserlilien schwammen. Eze hielt auf eine sandige Stelle zu und sprang elegant an Land. Chidi schimpfte ihn, aber Eze lachte ihn aus. Zur Mittagsstunde seien die Krokodile viel zu faul, um sich zu bewegen, sagte er zu uns. Und bis zum Schrein seien es nur fünf Minuten. Für nur fünfzig Naira sei er bereit, uns etwas zu zeigen, das ein ioyjb o sonst nie zu sehen bekäme. Wir zögerten. Fünfzig Naira, das war ein zweieinhalbfacher Wochenlohn. Es mußte also etwas Besonderes sein ...
Anfangs war der Weg noch gut zu erkennen, doch dann versperrten Ranken die Sicht. Der Boden, vom Wasser getränkt, war weich und vermittelte das Gefühl, auf quietschnassen Wolken zu gehen. Vor einem Busch blieb Eze stehen, mit beiden Armen zerteilte er das Dickicht. Meine Schwester stieß einen spitzen Schrei des Entsetzens aus. Neugierig schob ich meinen Kopf an ihr vorbei.
Umrankt von Blättern, stand dort eine dunkle Schale, in der ein geköpftes Huhn lag. Rund um die Schale waren Reste von Federn und dunkles Blut. Etwas erhöht hing in den Ästen eines Baums eine Maske mit dem aus Holz geschnitzten Kopf eines Krokodils. Der ganze Ort war über und über mit Ungeziefer übersät, Käfern, Maden und dicken Fliegen.
„Der earthspirit kommt hierher, um zu essen“, sagte Eze.
„Guten Appetit“, meinte Victor, „wir sollten besser gehen, bevor die Moskitos uns auffressen.“
„Warten Sie!“ rief Eze. „Sie haben die Krokodile noch nicht gesehen. Sie sind im See hinter dem Schrein. Ich locke sie an.“
Aber Victor hatte bereits meine Hand ergriffen und zog mich fort in Richtung Chidi, der schon den Weg zum Kanu zurückging. Ich sah mich zu Monika um, die offensichtlich noch zu den Krokodilen wollte. Von Eze sah ich nichts mehr. Er war bereits im Gestrüpp verschwunden. Ich hörte noch sein: „Cotne, Monika!“
Monika rief uns zu: „Wartet doch noch einen Moment!“
Sie rief es im gleichen Augenblick, in dem wir einen verzerrten, langgezogenen Schrei hörten. Dann herrschte Stille. Eine schreckliche Stille. Im nächsten Augenblick sauste Chidi an uns vorbei, schob die verdutzte Monika zur Seite und war zwischen den Blättern verschwunden. Nun rannten auch Monika und wir los, durch
die Blätterwand hindurch. Wir prallten auf Chidi, der uns seinen Arm entgegenstreckte und vorsichtig zurückwich.
Vor uns lag ein von Ranken überwucherter kleiner See. Dessen Wasser schien zu kochen. Die giftgrüne Flockenschicht auf der Oberfläche spritzte in alle Richtungen. Dazwischen sahen wir die dunkelbraunen Schwanzspitzen von Krokodilen, die auf das Wasser schlugen. Und den braunen Arm eines Mannes, der verzweifelt nach einem Halt suchte, den es nicht gab. Kurz tauchte das grüngesprenkelte Gesicht von Eze aus der Brühe auf und verschwand dann wieder. Chidi schrie etwas, Victor versuchte geistesgegenwärtig, von einem Baum einen Ast abzubrechen.
Biegsam wie Gummi schnellte der Ast zurück. Dann ein spitzer Schrei von Monika. Ihr Arm deutete auf ein Krokodil. Es war nicht sehr groß, vielleicht einen Meter lang, und kroch wieselflink in das Wasser, in dem Eze mit dem Tod kämpfte. Gleichzeitig merkten wir, daß wir bereits bis zu den Knöcheln im Matsch steckten und der Untergrund weiter nachgab.
„Zurück auf den Weg!“ rief Victor.
Gegenseitig halfen wir uns aus dem Sumpf. Verschreckt und zitternd standen wir wieder vor dem häßlichen Krokodil-Schrein und sahen uns ratlos an. Wir befanden uns mitten im Regenwald und hatten keinen Führer, der uns wieder hinausbrachte.
„Wartet bitte. Ich sehe nach, was der andere macht“, sagte Victor.
Ich hatte solche Panik, daß ich nur stumm nickte und Monika in den Arm nahm. Victor sah sich nach einem Ast um, den er mitnehmen konnte, und verschwand in den Blättern. Es dauerte nicht lange, und er trat wieder aus dem Blättervorhang hervor. „Wir gehen zum Schiff zurück“, sagte er und nahm mich bei der Hand. Schweigend marschierten wir durch den Urwald, voller Angst, den Weg nicht zu finden.
„Was ist mit dem anderen Mann, mit Chidi?“ fragte ich Victor schließlich.
„Es wimmelt da vor Krokodilen“, sagte Victor, „ich bin weggelaufen, Ilona. Vielleicht hätte ich ihm helfen sollen. Aber ich tauge nicht zum Helden.“ Er lächelte schief. „Tut mir leid.“
Ich strich sanft über Victors Gesicht. „Eze wußte doch, daß hinter dem Schrein die Krokodile sind. Dann wird er auch gewußt haben, daß den See ein Sumpf umgibt. Er hat sich bewußt in Gefahr gebracht.“
„Für fünfzig Naira, Ilona, hat er sein Leben aufs Spiel gesetzt, um uns etwas zu bieten“, sagte Victor. „Wir wissen nicht mal, ob er Familie hat. Unsinn, natürlich hat er Familie, alle haben hier große Familien.“
Wir beschlossen, eine halbe Stunde im Kanu zu warten, ob Chidi zurückkam. Die Zeit kroch dahin. Schweigend warteten wir in der wundervollen Natur, deren Gefahren wir nicht sahen. Wie auf dem Präsentierteller saßen wir bereit für hungrige Krokodile. Nachdem die halbe Stunde vergangen war, nahm trotzdem keiner von uns die Paddel zur Hand.
Nach einer Ewigkeit erschien Chidi, völlig durchnäßt und von oben bis unten grün. Schweigend zog er ein Krokodil hinter sich her.
Sein Gesicht war eine harte Maske aus Muskeln und Sehnen. Er hatte den Kopf des Krokodils mit einem braunen, lederähnlichen Band - Victor meinte, es stammte von Lianen - verschnürt. Vorder-und Hinterfüße waren zum Rücken hin hochgebunden, so daß das Reptil auf dem Bauch rutschte. Er zog das Krokodil ins Kanu, an das hintere Ende, und bedeutete uns einzusteigen. Zum Krokodil.
Monika nahm den verwaisten Platz des verschwundenen Eze ein, ich ging in die Mitte, Victor setzte sich edelmütig auf den dem Krokodil nächstgelegenen Platz.
Chidi manövrierte uns geschickt aus dem Seitenarm heraus in das offene Wasser der Lagune. Stehend lenkte er das Boot durch die Mitte des Wassers, das dort mehr Strömung hatte. Ich warf einen Blick zurück auf Chidis verschnürte Beute. Es war ein schönes Tier mit hellbrauner Maserung in dunkler Panzerhaut. Ich versuchte, aus Chidi herauszubekommen, was er mit dem Reptil anstellen wolle. Er schwieg. Für die Rückfahrt brauchten wir höchstens eine halbe Stunde, die Strömung trieb uns mit sich. In Ejinrin, dem Ausgangspunkt des Trips, ließ Chidi das Boot ans Ufer gleiten.
Helfende Hände zogen uns aus dem Kanu. Im Nu waren wir von einer
Menschentraube umringt. Chidi schien ihnen aufgeregt von Eze Schicksal zu erzählen. Einige Männer machten ihre Boote los un paddelten mit großer Geschwindigkeit in die Richtung, aus der wi gekommen waren.
Abiola hatte mit den Doggen in der Nähe der Autos gewartet und die Zeit genutzt, um sich ein bißchen an der Bootsanlegestelle umzuhören. Als wir ihm von Eze berichteten, schien er bereits im Bilde zu sein über die Schauergestalten vom Fluß, deren Füße verkehrt herum am Körper angewachsen waren.
„Was hat er mit dem gefangenen Krokodil vor?“ fragten wir.
„Ich nehme an, er wird es zum babalawo schleppen“, erwiderte Abiola. „Er hält es für jenes Krokodil, das Eze getötet hat. Der
babalawo wird versuchen, den Geist, der in dem Krokodil wohnt, zu besänftigen, damit er die Seele Ezes freigibt.“
Wir sahen uns ratlos an. Vom Wasser her hörten wir das Splittern von Holz. Chidi stand am Ufer und hieb mit einer Axt auf das Kanu ein, mit dem wir gefahren waren. Das Boot lief sofort voll Wasser und sank. „Er will das Boot nicht mehr benutzen“, erklärte Abiola.
Denn der Geist mit den rückwärtsgerichteten Füßen hatte in diesem Boot gelegen. Auch wenn wir nur ein hübsches Krokodil gesehen hatten, das uns auf der Rückfahrt begleitete.