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Fit im Schritt
 
Daniela hält das Andenken an ihren Vater, wie er einmal war, wach, indem sie es ihm gleichtut. Wenn sie einen Schauspieler mit zweifelhaftem Talent im Fernsehen sieht, flüstert sie: »Raccomandato«, und meint damit, dass der Schauspieler noch immer ein armseliges Dasein fristen würde, wenn er nicht von irgendjemandem aus höheren Etagen protegiert worden wäre. »Protegés haben meinen Vater stets in den Wahnsinn getrieben«, sagte Daniela einmal, bevor sie die traurige Wahrheit, die sich in diesem Satz verbarg, bemerkte.
»Es kommt nicht darauf an, was man kennt, sondern wen man kennt«, lautet ein Sprichwort. Italiener sind nicht die Einzigen, die Freundschaften dazu nutzen, einen Fuß in die Tür zu bekommen. Was sie von anderen unterscheidet, ist, dass es ohne Vitamin B schwierig ist, sogar so banale Dinge wie eine Führerscheinprüfung zu organisieren. Ich brauchte eine »Empfehlung« von Giovanni, um endlich an meinen Führerschein zu kommen, und als nach zwei Jahren mein permesso di soggiorno erneuert werden musste, war das nach einem Anruf bei Riccardo in wenigen Tagen erledigt. Aber die Schlange stehenden Afrikaner, die bis auf ihre weitverstreuten Familienangehörigen, denen sie nur Almosen schickten, keine Kontakte hatten, mussten ein halbes Jahr auf ihre Papiere warten.
Der einzige Freund, der noch wertvoller ist als ein poliziotto, ist ein medico: jemand, der einem hilft, die Wartelisten der überfüllten Krankenhäuser zu überspringen. Wie immer lernte ich auch das auf die harte Tour, als ich mir beim Tennisspielen die Hüfte verletzte und medizinische Hilfe brauchte. Ich besiegte Renato zum ersten Mal, als nicht etwa eine Saite an meinem Schläger, sondern ein Band in meinem Körper riss. Dank meiner Aufenthaltsgenehmigung hatte ich Anspruch auf eine kostenlose ärztliche Versorgung. Ich besaß sogar ein eigenes libretto sanitario – ein sparbuchähnliches Ding, in dem meine Wehwehchen festgehalten wurden. Dieses libretto hatte ich auch an jenem schwülen Frühlingsmorgen dabei, als mich Daniela nach Soldignano fuhr. Dort humpelte ich ins Wartezimmer von Dr. Nino, dem Mann, der mich vor zwei Jahren bei einer medizinischen Untersuchung in limoncello ertränkt hatte.
Vertrocknete Topfpflanzen, eine Gewölbedecke, abblätternde Farbe und Schweißgeruch. Wie oft hatte ich schon in Wartezimmern wie diesem hier gesessen, im Wartezimmer irgendeiner Provinzbehörde, wo ich mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmerte und angestarrt wurde wie ein Außerirdischer. Im dörflichen Süditalien, wo jeder jeden kennt, ist ein fremdes Gesicht fast schon so schockierend, dass die Einheimischen schon allein deswegen zum Arzt müssen. In diesem Fall war ärztliche Hilfe nicht weit oder wäre besser gesagt nicht weit gewesen, wenn Dr. Nino seinen Patienten Termine gegeben hätte. Stattdessen hieß es: »Wer zuerst kommt, mahlt zuerst«, wodurch wir reichlich Gelegenheit hatten, das Selbstlob zu bewundern, mit dem er seine Wände schmückte – Zeugnisse, die hoffentlich einem mehrjährigen Studium geschuldet waren und nicht nur einem Freund an der richtigen Stelle.
Etwa eine Stunde später rief eine Stimme aus dem Nebenraum: »Avanti!«, und wir waren dran. Während wir vom Wartezimmer in den genauso stickigen Behandlungsraum gingen, wich der Schweißgeruch Zigarettengestank. Hinter einem Laptop – der einzig moderne Gegenstand in dieser altmodischen Praxis – saß ein bärtiger Dr. Nino mit einer Zigarette zwischen den Fingern und einem Lächeln im Gesicht. »Canguro!«, rief er und bemerkte mein Humpeln. »Bist du von einem Auto angefahren worden?« Ein Mann, der raucht, es aber seinen Patienten verbietet, muss einen eigenartigen Humor haben.
Obwohl sein Wartezimmer aus allen Nähten platzte, plauderte Nino eine Weile ungerührt, bevor er meine Hüfte untersuchte und vermutete, ich habe eine falsche Bewegung gemacht. Nachdem er seine Schreibhand befreit hatte, indem er seine Zigarette ausdrückte, schrieb er mir eine Überweisung an einen orthopädischen Chirurgen im Falese-Krankenhaus. Daniela, die bereits geahnt hatte, dass ich so einen Spezialisten nötig haben könnte, hatte mir bereits für den folgenden Montag einen Termin besorgt. Als er das hörte, warnte uns Nino, dass die Fachärzte für Montag einen Streik angekündigt hätten und Untersuchungen, wenn überhaupt, bestimmt nur zur Hälfte durchgeführt würden.
In Italien vergeht kaum ein Tag ohne irgendeinen Streik, weil sich die Gewerkschaften nie mit der Regierung über die Tarifverträge einigen können. Während meines Aufenthalts in diesem streitsüchtigen Land, kann ich mich an Streiks von Postboten, Journalisten, Richtern, Lehrern, Ärzten, Krankenschwestern, Piloten, Fluglotsen, Boden- und Flugpersonal, Gepäckträgern, Busfahrern, Lokführern, Köchen in öffentlichen Schulen, Formel-1-Kommentatoren, Zollbeamten und Tankwarten erinnern – Signor Api einmal ausgenommen -, an Streiks von Audio- und Videotechnikern, Lastwagenfahrern, Fährenpersonal sowie an zwei Generalstreiks und eine nicht stattfindende Lottoziehung. Die einzigen Arbeiter und Angestellten, die ich noch nie habe streiken sehen, sind Italiens unermüdliche Hausfrauen. Ihre Arbeitsniederlegung wäre zweifellos die einzige, die der Mehrheit der Italiener überhaupt auffiele.
Die bis zum Äußersten ausgereizten Streikmaßnahmen sind zur Routine geworden – wieder so eine schlechte italienische Angewohnheit. In einem Zeitraum von fünfundzwanzig Tagen gab es nicht weniger als siebenunddreißig Proteste gegen die Regierung. Einen Streik ausrufen ist genauso verbreitet wie »krankfeiern«, mit dem Unterschied, dass man zum Streiken kein ärztliches Attest braucht. Und jetzt kreuzte also das Krankenhauspersonal die Waffen, wie die Italiener eine Arbeitsniederlegung nennen. Anstatt eine Unterbrechung zu riskieren, verschoben wir den Termin lieber ans Ende der Woche.
Faleses ospedale ist etwa eine Stunde mit dem Auto entfernt und befindet sich mitten im Zentrum der kleinen Stadt. Es zu finden ist genauso schwierig, wie Ärzte zu finden, wenn man es einmal betreten hat. Nachdem wir uns unseren Weg durch das Asphaltpatchwork der Stadt gebahnt hatten, liefen wir ähnlich orientierungslos durch den Irrgarten der Flure und suchten nach dem ambulatorio – dem Sprechzimmer des Spezialisten. Zwei Leute, die wir fragten, schickten uns dahin, wo wir hergekommen waren, ein Dritter dirigierte uns zu einem Snack-Automaten, während uns ein Vierter immerhin in die Nähe eines Fünften brachte, der das Problem schließlich löste.
Wer einen Italiener nach dem Weg fragt, bekommt höchst komplizierte Anweisungen. Folgt man ihnen, wird man nur noch mehr in die Irre geführt. Das ist kein böser Wille, sondern liegt an der Komplexität der Antwort, der hypnotischen Kraft von Gesten und den exzentrischen Detailschilderungen. Als sich Daniela einmal auf dem Weg zu einer Besprechung verlaufen hatte, fragte sie eine ältere Frau nach der Schule von Spongano. »Gehen Sie diese Straße entlang«, erklärte die Frau, »und wenn Sie einen Fiat Cinquecento vor einer Bar sehen, biegen Sie links ab.«
»Was, wenn ihn jemand weggefahren hat?«, fragte Daniela.
»Das will ich niemandem geraten haben«, entgegnete die Frau. »Er gehört nämlich mir.«
Nachdem sie 20 Euro bezahlt hatte, der Preis, um sich von einem Spezialisten behandeln zu lassen, leistete mir Daniela im Warteraum des ambulatorio Gesellschaft. Der war ein Flur vor einer Reihe von Zimmern mit den Türschildern ortopedia, pneumologia, dermatologia und, sinnigerweise direkt neben den Toiletten, urologia. Trotz der Stuhlreihen, die beide Wände säumten, zogen es die Patienten vor, in Trauben vor der jeweiligen Tür zu warten. Zu wissen, wo man sich in solchen »Schlangen« einreihen muss, ist genauso schwierig, wie seinen Platz darin zu behalten.
Während wir uns auf der Türschwelle des Arztes drängten wie Möwen, die sich um ein Stück Brot streiten, sah ich, dass jeder Wandschmuck religiös gefärbt war – vom Kruzifix bis zur Werbung für Gebetsgruppen. Das Falese-Krankenhaus wird von Nonnen geführt. Ihrem eisernen Willen ist es laut Daniela zu verdanken, dass es sich in puncto Sauberkeit und gelungene Operationen wohltuend von anderen Krankenhäusern in der Gegend unterscheidet.
Die Zustände in vielen italienischen Krankenhäusern, vor allem im Süden, sind genauso ungesund wie die Patienten. Die Gesundheitsministerin hat das so ausgedrückt: »Die Hälfte aller italienischen Krankenhäuser sollte geschlossen werden. Sie sind alt, veraltet und nicht mehr in der Lage, auf die Bedürfnisse unserer Bürger einzugehen.« Und dann die Ärzte: Die sind entweder begabte Genies oder unbegabte Stümper. Ein australischer Chirurg, der mehrere Jahre in Italien arbeitete, hat mir einmal erzählt, dass auf jeden begabten italienischen medico zwanzig kommen, denen man die Approbation entziehen sollte. Er hatte in Norditalien gearbeitet, und zwar für einen Chirurgen, der verpfuschte Operationen wiedergutmachte. Ein Patient hatte davon nicht weniger als fünfzehn über sich ergehen lassen müssen. Geschichten über die malsanità oder das krank machende Gesundheitssystem gibt es in Italien mehr als genug: Geschichten von Patienten, die wegen einer Routineoperation ins Krankenhaus kamen und weitaus mehr verloren als nur ihren Blinddarm.
Wartelisten für medizinische Behandlungen sind schmerzlich lang – etwas, das ich am eigenen Leib spüren sollte, als die »Schlange« endlich kürzer wurde und ich drankam. Der Chirurg verordnete mir eine Kernspintomographie, aber als Daniela anrief, um einen Termin zu vereinbaren, erfuhr sie, dass das frühestens in einem halben Jahr stattfinden könne. Mit der Hilfe eines Freundes, der ebenfalls Chirurg am Falese-Krankenhaus war, wurde ein Plan ausgeheckt, der die Wartezeit auf eine Woche reduzierte. Um eine solche Dringlichkeit zu rechtfertigen, musste ich allerdings schwere Schmerzen vortäuschen und mich dem unterziehen, was Italiener einen ricovero nennen. Das heißt, ich musste mich ins Krankenhaus einweisen lassen. Leider stand das einzige Bett, das noch frei war, auf der Urologie-Station, wo aufgrund der hier behandelten Anatomie wohl kaum eine Nonne dafür sorgen dürfte, dass alles rundlief. Aber entweder die Urologie oder ein halbes Jahr warten. Also beschloss ich, mich vertrauensvoll in die Hände der Schwestern zu begeben und meinen fitten Schritt unter das Mikroskop zu legen.
Eine Woche später tat mir die Hüfte immer noch weh, wenn auch nicht so sehr, wie ich vortäuschen sollte. Ich war gerade im Schlafzimmer und packte eine Tasche fürs Krankenhaus, als mir Daniela aus der Küche zurief: »Vergiss nicht Besteck, Toilettenpapier und Trinkwasser mitzunehmen.« So begann mein ricovero in ein italienisches Krankenhaus, das mich, obwohl es zu den besseren Krankenhäusern im Salento gehörte, höchst dankbar dafür sein ließ, dass ich nicht ernsthaft krank war.
 
Um sieben Uhr morgens kam ich mit nüchternem Magen und dramatisch humpelnd schwer auf Danielas Arm gestützt zur Aufnahme in der Urologie. Pünktlich wie immer waren wir die Ersten in einer Schlange aus kleinen Männern und dicken Frauen, Patienten und ihren Begleiterinnen, Ehemännern und Ehefrauen, die alle einen Koffer mit Schlafanzug, Hausschuhen und, wie ich später noch feststellen sollte, mit Besteck, Toilettenpapier und Trinkwasser dabeihatten.
Als mir Daniela während der Anmeldung mein libretto sanitario reichte, wurde die Schwester misstrauisch: »Weshalb genau ist il signore hier?«, fragte sie.
Daniela, die diese Frage unvorbereitet traf, musste improvisieren: »Per analisi urgenti
»Aber ich finde hier keine Angaben zu dringenden Untersuchungen in meinem Computer.«
Wieder antwortete Daniela spontan: »Ich bin mir sicher, der Arzt hat sämtliche Angaben.«
»Dann lassen Sie uns auf ihn warten, bevor wir den Patienten aufnehmen«, sagte die Schwester schnippisch, die eher mit der Hölle als mit dem Himmel im Bunde zu stehen schien. »Sie können hier warten«, fügte sie hinzu und zeigte auf eine improvisierte Kapelle auf der anderen Seite des Eingangsbereichs.
Die Kapelle war voller Madonnenikonen, besaß ein silbernes Kruzifix, Topfpflanzen, eine Bibel auf einem Holzpult und mehrere Stühle, die von Patienten in Schlafanzügen besetzt waren. Außerdem war dort noch eine Frau mit einer Schürze, die die Ikonen abstaubte. »Das ist die Chefin«, flüsterte sie, als wir uns setzten. »Alle denken, die Nonnen wären nett, dabei sind sie beinhart.«
Eine laute Glocke ertönte. Ich hielt sie für den Feueralarm, bis ich einen Priester entdeckte, der die Patienten zum Gebet rief. Mehrere alte Männer in Pantoffeln kamen in die Kapelle geschlurft, zusammen mit der Nonne, die anders als die Patienten sämtliche Gebete mitsprach, ohne sie von einem fotokopierten Zettel abzulesen. Wie immer wurde ich von allen angestarrt, vor allem von der Nonne, die sich wunderte, warum ich nicht mitbetete. In Wahrheit tat ich das sogar, wenn auch nur, um um die Ankunft meines Spezialisten zu bitten.
Gegen neun, als die anderen Neueinweisungen bereits alle möglichen Probebehälter und die besseren Betten am Fenster gefüllt hatten, hockte ich immer noch in der Kapelle und las einen Artikel über den Sommerurlaub des Papstes. Daniela rief in der Schule an, um zu sagen, dass sie später käme. Ich war müde und hungrig, da man mir wie allen Patienten befohlen hatte, für Blut- und Urinproben nüchtern zu sein. Ich brauchte keine Blut- und Urinuntersuchung, trotzdem blieb mir nichts anderes übrig, als zu kooperieren, um die Nonne, die bereits Verdacht geschöpft hatte, nicht noch misstrauischer zu machen.
Als der Urologe – der Mann, mit dem Danielas Freund den Plan ausgeheckt hatte – um halb zehn endlich kam, stellte ihn die Nonne mit einer Vehemenz zur Sprache, die mich verblüffte. »Dottore Pinola!«, sagte sie. »Sie haben keinerlei Informationen im Computer hinterlegt, warum wir Crristoper Arrison aufnehmen sollen.« Der Arzt flehte die Nonne um Vergebung an und sagte, ich brauchte eine dringende Kernspin sowie weitere Untersuchungen. »Aber muss er wirklich stationär aufgenommen werden, um diese Untersuchungen machen zu lassen?«, hakte die Nonne nach.
»Je früher, desto besser«, beharrte der Arzt. »Er hat starke Schmerzen.«
Ich wollte mich schon in der Kapelle vor Schmerz winden, überlegte es mir aber noch mal anders. Die Nonne starrte den Arzt an, der überall hinsah, nur nicht zu der Nonne. Als ich gerade dachte, er würde einknicken, stürmte Danielas Freund, der für diesen Plan verantwortliche Chirurg, herein und rief: »Fate presto! Unten ist schon alles fertig für Crristopers Kernspin.« Er mochte spät dran sein, aber sein Timing war perfekt.
Ich folgte dem Chirurgen ins Erdgeschoss, wo er mich dem Team der Kernspinabteilung überantwortete. Fasziniert von meiner Nationalität und meinen Gründen, im Salento zu leben, bombardierte mich der medizinisch-technische Assistent nur so mit persönlichen Fragen, in der Hoffnung, so viele Details über mein Leben zu erfahren, wie sie seine Maschine bald über meine Hüfte gewinnen sollte. Er legte mich auf den Schlitten und erzählte mir die Geschichte seines Cousins, der vor zwanzig Jahren nach Australien ausgewandert und nicht mehr zurückgekehrt war. »Australien ist das Land meiner Träume«, sagte er. »Diese Weite dort muss fantastisch sein.« Als er mich daraufhin in den klaustrophobisch engen Tunnel schob, musste ich zugeben, dass er Recht hatte.
Nachdem ich vierzig Minuten lang ohrenbetäubende Klopfgeräusche ertragen hatte, holten mich der medizinisch-technische Assistent und der Arzt, den ich noch nicht kennengelernt hatte, wieder heraus und halfen mir auf die Beine. Sie blieben Schulter an Schulter stehen, wie um mir den Weg zu versperren. »Das ist der Australier«, sagte der Assistent zu seinem Kollegen. Dann wedelte er mit dem Zeigefinger zwischen sich und dem Arzt hin und her und fragte: »Na, was glauben Sie: Wer von uns beiden ist jünger?« Mein Magen machte Geräusche, die an die des Geräts erinnerten, aus dem ich gerade gekommen war. Deshalb tat ich mich schwer, mein Desinteresse zu überspielen, und optierte lustlos für den Assistenten, der mir daraufhin applaudierte. »Haha«, witzelte er und boxte gegen den Arm des Arztes. »Färb dir die Haare, alter Mann!« Wie war dieser Assistent nur an seinen Job gekommen?
Nach einem Routine-EKG, Blut- und Urintests, die alle bestätigten, dass ich gesünder war als die Ärzte, zeigte man mir das Bett, in dem ich die nächsten vierundzwanzig Stunden verbringen sollte, um der Nonne aus dem Weg zu gehen, die wusste, dass ich sie an der Nase herumgeführt hatte. Meines war das letzte in einem Vierbettzimmer, das eigentlich nur für drei gedacht war und genauso aussah wie der angrenzende Raum, nur spiegelverkehrt. Beide wurden durch eine Toilette und einen gemeinsamen Eingang getrennt. Außer den Betten bestand das Mobiliar aus vier Spinden, je einem Stuhl am Fußende der Betten, einem Kruzifix an der Wand und drei Nachttischchen. Das Fenster war zu und der Geruch stechend, eine Mischung aus Schweiß und Blut. Die Männer im angrenzenden Raum waren soeben operiert worden, während die in meinem Zimmer, die automatisch buongiorno murmelten, als ich hereinkam, ihrem Chirurgen noch vor Sonnenuntergang zugeführt werden sollten.
Das Mittagessen war gebracht worden, während ich gerade meine Untersuchungen absolvierte. Ich hob den Deckel von meinem Tablett und entdeckte eine Schale mit Minestrone, ein Sandwich, drei Kartoffeln und ein paar Scheiben Lamm. Das einzig Gute an italienischen Krankenhäusern ist, dass man dort gut isst. Nur das Besteck fehlte.
»Ich hab dir doch gesagt, du sollst welches einpacken.«
»Ich dachte, du machst Witze.«
Nachdem sie in den nächsten Supermarkt geeilt war, um mir ein Plastikbesteck, Toilettenpapier und eine Flasche Mineralwasser zu kaufen, sauste Daniela zur Arbeit und versprach mir, so bald wie möglich zurückzukommen. Sie überließ mich der Obhut dreier bettlägeriger Männer mit Prostataproblemen und deren treu ergebenen Ehefrauen zu ihren Füßen.
Da die Betten nicht durch Vorhänge voneinander getrennt waren, aß ich mein Mittagessen und sah, wie der Mann neben mir auf seine Operation vorbereitet wurde. Der Rentner, der Rocco hieß, wurde auf den Bauch gerollt. Dann schob man sein Nachthemd hoch und rammte ihm eine Spritze in sein schneeweißes Hinterteil. Wie meine Mitpatienten gab ich vor, seinen muskulösen Po zu ignorieren. Für einen alten Herrn war er ziemlich gut in Form, war er doch einer jener unermüdlichen Bauern des Salento, wie mir seine Frau später anvertraute.
Die mangelnde Privatsphäre verschlimmerte unser Leid zusätzlich, aber wie im Adria-Express führten solche Zumutungen dazu, dass wir uns solidarisierten. Wenn sich Italiener unwohl fühlen, wird geredet, was das Zeug hält. Für einen Ausländer kann so eine Unterhaltung schnell in eine Sackgasse münden. Meine Zimmergenossen waren nämlich süditalienische Bauern, sonnengegerbte, einfache Leute, die eine Mischung aus Dialekt und Italienisch sprachen. Für sie war Italiens gruseliges, aber Gratis-Gesundheitssystem ein noch größeres Geschenk des Himmels als die Nonnen, die das Krankenhaus führten. Das waren Leute, die Apulien nie verlassen hatten und deren Fragen höflich, aber ahnungslos waren, etwa wie jene, welche Sprache wir in Australien sprechen. Man braucht Übung, solche Fragen zu beantworten, ohne überrascht zu wirken, aber an Übung sollte es mir während meines Aufenthalts unter diesen erstaunlichen Menschen nicht mangeln. Es wäre mehr als engstirnig gewesen anzunehmen, dass sie mir nichts beizubringen hätten.
»Wo liegt Australien?«, fragte Uccio aus dem Bett am Fenster.
»Bei Amerika, stimmt’s?«, mutmaßte seine Frau und sah mich Bestätigung heischend an.
»Nein, es …«
Aber meine Erklärungsversuche wurden sofort abgewürgt.
»Italien ist das beste Land der Welt«, verkündete Roccos Frau, die damit begonnen hatte, ein Spitzendeckchen zu häkeln. Die zerbrechliche Frau hatte sich noch nie weiter nach Norden als bis Bari vorgewagt. Trotzdem konnte sie im derbsten Dialekt so eine Behauptung aufstellen, und das einem weit gereisten Australier gegenüber, der besser Italienisch konnte als sie selbst. Menschen, die keinerlei Vergleichsmöglichkeiten haben und ihr Land für das beste überhaupt erklären, haben etwas amüsant Patriotisches, aber eben auch etwas frustrierend Ignorantes. Diese Leute hatten bis auf ihren Fernseher keinerlei Verbindung mit der Außenwelt.
Sie waren genauso naiv wie der Freund, der versuchte, mir eine Postkarte nach Australien zu schicken, die allerdings zurückkam, weil das Porto maximal bis Marittima gereicht hätte.
Aber wenn Italien das beste Land der Welt war, warum kritisierten sie dann alles, was sie sahen – vom Mittagessen über das fehlende Toilettenpapier und den Gestank bis hin zu dem kaputten Stuhl? »È una schifezza!«, riefen sie ein ums andere Mal. »Es ist eine Schande!« Warum? Weil Italiener über das lamentieren, was sie lieben. Hätte ich mich über das fehlende Toilettenpapier beklagt, hätten sie sich bestimmt verteidigt und gesagt, solche Unzulänglichkeiten machten sie erst zu fantastischen Improvisatoren. In diesem Punkt wären wir uns dann wenigstens einig gewesen. Aber welchen Sinn hat es, ein Krankenhaus arrogant abzuurteilen, das gleichzeitig der Stolz der gesamten Region war? Meine Realität lag außerhalb ihres Erfahrungsbereichs und ihre lange außerhalb von meinem.
Wir hatten wenige Gemeinsamkeiten, und schon bald war meine Gegenwart vergessen. Aber ich erfuhr so fast noch mehr über diese Leute, indem ich ihnen einfach nur zuhörte. Sie lernten sich schnell kennen, weil sie sich so ähnlich waren, alles ältere Menschen mit dem Süden im Blut. Sie fragten sich, welchen staubigen Winkel des Salento sie als Heimat bezeichneten, und als sie merkten, dass die meisten auch in näher gelegene Krankenhäuser hätten gehen können, wollten sie wissen, warum man sich ausgerechnet fürs Falese entschieden hatte. Hochgezogene Brauen legten nahe, dass es sich dabei um eine rein rhetorische Frage handelte, und Roccos Frau sagte diesmal deutlich taktvoller: »Wir trauen den Ärzten hier.«
Ich fragte mich, ob sie dieses Vertrauen wohl hinterfragte, als ihr Mann zurück ins Zimmer geschoben wurde, der mehr Ähnlichkeit mit einem Kind in einem Buggy als mit einem kranken Mann auf einer Rollbahre hatte. Wir sahen mitleidig zu, wie sein Bett vor die Wand geschoben, sein Nachthemd hochgeschoben und sein blutbefleckter Intimbereich öffentlich gemacht wurde, während die Nonnen den Heilungsprozess überprüften. Dann wurde ein Laken über ihn gebreitet, damit er sich schlafend von dem Eingriff erholen konnte, der seine letzten Jahre hoffentlich angenehmer gestalten würde.
Die Nonne kehrte bald zurück, um Antonio zu holen, der zwei Betten weiter lag und gleich operiert werden sollte. Zum ersten Mal in seinem Leben stand er ordentlich Schlange. Auch Antonio wurde auf die Operation vorbereitet, indem man seinen Allerwertesten durchbohrte. Aber um sein Bett aus dem Zimmer schieben zu können, mussten die Nonnen meines vor die Spinde und das Roccos vor meines schieben. Davon wurde Rocco wach und schrie schmerzerfüllt auf.
»Oh, halt den Mund, Schlafmütze«, sagte die Nonne. »So schlimm kann es gar nicht sein.«
»Er hat erst geschrien, als Sie ihn bewegt haben«, sagte Antonio und handelte sich damit ähnliche Tiraden ein.
»Wir lassen die Betten so stehen«, verkündete die Nonne. »Sonst müssen wir sie wieder umschieben, wenn wir zurückkommen.«
Ich konnte nur hoffen, dass die Operation schnell vorbei war, da mein einziger Weg zum Klo über Roccos blutende Genitalien führte. Ohne dass er etwas dafür konnte, trugen diese auch nicht gerade dazu bei, dass die Luft im Zimmer besser wurde.
Eine Asiatin mit erwartungsvollem Gesicht – eine von den vielen extra-comunitari Süditaliens – kam mit einem Tablett ins Zimmer, auf dem Uhren, Feuerzeuge, billiger Schmuck und Spielzeug lag. Auch wenn man an jeder Ampel Straßenverkäufer sieht, war ich doch überrascht, dass die Nonnen ihnen auch Zutritt zum Krankenhaus gewähren. Wenn sie Besteck dabeigehabt hätte, hätte sie vielleicht etwas verkaufen können. Stattdessen winkten alle ab. Sie konnte noch nicht lange in Italien leben, da sie die Geste für »kein Interesse« erst noch lernen musste. Tatsächlich war sie so hartnäckig, dass ich schon Angst hatte, sie würde Rocco wecken, an dessen Prostata man gerade herumgepusselt hatte, nur um ihm einen Schlüsselanhänger zu verkaufen. Schließlich wurde sie von dessen Frau verscheucht, die dem Gestank entflohen war und auf dem Flur häkelte, um in regelmäßigen Abständen zurückzukehren, das Kissen ihres Mannes aufzuschütteln und sich für sein Schnarchen zu entschuldigen.
Ich saß über eine Stunde in der Falle, bevor Antonio zurückgeschoben und unsere Betten wieder in ihre ursprüngliche Position gebracht wurden. Anders als Rocco, der einen komplizierteren Eingriff hinter sich hatte, war Antonio hellwach und scheuchte das Personal herum wie zuvor. Wie Soldaten in einem Militärkrankenhaus feierten wir seine Rückkehr, was Patienten aus dem angrenzenden Zimmer auf den Plan rief, die sehen wollten, wie es ihm ging. Der grobschlächtige Geselle mit nur noch drei Zähnen im Mund, der einen Zahnarzt nötiger zu haben schien als einen Urologen, erzählte seinen Besuchern nicht etwa, wie es ihm ging, sondern zeigte auf ein Glas mit einem Steinchen in einer rosa Lösung. Schmerzerfüllt, aber erleichtert verkündete er: »Jetzt ist das Mistding endlich draußen.«
»Gar nicht mal so klein«, sagte Uccio und hielt das Glas gegen das Fenster. »Wo war er?«
»Na, wo wohl?«
»Sie Ärmster. Ich hole Dinger aus meinen Olivenbäumen, die sind kleiner als der.«
Das Abendessen kam zeitig, um die Besuchszeit von halb sieben bis acht nicht zu stören. Auf Schildern im ganzen Krankenhaus standen die Besuchsregeln. Kinder unter acht Jahren durften nur an Sonn- und Feiertagen kommen, während ansonsten maximal drei Besucher pro Bett erlaubt waren. Zum Glück kümmerte sich niemand um die Einhaltung dieser Regeln, und gegen halb sieben stürmten Unmengen von Besuchern die Station. Ich sage zum Glück, weil der Andrang dazu führte, dass man mich nicht vermissen würde. Auf diese Weise konnte ich mich mit Daniela hinausstehlen, um eine richtige Pizza zu essen und in der nächsten Bar ein paar Bier zu trinken.
Nachdem ich um die Nonne herumgeschlichen war, musste ich nur noch auf das Krankenhausbändchen um mein Handgelenk achten, das jedes Mal unter meinem Hemd hervorlinste, wenn ich mein Heineken hob – nur für den Fall, dass ein Arzt gerade eine ähnliche Pause machte.
Als die Besucher gegen halb neun das Gebäude verließen, gab ich Daniela einen Gutenachtkuss und schlich mich an der Nonne vorbei ins Bett. Es wurde Nacht, und auf den Fluren kehrte Ruhe ein. Uccio, der während meiner Abwesenheit eine Darmspiegelung über sich hatte ergehen lassen müssen, murmelte wiederholt: »Mamma mia.« Als ob es nicht schon traumatisch genug wäre, sich eine Kamera in den Hintern schieben zu lassen, wird diese Prozedur im Falese-Krankenhaus auch noch ohne Betäubung durchgeführt. Also war Uccio bei vollem Bewusstsein gewesen, als eine fünf Zentimeter breite telecamera durch seinen gesamten Dickdarm geschoben worden war. Allerdings erst nach einer Luftinjektion, die den Darm entsprechend geweitet hatte. Diese Luft entwich jetzt seinen Gedärmen, aber geräuschvoller, als sie hineingelangt war. Uccios zum Teil abrupte, manchmal jedoch lang anhaltende, stinkende Symphonien endeten unweigerlich mit einem erleichterten Aufseufzen ihres Komponisten, der sinnigerweise ans Fenster geschoben worden war. Der Mann, der die Prozedur nur mit einem einzigen Wort, nämlich mit tortura beschrieben hatte, besaß mein volles Mitgefühl.
Als der Priester seine Glocke läutete, um zur Abendandacht zu rufen, verfluchte Uccio so gut wie jede Figur aus der Bibel – von Abraham bis Zacharias. Da sich die meisten ihre Kräfte für das Freundschaftsspiel zwischen Italien und England aufheben wollten, fanden nur wenige den Weg zur Kapelle. Ich fragte mich, ob sich der Priester wohl über den mangelnden Zuspruch beklagt hätte, wenn er gesehen hätte, mit welch rührender Solidarität sich die Patienten später halfen, um in den Fernsehraum zu gelangen, indem sie Tropfständer trugen und Rollstühle schoben, nur damit ihre Zimmergenossen ebenfalls das Spiel sehen konnten. Ein 2:1-Sieg für Italien war für diese Männer, die ihre Bettpfannen über ihrer Freude beim Abpfiff völlig vergessen hatten, die beste Medizin. Nach dem Spiel trennten sich ihre Wege, und jeder kehrte zu seiner eigenen Mineralwasserflasche, seinem eigenen Toilettenpapier und seinem eigenen Bett zurück. Der einzige Gemeinschaftsbesitz ist die Nationalmannschaft.
Als das Licht gelöscht wurde, gab es einen Schichtwechsel. Die neue Schwester wollte eigentlich nur noch mal kurz nach ihren Patienten sehen, bevor sie sie schlafen ließ. »Porco mondo«, fluchte sie, als sie die leeren Tropfbeutel und vollen Bettpfannen entdeckte. »Ich bin es leid.«
»Sie sind müde«, provozierte sie Antonio. »Aber was ist mit uns? Und was ist eigentlich aus dem Waschen geworden, das man mir versprochen hat? Ich will sofort geduscht und rasiert werden!«
»Wenn Sie nicht sofort den Mund halten, bekommen Sie gleich etwas ganz anderes«, gab die Schwester zurück.
»Vaffanculo«, fluchte Antonio unfein und merkte, dass er weder das eine noch das andere bekommen würde.
Die Schwester ignorierte die Beleidigung, wenn auch nur, weil sie viel zu sehr damit beschäftigt war auszubügeln, was ihre faulen Kolleginnen ihr eingebrockt hatten.
Mit einem Blick auf die Tafel am Fuß meines Bettes fragte die Schwester: »Haben Sie schon etwas gegen Ihre Schmerzen bekommen, Signor Arrison?«
»Nur meine übliche Medizin«, log ich. »Und ein paar Bier in der Bar«, fügte ich noch hinzu, nachdem sie das Zimmer verlassen hatte.
»Ach, da waren Sie während der Besuchszeit?«, erkundigte sich Antonio.
Ich legte den Finger auf die Lippen.
»Capito te«, staunte er. »Schön für Sie. Das nächste Mal nehmen Sie mich mit.«
Gegen 23 Uhr war es auf der Station still und friedlich. Sogar die Nonnen waren eingeschlafen. Die einzigen Geräusche waren ein entferntes Schnarchen und das Gegrummel aus Uccios Darm, der wieder auf seine ursprüngliche Größe schrumpfte. Da ich den Nachmittag über gedöst hatte, war ich noch nicht müde genug, um schlafen zu können. Aber was sollte ich sonst tun? Lesen konnte ich nicht, weil der Raum für drei Betten gedacht war und ich über meinem keine Lampe hatte. Rocco machte seine für mich an, aber ich merkte, dass sie ihn blendete, und gab vor, meine Meinung geändert zu haben. »Warum versuchen Sie nicht, das Licht mit einer Zeitung zu dämpfen?«, schlug Antonio vor, der, ohne meine Antwort abzuwarten, bellte: »Schwester, wir brauchen eine Zeitung!« Daraufhin hörte das Schnarchen im Nebenzimmer sofort auf.
Zu meiner Überraschung kam die Schwester mit einer Zeitung, ermahnte Antonio, nicht zu schreien, und wies ihn auf den Klingelknopf hin, bevor sie zu ihrem nächtlichen Spielfilm zurückkehrte. Antonio, der sah, dass ich Schwierigkeiten hatte, die Zeitung am Plexiglasschirm der Lampe zu befestigen, ignorierte die Ermahnungen der Schwester und brüllte erneut aus Leibeskräften. Zu seiner Verteidigung muss allerdings gesagt werden, dass er außerdem den Klingelknopf drückte, während er brüllte: »Schwester, wir brauchen Klebeband!« Zu meinem großen Erstaunen brachte die Schwester das Band. Mit seinen bellenden Befehlen schien Antonio alles zu bekommen, außer ein Bad.
Ein Zimmergenosse nach dem anderen nickte ein und machte im Schlaf mehr Lärm als im Wachzustand. Uccio machte die Luft noch schlechter, indem er die ganze Nacht furzte, während Antonio und Rocco in einem Rhythmus schnarchten, der zunehmend einschläfernd wirkte. Gegen ein Uhr früh schlief ich endlich ein.
 
Ein einzelner Lichtstrahl drang durch ein Loch in der serranda und erhellte das Kruzifix an der Wand über unseren Köpfen. Il signore, wie ihn die Italiener nennen, hatte die ganze Nacht über uns vier gewacht, von denen zwei innere Blutungen hatten und ein Dritter den Raum mit so viel Gas füllte, dass es für einen Heißluftballon gereicht hätte. Während er sich umdrehte, entschuldigte sich Uccio für sein grollendes Gedärm und sagte, nur so könne er sich ein wenig Erleichterung verschaffen. »Non c’è problema«, erwiderte Antonio. »Furzen Sie, so viel Sie wollen. Aber machen Sie um Himmels willen das Fenster auf!«
Weil ich der Beweglichste von uns vieren war, bot ich an, die Jalousie hochzuziehen, und füllte meine Lunge mit einem tiefen Atemzug schwüler Salento-Luft. Die Station wachte mit lautem Gähnen, viel Recken und Strecken, gelegentlichem Rülpsen und einem frugalen Frühstück mit Kaffee und einem Croissant auf. Die Größe von Antonios Nierenstein hatte sich herumgesprochen, und Patienten von nebenan kamen an sein Bett, um sich das Trumm anzusehen. So erfüllten sie seinen Besitzer mit Stolz auf etwas, das er so lange verflucht hatte.
Um seine blutende Blase zu reinigen, hatten die Schwestern Rocco befohlen, viel Wasser zu trinken, wobei sie leider übersahen, dass er keines hatte. Er hätte Leitungswasser trinken können, aber dann hätte er sicherlich im Krankenhaus bleiben müssen. Ich gab ihm das, was noch in meiner Flasche war, und hoffte, Daniela würde bald kommen, damit wir uns in die Bar schleichen und noch etwas Kaffee trinken konnten.
»Wer will ein Thermometer?«, fragte eine Schwester, die soeben ihren Dienst angetreten hatte.
»Io«, sagte Antonio.
»Ich auch«, sagte Rocco und hob die Hand wie ein Schuljunge.
Eigentlich hätte die Schwester wissen müssen, wer ein Thermometer brauchte, stattdessen verteilte sie sie wie Kopfhörer im Flugzeug. Dasselbe galt für das Blutdruckmessen – es fand nur statt, wenn man sich den Ärmel hochkrempelte. Die Schwestern gingen ihrer Arbeit höchst gleichgültig nach und machten nur das Nötigste. Sie waren eher grob statt unfreundlich, unachtsam, hastig und irgendwie unnahbar. Aufgrund der strengen Nonnen hatte ich etwas anderes erwartet. Aber nach Gottesfürchtigkeit kommt gleich Sauberkeit. Deshalb war die Putzfrau die Gründlichste und donnerte mit ihrem Wischmopp laut gegen Betten und Stühle, während sie den Boden wischte. »Geht das nicht auch ein bisschen leiser?«, beschwerte sich Antonio.
Kurz nach neun kamen drei Ärzte und eine Nonne vorbei. Sie schoben einen Wagen mit einer Akte für jeden Patienten, auch für die vier in Zimmer 205, neu gewonnene Freunde, die sich nie mehr wiedersehen würden. Uccio durfte noch am Nachmittag nach Hause, während Antonio bis morgen warten musste. Rocco erfuhr, dass gleich eine Schwester kommen würde, um seine Blase zu spülen, und ich, dass meine Kernspin nichts ergeben hätte, was die Zeit und eine Pause vom Tennisspielen nicht heilen könnten, meine Entlassung wurde bereits vorbereitet. Ich war begeistert. Selbst wenn man nicht wirklich krank ist, freut man sich über die Nachricht, das Krankenhaus verlassen zu dürfen.