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Zwei Tage an einem – Sera
 
Danielas braun gebrannter Po tanzt erneut, als sie die Rollläden wieder hochkurbelt. Lärm und Licht durchfluten das Zimmer, und wenn die Glocke nicht Viertel vor fünf läuten würde, könnte ich schwören, ein neuer Tag sei angebrochen. Stattdessen hat gerade mal die zweite Hälfte des ersten Tages begonnen. Nachdem die schlimmste Nachmittagshitze vorbei ist, erwacht Andrano zu neuem Leben.
Eine Viertelstunde später erfüllt eine süße Orgelmelodie die Stadt und hypnotisiert sämtliche Straßenhunde, die dazu jaulen. Das ist das Angelus-Gebet, klärt mich Daniela auf, das an die Menschwerdung Gottes erinnert. Dieses musikalische Ritual ist ein uralter katholischer Brauch, aber gleichzeitig das moderne Signal für die Geschäfte Andranos, für den Abend wieder aufzusperren. Von nun an gehen die Andranesi ihren Pflichten nach, und die mediterranen Vergnügungen sind nur noch eine vage Erinnerung an den Vormittag. Ich dagegen will weiter faulenzen und ihnen dabei zusehen.
Danielas Haus ist eines der wenigen, die etwas zurückgesetzt von der Straße liegen. Mit seiner Veranda hinter einer Wand von Geranien ist es ein idealer Aussichtspunkt, um zu beobachten, wie der Nachmittag an der Via Dodici Apostoli verstreicht, einer lebhaften Straße, die vom centro storico bis an den Stadtrand führt. Die von Schlaglöchern und Straßenreparaturen übersäte, enge, belebte zweispurige Straße ist nichts für Menschen mit schwachen Nerven. Die Straßen von Andrano dienen nämlich nicht nur der Fortbewegung, sondern noch vielen anderen Zwecken. So kann man darauf beispielsweise stricken, sticken, bügeln, Fußball und Karten spielen, sich unterhalten, sitzen, Landwirtschaft betreiben und – vorausgesetzt, man ist ein Straßenköter – dösen.
An beiden Enden der Straße genießt das menschliche, tierische und motorisierte Treiben religiösen Schutz. An unserem Ende sorgt dafür eine von Kerzen und Plastikefeu umgebene Keramikmadonna, während am anderen Ende der Straße eine lebensgroße Statue von Padre Pio, einem italienischen Heiligen aus dem 20. Jahrhundert, die Kreuzung bewacht sowie all jene, die ihr unleserlich gewordenes Stoppschild ignorieren. Diese Leitfigur der Frommen mit dem gütigen Gesicht und der braunen Tunika bewacht für immer und ewig die Villa eines Kardinals aus dem Vatikan, der in einem solch kleinen Städtchen ein äußerst berühmter Einwohner ist. Auf einer Plakette zu Füßen des Padres steht: »Ti aspettiamo« – »Wir erwarten dich«, obwohl die Glasscherben auf der turmhohen Mauer dem müden Pilger etwas ganz anderes verkünden.
Während wir unsere Füße gegen Danielas Verandamauer stützen und einen knallroten aperitivo in den Händen halten, sehen wir zu, wie der Nachmittag vergeht. Was für Daniela schlicht Andranesi sind, sind für mich alles höchst erstaunliche Menschen.
Zwei Türen weiter steht eine ältere Frau auf einer verkehrsumtosten Leiter und wäscht die Fassade ihres Hauses. Ihr Eimer baumelt von der zweiten Sprosse von oben. Drei Jungen kommen auf ihren Fahrrädern vorbei, von denen sich einer anschickt, in einem waghalsigen Manöver zwischen Fassade und Leiter hindurchzuzischen. Erst in letzter Sekunde merkt er, dass er sich wohl etwas überschätzt hat, und macht einen wilden Schlenker, wobei er es irgendwie schafft, weder die Kontrolle über sein Rad zu verlieren noch die Leiter umzufahren. Die Frau, die laut Daniela Maria Pia heißt, will dem Wahnsinnigen schon ihren Schwamm hinterherwerfen, aber das Ziel ist längst um die Ecke verschwunden. Also steigt sie von ihrer Leiter, stellt sie näher an die Hauswand und schrubbt von einer niedrigeren Sprosse aus.
 
Ein Mann mit O-Beinen fährt mit einem Traktor über eine Plastikplane voller Weizenkörner. Seine Frau folgt ihm und trennt die Spreu vom Weizen. Die Plane bedeckt die halbe Straße. Würde der Bauer seinen Traktor wegfahren, könnten die vorbeifahrenden Autos das Korn für ihn dreschen.
Ein lautes Motorengeräusch kündigt das Herannahen eines Gefährts an, das aussieht wie eine Mischung zwischen einem Moped und einer Schubkarre. »Das ist eine Ape«, erklärt mir Daniela. Ape heißt Biene, und genau wie die Vespa, was Wespe bedeutet, wurde sie nach ihrem brummenden Motor benannt. Das dreirädrige Ding mit einer Ladefläche hinten und einer Fahrerkabine, in der sich ein Lenker befindet, ist im Grunde ein Moped. Monoton summt es am Haus vorbei, während sich die sonnenverbrannte Ehefrau den Platz auf der Ladefläche mit frisch geerntetem Gemüse teilt, dessen Wurzeln bei jeder Erschütterung etwas mehr braune Erde verlieren. In der winzigen Fahrerkabine hängt hinter dem Kopf des Mannes ein Bild der Madonna. Wenn er sich bücken würde, könnte man meinen, sie führe.
Ein wie eine Schildkröte geformter und ähnlich langsamer Fiat cinquecento tuckert an unserem Beobachtungsposten vorbei. Er wird von einem Jungen gelenkt, der auf dem Schoß seines Vaters balanciert. Ein Radfahrer mit einer Küchenspüle auf dem Gepäckträger und einem S-förmigen Abflussrohr um den Hals wird von einem Vespafahrer mit nacktem Oberkörper überholt. Er sitzt mit übereinandergeschlagenen Beinen im Damensitz auf dem Sattel und hat eine Zigarette zwischen seinen Lippen. Noch eine Ape kommt aus einer Seitenstraße und hält an der Kreuzung, wo sie von einer Gruppe Kinder überfallen wird, die Tomaten von der Ladefläche klauen. Als er die Diebe im Seitenspiegel entdeckt, springt der Bauer aus seiner Kabine und ruft: »Disgraziati!«, während die kleinen Füße davoneilen.
Ein Junge radelt vorbei, eine Mundharmonika zwischen den Lippen. Er tritt wie wild in die Pedale und entlockt ihr mit jedem Atemzug neue dissonante Klänge. Ein weißhaariger Mann fährt vorbei, quer über seiner Lenkstange liegt ein Besenstiel, an dessen Enden je ein Eimer baumelt. Aus seinem Mund ragt ein Büschel Minze, an dem er kaut, wobei seine Kiefermuskeln beschäftigter sind als seine Beine.
Ein Junge in einer engen Badehose hüpft die Straße entlang und knackt eine Kokosnuss an der Wand des gegenüberliegenden Hauses. Mit nichts als einem Handtuch um die Hüften kommt schließlich sein Bewohner heraus, um nachzusehen, wer da wohl geklopft hat. Als er niemanden entdecken kann, sucht er die Straße ein, zwei Mal ab, kratzt sich am Kopf und kehrt wieder ins Haus zurück.
Ein Afrikaner schlurft in abgelaufenen Sandalen die Straße entlang und schiebt einen klapprigen Wagen mit allem möglichen Krimskrams von Autofußmatten bis hin zu Taschenrechnern vor sich her. Er wohnt am Stadtrand, sagt Daniela, und schafft es mit seinem bestimmt sehr mageren Einkommen, eine fünfköpfige Familie zu ernähren.
Eine bucklige alte Frau biegt um die Ecke und schaut zu uns her, sie zittert leicht und humpelt deutlich. Laut Daniela ist sie nicht ganz bei Verstand und läuft ziellos mit gesenktem Blick durch Andrano. Ihr Gesicht versteckt sie hinter einem Schal, und ich sehe es in der Tat erst, als sie den Kopf hebt und ausspuckt.
In dem verzweifelten Versuch, frische Luft zu schnappen und der Hitze im Haus zu entkommen, stellen zwei Frauen Plastikstühle auf das, was ihre Veranda wäre, wenn die Straße nicht direkt vor ihrer Haustür vorbeiführen würde. Ihre Türmatte weist mehr Reifenspuren auf als Fußabdrücke. In ihrer schwarzen Witwentracht stricken sie, so gut es eben geht, wenn man mitten auf einer befahrenen Kreuzung sitzt. Die Jüngere muss um die fünfundsechzig sein, die Ältere geht auf die neunzig zu, und ihre Beine – sie trägt trotz der Hitze Perlonstrümpfe – baumeln mehrere Zentimeter über dem Boden. Umtost von Teenagern auf ihren Zweirädern, fahren sie mit ihren Handarbeiten fort und scheinen die Gefahren und den Lärm um sie herum gar nicht zu bemerken.
Eine weitere schwarze Witwe strampelt an unserem Beobachtungsposten vorbei. Sie hat tulipani im Fahrradkorb, was auf einen Friedhofsbesuch schließen lässt.
»Wo kaufen sie ihre schwarzen Kleider?«, will ich von Daniela wissen. »Sie sehen alle gleich aus.«
»Woher soll ich das wissen? Glaubst du etwa, wir haben Geschäfte nur für Witwen?«
»Das würde mich auch nicht weiter überraschen«, sagte ich und sehe die Straße hinunter, wo eine Frau zwischen zwei parkenden Autos bügelt. Kann es sein, dass es tatsächlich so heiß in ihrem Haus ist?
»Buona sera«, ruft uns eine Gruppe von Nonnen im Chor zu, die den kurzen Weg vom Kloster zur Sechs-Uhr-Messe in der Kirche zurücklegen.
»Buona sera«, grüßen wir zurück.
»Wie geht es papà?«, will eine von Daniela wissen.
»So wie immer«, sagt sie traurig.
Die Nonne wird das wissen, findet es jedoch zweifellos höflich, sich dennoch nach ihm zu erkundigen. Der Mann von Gegenüber ist inzwischen wieder voll bekleidet und fegt das Stück Straße vor seiner Haustür. Zwischen seinem Besen, Maria Pias Leiter, dem Korn und dem Traktor, einigen schlecht geparkten Autos, den bügelnden und den strickenden Frauen ist die Via Dodici Apostoli zum reinsten Hindernisparcours geworden. Wer sich sicher darauf fortbewegen will, muss sich von einer Straßenseite zur anderen schlängeln, ein Manöver, für das Autos abbremsen, das aber Vespas lieber im Geschwindigkeitsrausch vollführen. Ich scheine der Einzige zu sein, der bei jedem Beinahe-Unfall nervös wird, und das, obwohl ich mich am sichersten Ort überhaupt befinde.
Ich entdecke eine dunkelblaue Uniform mit rosa Revers und auf Hochglanz polierten Silberknöpfen, und tatsächlich nähert sich ein junger vigile auf dem Fahrrad. Ich bin fest davon überzeugt, dass er die Straßenengpässe auflösen wird, vor dem Bauern in seine Trillerpfeife blasen und mit seinem Riesenlutscher vor Maria Pia herumwedeln wird. Stattdessen versucht er freihändig die Hindernisse zu umfahren, was ihn in etwa so autoritär wirken lässt wie den Zehnjährigen, der hinter ihm genau dasselbe tut.
Da Tod und Zerstörung trotzdem irgendwie vermieden werden, müssen die wahren vigili der Straßen von Andrano die Porzellanmadonna und der Terrakotta-Padre sein, die einen weiteren Nachmittag voller Gefahren verstreichen sahen, ohne dass jemand zu Schaden kam. Wenn hier jemand jammert, dann nur die beiden streunenden Hunde, die sich um ein Revier streiten, das niemandem gehört.
Die Wolkenschwaden über dem Meer werden in ein rosa Licht getaucht. Die Turmuhr schlägt acht, und es fängt an zu dämmern. Ich hatte die campana völlig vergessen, weil ich sie seit dem Angelus-Gebet nicht mehr gehört hatte. War der ganze Trubel auf der Straße daran schuld, oder war mir diese merkwürdige Stadt bereits so vertraut?
 
Ein Vollmond steigt so schnell über dem Meer auf, dass die Welt aussieht wie eine Scheibe. Fischerboote treiben wie hingetupft auf dem Mittelmeer, deren Scheinwerfer aussehen wie Kerzen auf einer glitzernden Geburtstagstorte. Nachdem Andrano den ganzen Tag in der Sonne vor sich hin gebrutzelt hat, beginnt es sich jetzt abzukühlen. Eine leichte Brise weht durch die Straßen. Die Dämmerung bringt neue Energie.
Die Kirchturmuhr schlägt neun, bevor wir zu Abend essen. Spät zu Abend zu essen ist eine typisch italienische Angewohnheit, wenn auch nur wegen der Unmengen, die es bereits zum Mittagessen gab. Daniela hat nach einem sizilianischen Rezept gekocht. Es gibt melanzane alla parmigiana – gebratene Auberginen, die mit Schinken, Parmesankäse und Basilikum überbacken sind. Ihre Mutter ist Sizilianerin, also stammen die meisten Rezepte, die Daniela geerbt hat, von jener Mittelmeerinsel, wo mamma gerade mit papà »in Urlaub« ist und von wo aus sie auch anruft, als wir gerade mit dem Abendessen fertig sind.
Von der Küche aus höre ich zu, was Daniela sagt, und genieße ihre gelassenen Antworten auf die besorgten Fragen ihrer Mutter.
»Si mamma.«
Ja, sie hat die Auberginenscheiben kurz auf den Grill gelegt, bevor sie den Schinken hinzugefügt hat.
»Si mamma.«
Ja, sie hat den Parmesan in dem Laden in Tricase gekauft.
»Si mamma.«
Ja, sie hat Semmelbrösel verwendet.
Daniela kann ihre mamma überzeugen, dass ihr Rezept nicht verfälscht wurde und dass abgesehen von meiner Ankunft alles beim Alten ist. Dann erkundigt sie sich nach papà. Er streunt durch einen umzäunten Garten, isst Pflanzen und flucht vor dem Spiegel – leider scheint auch dort alles beim Alten zu sein.
Sie telefonieren beinahe eine Stunde, obwohl es sich so anhört, als beendeten sie das Gespräch alle fünf Minuten. Italienische Abschiede sind wie der Tod in der Oper: Immer wenn man denkt, dass es endgültig vorbei ist, blitzt wieder ein neuer Lebensfunke auf. Jedes Mal, wenn sich Daniela verabschiedet, nimmt die Unterhaltung eine neue Wendung. Das ist bestimmt mit ein Grund, warum ciao sowohl Hallo als auch Tschüs bedeutet.
Wir installieren gerade Moskitonetze, um die nächtliche zanzare-Plage draußen zu halten, als wir die fröhliche Melodie eines Akkordeons hören, die laut Daniela von der Piazza kommt. Ich schlage vor, hinzugehen, also zieht sich Daniela ein Sommerkleid an, und wir folgen der Musik wie Jäger einer Witterung. Aber zu unserer Überraschung wird die lebhafte Melodie leiser, als wir die Piazza erreichen. Die liegt bis auf einen alten Mann auf einem Fahrrad mit einer Wassermelone auf dem Gepäckträger völlig verlassen da. Seine Reifen quietschen auf dem glänzenden Pflaster, während er in einer dunklen Gasse verschwindet. Wir sehen uns neugierig um, da wir von der Musik in die Irre geführt wurden und unsere Suche nach ihrem Ursprung gescheitert ist.
Die gedämpfte Beleuchtung taucht die Piazza Castello in eine nostalgische Atmosphäre. Drei alte Gebäude säumen den Platz: die Chiesa Sant’Andrea – eine gedrungene Kirche aus dem zwölften Jahrhundert, die nach dem Schutzheiligen von Andrano benannt ist, der municipio – ein schönes Rathaus mit bogenförmigen Türen aus Olivenholz sowie das barocke Burgjuwel, der Castello Spinola-Caracciolo, mit einem kopfsteingepflasterten Hof und prächtigen Laubengängen.
Zwischen den alten Gebäuden liegt der Rathausplatz mit seinen abgerundeten Pflastersteinen: Er ist Marktplatz, Treffpunkt und gleichzeitig das Herz des Orts.
Daniela führt mich in eine schlecht beleuchtete Seitenstraße und glaubt, die Musik käme aus der Bar. Aber wieder wird die Melodie leiser, während wir näher kommen. Als wir um eine Ecke biegen, sehen wir nur einen Schatten, einen sich kratzenden, streunenden Hund und einen alten Mann, der auf einer Stufe sitzt und raucht. Die Musik scheint wie wir, langsam und aufs Geratewohl, in der ruhigen, schwülen Nacht durch die Straßen zu streifen. Hand in Hand gehen wir an Andranos Läden vorbei. Am barbiere, der tabaccheria, dem fruttivendolo. Und bei jeder Biegung wird die Serenade leiser, eine weitere Gasse führt ins Nichts, und bis auf ein paar ältere Einwohner, die versuchen, sich etwas Kühlung zu verschaffen, scheint der Ort wie verlassen dazuliegen.
»Buona sera«, begrüßt Daniela einen buckligen Mann in einem weißen Unterhemd, der mit einem Stock über den Knien in einer Türöffnung sitzt.
»Buona sera«, erwidert er automatisch.
»Wissen Sie, wo die Musik herkommt?«
»Dalla piazza«, entgegnet er wie selbstverständlich und unterliegt demselben Irrtum wie wir.
»Grazie«, sagt Daniela, die ihm nicht widersprechen will.
Mehrere Biegungen später erreichen wir ein heruntergekommenes Haus. Die Haustür steht offen, und Unkraut sprießt aus seiner Fassade. Über der Tür ist eine verblasste Hausnummer aufgemalt, daneben befindet sich ein kleines weißes Schild mit einer neuen Adresse. Daniela erzählt mir, dass das Haus einst ihrem Großvater gehört hat, der auf dem Grundstück Fahrräder reparierte. »Mein Vater wollte es restaurieren lassen«, fügt sie hinzu, »bevor er krank wurde.«
Bei einer weiteren heruntergekommenen Adresse klebt ein Plakat an der Hauswand, das Werbung für einen Zirkus macht, der vor Jahren in der Stadt war. Die bröckelnde Fassade ist zu einer Art Schwarzem Brett geworden, an dem auch eine Ankündigung für ein Fußballspiel sowie eine verblasste Vermählungsanzeige von Luigi und Serena hängen, die inzwischen bestimmt schon etliche Kinder haben. Ein paar Türen weiter lehnt ein manifesto di morte an der Wand eines Hauses und verkündet den Tod eines seiner Bewohner. Daniela erzählt mir, dass dieses Schild dort mehrere Tage lang stehen bleibt, bis der Tote auf dem Friedhof am Stadtrand zur letzten Ruhe gebettet wird.
Nachdem wir beinahe den gesamten centro storico durchkämmt haben, geben wir unsere Suche nach der Musik auf und kehren in die Bar unweit der Piazza zurück. Andranos Akustik scheint uns an der Nase herumgeführt zu haben und hat uns dazu verführt, einen Spaziergang zu unternehmen. Die Kirchturmglocke ist weniger schüchtern und schlägt über unseren Köpfen elf.
Wir kaufen Pfirsicheis und beobachten eine Gruppe von Jungs, die versucht, eine Gruppe von Mädchen zu beeindrucken. Die lässig auf ihren lächerlichen Mopeds sitzenden Casanovas tragen Schmeißfliegensonnenbrillen, obwohl es fast schon Mitternacht ist. Sie haben gegelte Haare, spitze Hemdkrägen und modisch ausgefranste Jeans. Die Mädchen, die nicht weniger Sorgfalt auf ihr Äußeres verwendet haben, laufen kichernd auf und ab und lecken an ihrem Eis. Bei ihrem motorisierten Balzritual überprüfen die Jungen ihr Spiegelbild in den Außenspiegeln, bevor sie in die Nacht davonpreschen, immer in der Hoffnung, dass sich die Zungen ihrer Bewunderinnen nicht nur mit Eis zufriedengeben.
Wir gehen über die Boccia-Bahnen hinter der Burg nach Hause, wo in regelmäßigen Abständen zwei Kugeln aufeinanderprallen und Männer in Unterhemden in einhelliger Begeisterung laut »oooohhhhh« rufen. Zwei Teenager bewerfen sich im Burgpark gegenüber von Danielas Haus mit Steinen. Erst spaßeshalber, bis ein verirrter Stein den Scheinwerfer der Vespa eines der Streithähne trifft. »Ich mach dich fertig!«, schreit ihr Besitzer und wühlt mit bloßen Händen im Dreck, um größere, schärfere Geschütze zu finden.
Es schlägt Mitternacht, als wir uns fürs Bett fertig machen. Das ist noch früh für Andrano, aber ich bin erschöpft. Daniela, die die Hitze gewohnt ist, schläft schnell ein, während ich mich noch über eine Stunde herumwälze – der Jetlag. Dann gebe ich auf, ziehe meine Shorts an und trinke ein Bier auf den Stufen der Haustür. Trotz der fortgeschrittenen Uhrzeit schallen Kinderstimmen durch die Straßen, und der Verkehr staut sich erneut auf der Via Dodici Apostoli. Um zwei Uhr nachts ist die Straße belebter als um zwei Uhr mittags.
Streunende Katzen gehen in Deckung – die Stunde der Wettrennen ist angebrochen! Für die Madonna und Padre Pio ist die Nachtschicht noch anstrengender als die Tagschicht. Heisere Vespas sausen ums Haus, manchmal drei nebeneinander. Gesteuert werden sie von gutmütigen Hooligans, die nach dem vielen Eis eine Art Zucker-Flash haben müssen. Ich sollte nervös sein, genieße die Show jedoch, obwohl mich der furchtbare Lärm zweifeln lässt, wie ich hier jemals schlafen soll.
Die Glocke schlägt dreimal, bevor die Straße still vor mir daliegt und ich zu meiner langsam atmenden geheimnisvollen Schönen auf die Matratze zurückkehre. Ich küsse ihre Schulter, und sie bewegt sich leicht. Es war ein denkwürdiger Tag in einem Ort jenseits meiner Vorstellungskraft, mit einer Frau jenseits meiner Träume.
Andrano verstummt, kühlt sich ab, erholt sich in Erwartung eines neuen Tages, der – von dem Seeigelstachel in meinem Fuß einmal abgesehen – hoffentlich genauso schön wird wie der letzte.
Als wecke ihn die ungewohnte Stille, wird der Wassermelonenverkäufer bald aus dem Schlaf schrecken, nach den Wagenschlüsseln seines verrosteten Lasters tasten und seinen quäkenden Lautsprecher anstellen. Und die Einwohner von Andrano werden noch im Schlaf auf seine pralle, reife Ware eingestimmt werden.