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Das bittersüße Leben
Einer der vielen
Widersprüche, der Italiener kennzeichnet, ist der, dass sie in die
ganze Welt ausgewandert, aber als Reisende verloren sind. Es ist
schon merkwürdig, dass geborene Improvisierer Abenteuer lästig
finden und ihren Auslandsurlaub damit verbringen, nach den
Annehmlichkeiten ihres geliebten belpaese zu suchen. Als Luisa einmal ins Ausland
fuhr, nahm sie ihre Espressokanne mit. Daraufhin lockte der
morgendliche Duft Scharen von Landsleuten vor ihr Hotelzimmer. Und
Carla war es unmöglich, in New York Siesta zu halten, bis sie per
Schlafbrille und Ohrstöpsel die gewohnte ländliche Ruhe
wiederherstellte und sich vor dem Chaos der Großstadt
rettete.
Ich fand solche
Reisebeschreibungen amüsant, bis ich mich bei ganz ähnlichen Dingen
ertappte. Bevor ich nach Italien gezogen war, hätte ich auf einem
Baum schlafen können. Und jetzt befand ich mich im Haus meiner
englischen Freunde und wälzte mich in dem bequemen Bett hin und
her, in dem ich zwei Jahre zuvor wie ein Toter geschlafen hatte.
James’ und Jennys Haus hatte keine serrande – jene schweren italienischen Rollläden,
die Fenster wie Augenlider verschließen. Und trotz eines Vorhangs
und mehrerer Gläser Guinness, die dazu geführt hatten, dass meine
Lider ebenso tief hingen wie die Wolken vor dem Fenster, hatte ich
in meinem einsamen Loftzimmer eher das Gefühl, dass es zwölf Uhr
mittags statt Mitternacht war.
Nachdem ich
Schäfchen gezählt hatte, bis selbst die Kühe von der Weide kamen,
zog ich die Vorhänge beiseite und setzte mich im Bett auf. Vor dem
Fenster lag ein perfekt gepflegter Garten. Der Rasen war frisch
gemäht, und die Hecken waren exakt getrimmt worden. Dahinter sah
ich eine Straße mit Mittelstreifen, der Asphalt war versiegelt,
glatt und unvermüllt. Heftiger Regen ging darauf nieder, bevor er
effizient ablief. So ein Regenguss würde die Straßen Andranos
ruinieren und sie noch mehr erodieren als ohnehin schon. Ich legte
mich wieder hin und musste an Daniela denken, wie sie mit ihrem
Fahrrad durch Pfützen und Schlaglöcher fuhr. Vielleicht war sie
ohne mich besser dran, schließlich deprimierten sie solche Dinge
erst, seitdem ich sie darauf hingewiesen hatte.
Für den Italiener in
mir war es noch viel zu früh zum Schlafen. In Italien wären wir
gerade erst losgezogen oder hätten den secondo
piatto aufgetischt. Aber für den Australier in mir war es
spät geworden, und in Sussex war es bis auf den Regen, der auf das
Dach trommelte, mucksmäuschenstill. Ich war einerseits müde,
andererseits hellwach. Ich wusste nicht recht, ob ich an
Schlaflosigkeit oder Schizophrenie litt. Ich machte das Licht an
und versuchte, in meinem Buch zu lesen, aber die Geschichte der
sizilianischen Mafia mit dem Titel Die
Richter. Der Tod, die Mafia und die italienische Republik
war ein ziemlich blutrünstiges Schlaflied.
Obwohl ich nicht
schlafen konnte, war ich dankbar, dass meine Gastgeber früh zu Bett
gegangen waren, da der Abend ein wenig zäh verlaufen war. Schon als
sie mich vom Flughafen abholten, merkte ich, dass sich unsere
Freundschaft verändert hatte. Ich hatte ein großes
Willkommenskommittee wie auf Sizilien erwartet. Stattdessen wurde
ich per Handschlag und mit einem Lächeln begrüßt. Nett, aber nicht
nett genug. Ein Handschlag bezeugte für mich nicht mehr die Freuden
einer wiedergewonnenen Freundschaft, also umarmte ich James, der
das widerwillig über sich ergehen ließ. Hätte ich ihn an mich
gedrückt – er hätte mir bestimmt eine gewischt. Ich war es gewohnt,
wie ein heimkehrender Kriegsheld begrüßt zu werden – und nicht wie
ein Reisender, der ein Bett für die Nacht braucht.
Ich hatte erwartet,
so viel zu erzählen zu haben, dass ich den Koffer wie in Sizilien
erst am nächsten Morgen aus dem Wagen holen würde. Aber das Erste,
was James und Jenny taten, war, mir mein Zimmer zu zeigen und mir
zu erklären, wie man heißes Wasser spart. Die Unterhaltung beim
Abendessen war ähnlich anstrengend gewesen. Sie sprachen über ihre
Arbeit und ihre Hypotheken, während ich Geschichten meines unsteten
Lebens zum Besten gab, die sie sich nur höflichkeitshalber
anhörten. Sie erwarteten ein Kind, brauchten allerdings keinerlei
Hilfe bei der Namenswahl. Ihre Regierung besaß eine dermaßen
einfallslose Effektivität, dass sie ihr Kind nennen konnten, wie
sie wollten.
Nach einem Jahr in
Italien hatten auch meine Geschmacksknospen dazugelernt und
empfanden das englische Essen als reichlich fad. Angesichts ihres
in Plastik eingeschweißten Parmesankäses rümpfte ich beinahe die
Nase, konnte mich aber gerade noch rechtzeitig
zusammenreißen.
Auch die Küche
meiner Mutter hatte aufgrund meiner neuen Erfahrungen deutlich
verloren. Vor Italien war ich ein kritikloser Esser gewesen, der
alles verschlang, was man mir auftischte – Hauptsache, es war tot
und heiß. Aber als Daniela und ich eine Woche im Januar auf Besuch
gewesen waren, fragte ich plötzlich, was es zum Abendessen gebe.
Das machte meine Mutter nervös. Sie war leere Teller und
Komplimente gewöhnt, aber keine halbleeren Teller und Kritik. Das
war Danielas Schuld: Indem sie mich verwöhnte, hatte sie mich auch
der Küche meiner Mutter entwöhnt.
Abgesehen davon,
dass ich ein kulinarischer Snob geworden war, hatten sich meine
Eltern sehr gefreut, mich zu sehen. Genauso wie mein alt gewordener
Hund, der so verrückt wurde vor Freude, dass er ganz vergaß, dass
die Haustür aus Glas war. Ein italienischer Glaser hätte doppelt so
lange gebraucht, bis er gekommen wäre. Es tat gut, zu Hause zu
sein.
Oder vielleicht doch
nicht? Meine australischen Kumpel machten mehr Aufhebens um mich
als James und Jenny, wirkten aber ein wenig distanziert, wenn nicht
sogar etwas misstrauisch, weil ich mich verändert hatte: Ich trug
Schuhe von Prada und eine Hose von Armani. Wenn man sich modisch
kleidet, passt man sich in Italien nur der Mehrheit an, aber in
Australien fällt man damit auf. Die meisten Freunde waren
bodenständig geworden, gründeten gerade eine Familie und machten im
mittleren Management Karriere. Ich konnte meinen gesamten Besitz
immer noch in einem Rucksack unterbringen. Sie redeten davon, wie
teuer Sydney seit den Olympischen Spielen geworden war. Ich redete
von Signor Api. Es ist schon komisch, wenn einem als Australier
klar wird, dass man mehr Gemeinsamkeiten mit einem italienischen
Tankwart als mit seinen Landsleuten hat.
In England war es
genau dasselbe. James schlug vor, sich nach dem Abendessen einen
Film anzusehen. Also ließ ich die Fotos in meiner Tasche, meine
Geschichten in meinem Kopf und machte es mir auf IKEA-Möbeln
gemütlich, um mir eine ebenso vorgefertigte Hollywoodproduktion
anzusehen. Was war nur mit mir los? Noch vor einem Jahr hatte ich
banale Blockbuster genauso genossen wie einen Shepherd’s Pie. Damals hätte ich an der
Gastfreundschaft meiner Gastgeber nicht das Geringste auszusetzen
gehabt. Während ich mir halbherzig das Happy End ansah, merkte ich
mit einer gewissen Traurigkeit, dass mich nicht mehr viel mit
meinen alten Freunden und Interessen verband. Mein Leben auf dem
Kontinent hatte mir nicht nur neue Erfahrungen beschert und meinen
Horizont erweitert, sondern mir auch frühere Vergnügungen vergällt,
die mir nun fremd geworden waren.
Der Nachteil, zwei
Welten gut zu kennen, besteht darin, dass man sich nirgendwo mehr
ganz zu Hause fühlt. Ich war zwischen England und Australien
aufgewachsen, meine Mutter stammte aus der Ukraine, meine Freundin
aus Italien, und jetzt war »Zuhause« ein Wort, das ich in drei
Sprachen sagen konnte, ohne zu wissen, was es eigentlich bedeutete.
Der Italiener in mir vermisste etwas in England. Der Australier in
mir würde in Italien stets Heimweh haben. An italienischen Stränden
sehnte ich mich nach den Riesenwellen von Bondi Beach. Am Bondi
Beach vermisste ich das ruhige Mittelmeer. Es war ein Privileg,
beides zu kennen, aber ein Privileg ist unter Umständen auch ein
Risiko.
Es war dumm von mir,
bei den Engländern nach den Vorzügen der Italiener zu suchen,
genauso wie die Italiener niemals die Vorzüge von Australiern haben
werden. Dass ich mich bei James und Jenny nicht mehr so wohl
fühlte, war mein Fehler und nicht ihrer. Wie hatte ich mir jemals
einbilden können, sie mit Geschichten zu unterhalten, zu denen sie
keinerlei Bezug hatten? James würde nie verstehen, wie viel Spaß es
macht, hinter der Burg von Andrano Boccia zu spielen. Genauso gut
hätte ich von Francesco verlangen können, sich für ein
The-Ashes-Cricket-Testmatch im Lord’s-Stadion zu begeistern. Das
waren verschiedene Welten, die durch ein Seil getrennt waren, auf
dem ich gerade balancierte und mich verzweifelt fragte, wohin mein
Weg führen sollte.
Im Großen und Ganzen
war ich begeistert, zurück in England zu sein. Ich sprach wieder
so, wie mir der Schnabel gewachsen war, und genoss die Ordnung um
mich herum. Ich hätte nie gedacht, dass es mich entspannen könnte
zu sehen, wie Autofahrer genau einparken oder an einem
Zebrastreifen halten. Und ich hätte sämtliche Einkäufer umarmen
können, die geduldig im Supermarkt Schlange standen, genauso wie
die Fußgänger, die ihren Müll in öffentliche Mülleimer werfen. Ein
solch zivilisiertes Verhalten macht den Alltag stressfreier, und
ich konnte wieder freier atmen. Ich genoss meinen
Nachmittagsspaziergang durchs Viertel. Die Geschäfte hatten den
ganzen Tag auf! Und Busse hielten an Haltestellen, anstatt dass ein
atemloser vigile ankam und verkündete,
die Verkehrsbetriebe würden kurzfristig streiken. Aber die Freude
darüber, in meine frühere Welt zurückzukehren, wurde von dem, was
ich in der alten Welt zurückgelassen hatte, überschattet. Damit
meine ich nicht nur Daniela, sondern jene schwer zu fassende
italienische Schönheit, die ich erst zu schätzen lernte, nachdem
ich sie verloren hatte.
Noch vor einem Jahr
in einem Stau in Lecce, als ein Bauer zwischen den Autos frisch
geerntete Karotten verkaufte, hatte Daniela von dem unsichtbaren
Charme ihres Landes geschwärmt. Sie hatte erzählt, dass sich selbst
Italiener über die offensichtlichen Schwächen Italiens beschweren.
Aber wenn sie dann fort sind, beklagen sie den Verlust von etwas,
das sie nicht beschreiben können. Damals war ich noch neu in
Italien, dem echten Italien mit seinen ständigen Staus und der
vielen Korruption. Damals konnte ich mit ihren Worten nichts
anfangen. Aus meiner Perspektive wirkte vieles barbarisch und
unattraktiv: Italien war ein Ferienparadies, aber wenn man immer
dort leben musste, wurde es zur Hölle auf Erden. Doch ein Jahr
später setzte ich mich in meinem Bett auf, sah zu, wie der Regen in
einen englischen Garten fiel, und musste zugeben, dass Daniela
Recht hatte – an diesen Karotten musste doch irgendetwas dran sein.
Eine Art Zauber, der mich ein Land lieben ließ, das ich kritisiert
hatte, genauso wie die verborgenen Qualitäten marktschreierischer
Menschen, deren Nachteile gleichzeitig ihre Vorteile und deren
Schwächen auch ihre Stärken waren. Das waren abstrakte Qualitäten,
die man schlecht definieren kann – das Rätsel des belpaese. Aber mit einem Fenster ohne serranda war es ein Rätsel, für das ich eine ganze
Nacht lang Zeit hatte.
Touristen schwärmen
von Italien, weil sie nur mal kurz im Sommer hinfahren und eine
vergängliche Schönheit kennenlernen, die funkelnde Fassade einer
trostlosen Realität. Sie folgen ihren Reiseführern zu den
historischen Highlights einer modernen Messe, stehen Schlange, um
Freskos zu sehen und nicht, um die Telefonrechnung zu bezahlen. Sie
halten das Leben in Italien für wunderbar, weil die Italiener ihnen
das weismachen. Wie heißt es bei Gore Vidal in Vidal in Venice so schön: »… die meisten kommen
her, um etwas zu finden, das sie nie gekannt haben. Für den
Besucher ist es eine Art Wachtraum. Natürlich träumt kein
Venezianer je von Venedig, aber jeder Venezianer arbeitet daran,
diesen Traum für andere heraufzubeschwören. Das echte italienische
Leben hat nichts mit der Erfahrung des Touristen zu tun. Venezianer
fahren nicht mit Gondeln. Viele könnten es sich nicht mal leisten,
selbst wenn sie es wollten.«
Auch
Hollywoodregisseure haben an diesem Täuschungsmanöver mitgewirkt.
Die Verfechter des Klischees siedeln Filme, die in Italien spielen,
immer im Sommer an, wenn sich das Leben der gut gebräunten
Charaktere nur um Sex und andere Zerstreuungen dreht. So wurde die
italienische Riviera zum idealen Setting für Der talentierte Mr. Ripley. Wo sonst kann man sich
sonnen, während man an seinem Cinzano nippt, schöne Frauen verführt
und das Geld seiner Eltern ausgibt? Selbst wenn sich das
italienische Kino ernsterer Themen annimmt, verzerren Filme wie
Das Leben ist schön die grausame
Realität in einem fast schon obszönen Ausmaß. Aber wen interessiert
schon die Realität? Ihr zu entfliehen macht wesentlich mehr
Spaß.
Reiseschriftstellern
kann man denselben Vorwurf machen. Viele sehen nicht, dass es mehr
Frust als Freude bringen kann, in Italien zu leben. Sie sind so
dumm zu behaupten, dass eine laxere Auslegung der Regeln ein
wesentlich angenehmeres Leben mit sich bringt. In Streifzüge durch das Abendland. Europa für Anfänger und
Fortgeschrittene verbringt Bill Bryson den ersten Abend
seiner kurzen Italienreise mit einem ausgewanderten Amerikaner, dem
nach zwanzig Jahren in diesem Land nichts Positives mehr dazu
einfällt. Bryson dagegen war noch vor wenigen Stunden in Rom und
versteht die Einwände seines Freundes nicht. Er schwärmt von den
Italienern, sagt, er fände es höchst reizvoll, dass sie nicht
Schlange stehen, keine Steuern zahlen, nicht pünktlich zu
Verabredungen erscheinen, keinen Finger krumm machen, ohne sich
bestechen zu lassen, und keinerlei Regeln
respektieren.
Ein paar Tage später
hat Bryson sowohl die Stadt als auch seine Meinung gewechselt.
Genervt von dem rebellischen Leben, beschwert er sich darüber, dass
die Florentiner einfach nicht erkannten, dass es in ihrem
ureigensten Interesse liege, den Müll wegzuräumen, ein paar Bänke
aufzustellen und die Zigeuner zu zwingen, nicht mehr so
aufdringlich zu betteln. Warum nur, fragte Bryson, geben sie nicht
mehr Geld aus, um die Stadt schöner zu machen? Auf den ersten Blick
wirkt die »Was-soll’s-Attitüde«, die in Italien menefreghismo genannt wird, wie eine verlockende
Alternative zu einer Gesellschaft mit strengen Regeln. Aber nachdem
er viel Zeit damit verbracht hatte, seinen Platz in einer Schlange
zu verteidigen, hat Brysons Ordnungsliebe triumphiert. Es dauerte
nicht lange, bis es der Amerikaner, der nach Italien kam, um
la dolce vita kennenzulernen, kaum
erwarten kann, wieder von dort wegzukommen. Und so rennt er los, um
noch einen Bus in die ordentliche Schweiz zu bekommen. Als Barzini
schrieb, »dass man die italienische Lebensweise nicht als Erfolg
bezeichnen kann, es sei denn, man wäre vorübergehender Besucher des
Landes«, entging ihm, dass selbst diese nicht immer entzückt
sind.
Aber die meisten
Touristen glauben der Illusion gern und sind fest von der Echtheit
der Fata Morgana, die sie sehen, überzeugt. Verführt von der
eleganten Mode, den köstlichen Mahlzeiten, von Kunst und
Architektur, kehren sie nur sehr widerwillig in ihr altes Leben
zurück. Kopf und Kaminsims sind voller Klischees über dieses
farbenfrohe Land, in das sie am liebsten gleich wieder fahren
würden. Sie sind verrückt nach Italia
und haben sich sogar in die Vespas verliebt, jene impotenten
italienischen Ikonen, die um die Piazza brummen. Aus ihrer Sicht
muss es Spaß machen, den Wind in den Haaren zu spüren und die
Freundin, die einen von hinten umarmt. Was für eine herrliche Art
zu leben …
Wen die Touristen in
ihren Zimmern mit Aussicht nicht sehen, ist der Mann aus Andrano,
den Motorräder wahnsinnig machen. Er hat die Carabinieri schon unzählige Male angerufen, um die
Verfolgungsrennen vor seiner Tür anzuzeigen. Jetzt betritt der
wütende Selbstjustizler die Straße und schwingt ein Lasso über
seinem Kopf. »Ich bring euch um, noch bevor der Sommer vorbei ist«,
schreit er und schleudert die Schlinge seinen halbwüchsigen
Quälgeistern hinterher. Flüche lassen erahnen, dass er sie verfehlt
hat. Anschließend eilt seine Frau aus dem Haus, um ihn zu
beruhigen. Das Leben geht weiter und damit auch der Verkehr. Schon
wieder heult ein Motor auf, und ein neues Überholmanöver beginnt.
Er ringt die Hände und geht ins Haus, zündet sich eine Zigarette an
und stellt sich vor, sie sei eine Zündschnur, die zum Benzintank
jeder Vespa dieses Landes führt. Währenddessen träumen Touristen in
aller Welt von ebendiesem italienischen Albtraum.
Der Sommer ist so
etwas wie alljährliche Flitterwochen in einer ansonsten
unglücklichen Ehe. Wenn man nicht länger als einen Sommer mit
Italienern zusammengelebt hat, kennt man nur ihre Silhouetten. Doch
bei näherem Hinsehen entdeckt man so manch unangenehme
Überraschung. Und plötzlich ist die übersprudelnde Begeisterung
verpufft. Nicht einmal das Eis schmeckt mehr.
Nur wer länger
bleibt, stellt fest, dass »das süße Leben« auch ganz schön bitter
schmecken kann. Ich war in Italien am glücklichsten, als ich dort
noch Tourist war. Ich genoss es so lange, die Nachrichten zu sehen,
bis ich begriff, was dort gesagt wurde. Die sexy Ansagerin schien
mehr damit beschäftigt zu sein, sich in Pose zu setzen und ihre
Frisur in Form zu bringen, als schlechte Nachrichten zu verlesen.
Aber je mehr Italienisch ich konnte, desto klarer wurde mir, dass
sie mir erzählte, was nicht in den Reiseführern steht: Nämlich dass
allein an diesem Wochenende fünfundsiebzig Menschen im
Straßenverkehr gestorben waren. Dass Italiens vierundfünfzigste
Regierung seit dem Zweiten Weltkrieg in der Werbepause aufgelöst
worden war. Dass wieder einmal ein Junge in Neapel umgebracht
worden war, weil er seine Vespa gegen Diebe verteidigt hatte. Und
dass die Mafia erneut gemordet hatte – sei es nun die
sizilianische, die kalabresische oder die neapolitanische. Dass
Fußballspiele manipuliert, Richter bestochen,
Universitätsabschlüsse verkauft worden waren und man den
Premierminister zum x-ten Mal der Korruption angeklagt hatte. Und
so weiter und so fort – einem wurde ganz schwindlig
davon.
In Italien ist das
Wort »Regierung« nur ein anderes Wort für »Korruption«. Das ist so
wie mit Eiscreme und Sommer – beides gehört zusammen. Deshalb hat
die Bevölkerung genauso viel Respekt vor ihren Politikern wie die
Politiker vor der Bevölkerung haben. Es herrscht nichts als
gegenseitige Verachtung, und einer drückt beim anderen ein Auge zu.
Daniela interessiert sich nur dann für Politik, wenn sie einen Tag
frei bekommt, weil wieder einmal die Regierung zusammengebrochen
ist und ihre Schule als Wahllokal benutzt wird, um eine neue zu
wählen.
Ihre
Gleichgültigkeit in politischen Dingen mag unverantwortlich
klingen. Aber wenn man so oft an die Wahlurne muss wie aufs Klo,
nur um Abgeordnete zu wählen, die beschuldigt werden, Mörder zu
sein, mit der Mafia zusammenzuarbeiten und jedes Gesetz zu
missachten, das sie eigentlich verteidigen sollten, erscheint einem
dieser Zynismus gerechtfertigt und ist allenfalls eine Art
Selbstschutz.
Doch jetzt kommt das
Paradox: Nur, indem sie Italiens Unvollkommenheiten ignorierten,
konnten die Italiener ihr Leben vervollkommnen. Indem sie über die
Schwächen ihrer Nation hinwegsehen, finden sie ihre Stärke – den
Eskapismus, einen fröhlichen Eskapismus, der alles Elend Lügen zu
strafen scheint. Der Film Das Leben ist
schön verwandelt den Holocaust in ein Märchen. Benigni tanzt
in seinen Tod und spielt bei dem Versuch, seine Lieben aus einem
schonungslosen statt schönen Leben zu erretten, den Narren. Sein
gezwungenes Lächeln maskiert ein tragisches Schicksal. Somit ist er
die Verkörperung von Barzinis Behauptung, dass es noch nie einen
Menschenschlag gegeben habe, der so elend und verzweifelt sei wie
diese fröhlichen Italiener.
Einer der führenden
Gesellschaftskommentatoren Italiens, Beppe Severgnini, führt die
italienische Fähigkeit, jeden Skandal zu ignorieren, auf ein
Konzept namens The Terrazzo Law zurück.
»Wir können einen noch so furchtbaren Tag gehabt haben, weil uns
vielleicht jemand gesagt hat, dass wir höhere Steuern zahlen
müssen, weil wieder irgendein Regierungsmitglied mit ein paar
Milliarden Lire verschwunden ist, aber wenn wir dann abends mit
unseren Freunden al fresco essen,
vielleicht auf einem terrazzo unter
einem sternenklaren Himmel, verfliegt unsere Bitterkeit sofort. Das
ist das Terrazzo Law. Wenn wir in
Italien englisches Wetter hätten, hätten unsere Politiker schon
längst ein schlimmes Ende genommen.«
Eine Fernsehsendung
zeigte einmal sehr anschaulich, wie blind die Italiener ernsten
Themen gegenüber sind, und zwar noch drastischer als Severgnini.
Der apulische Regionalsender filmte eine nackte Frau, die neben
einem Journalisten stand, der von einem Pult aus laut etwas
vortrug. Eine vollkommen sexistische Szene, wobei ich mir ziemlich
sicher bin, dass ich der Einzige in ganz Italien war, dem das
auffiel.
»Die
Arbeitslosenquote in Apulien ist dramatisch gestiegen. Macht Ihnen
das was aus? Die staatliche Krankenhausfinanzierung wurde im
letzten halben Jahr drastisch gekürzt. Macht Ihnen das Sorgen? Die
EU hat neue Gesetze verabschiedet, die den Export apulischer
Spezialitäten erheblich erschweren. Das kann uns viele Jobs kosten.
Hört irgendjemand zu? Nein, natürlich nicht!« Er hatte angefangen
zu schreien. »Sie sind alle viel zu sehr damit beschäftigt, auf
ihre Titten zu starren, als sich mit den Problemen in Ihrer Region
zu beschäftigen. Und selbst diejenigen, die Macht haben und etwas
dagegen unternehmen könnten, starren ebenfalls hin. Deshalb muss
ich Sie heute Abend alle erschießen. Weil Sie nicht ein Wort von
dem gehört haben, was ich gerade gesagt habe!«
Der einzige
Unterschied zwischen dieser Regionalsendung und den meisten
nationalen Sendungen war der Mann mit dem politischen Gewissen,
denn Brüste werden so ziemlich überall gezeigt. Das italienische
Fernsehen stimuliert die Menschen, statt sie zu informieren.
Endlose Varietéshows zeigen mehr oder weniger nackte Nymphchen, die
tanzen, in heißen Wannen miteinander ringen und sich weit vor- und
zurückbeugen, um das Publikum zu unterhalten. Und wenn Frauen
dezent gekleidet sind, filmen ihnen auf dem Boden platzierte
Kameras unter den Rock, während andere, die unter der Decke
angebracht sind, in ihren Ausschnitt linsen. Alles ist erlaubt,
Hauptsache, der banale Alltag der Zuschauer wird aufgelockert.
Hauptsache, das ganze Theater hat nichts mit dem wirklichen Leben
zu tun. Hauptsache, die niederen Instinkte dominieren alle höheren
Fähigkeiten. Politiker sind längst nicht so wichtig wie
Poly-Titten, wie eine italienische Parlamentsabgeordnete bewies.
Cicciolina stellte ihre Reize so lange zur Schau, bis sie ins
Unterhaus gewählt wurde, wo sie anbot, das Land barbusig zu
regieren. Aber die falsche Blondine mit den echten Brüsten hielt
sich nicht lange, da ihre Politik nie über ihren Bluseninhalt
hinausging. Trotzdem hat sie es so weit geschafft. Es ist schwer
vorstellbar, dass ihr das auch in anderen Ländern gelungen
wäre.
Aber die meisten
Länder nehmen sich für den Geschmack der Italiener viel zu ernst.
Die Erfinder des Humanismus sind allen gegenüber misstrauisch, die
nach Perfektion statt nach Pläsier streben. Sie bemessen den Wert
einer Nation eher an der Qualität ihrer Speisen und Getränke als an
der Qualität der Post oder an den Wartelisten fürs Krankenhaus.
Danielas Welt besaß einfach andere Prioritäten als meine. Ich hatte
ihre für ihren laxen Umgang mit Gesetzen kritisiert und meine für
ihre Effizienz gerühmt. Aber nach einem Jahr in Italien fühlte ich
mich bei meiner Rückkehr nach England wie jemand, der einen
Kindermädchenstaat betritt. Hier gab es viel zu viele Regeln: Rasen
betreten verboten, Vögel füttern verboten, Handys verboten,
Fußballspielen verboten. Überall, wo ich hinsah, sagte man mir, was
ich tun oder lassen sollte. Ein zweistündiger Flug hatte mich von
der Anarchie mitten in die Tyrannei gebracht.
Im englischen
Fernsehen gab es keine nackten Brüste, aber dafür erpresserische
Einspieler, die zeigten, was passiert, wenn man seine
Rundfunkgebühren oder seine Kfz-Steuer nicht bezahlt. Da sind mir
die Brüste deutlich lieber. Auf einer englischen Toilette verbot
mir ein Schild, Papierhandtücher das Klo hinunterzuspülen. In einer
öffentlichen Toilette in Italien gibt es weder Schilder noch
Papierhandtücher. Wenn in England ein nackter Fan über den Rasen
läuft, sehen die Kameras weg und zeigen Moderatoren, die über das
Wetter sprechen. In Italien gehört solch unzensiertes Bildmaterial
zu den absoluten Highlights. Wenn er im Stau steht, öffnet der
italienische Straßenbahnfahrer die Türen, um frische Luft
hereinzulassen. Der englische Busfahrer ist per Gesetz dazu
verpflichtet, die Türen zu zu lassen, damit keine Fahrgäste
aussteigen und überfahren werden können. Genau das waren die
Unterschiede zwischen meiner und Danielas Heimat: Überlass die
Leute sich selbst oder kontrolliere jeden ihrer
Handgriffe.
Solange ich mir ein
Land mit Moral wünschte, war ich in Italien unglücklich. Aber
sobald ich anfing, The Terrazzo Law zu
respektieren, störte mich die allgemeine Respektlosigkeit schon
viel weniger. Italiens Untugenden sind eben zugleich seine
Tugenden. Das Land bietet einem Zuflucht vor dem Perfektionismus
anderer Länder und besitzt dadurch eine ganz eigene Perfektion:
Privates Pläsier geht über Fortschritt für alle. Für manche ist das
ein Zeichen des Scheiterns, aber für Italiener ist es ein Zeichen
des Erfolgs. Da ich diese egozentrische Existenz zuvor heftig
verdammt hatte, konnte ich sie jetzt schlecht befürworten. Doch
genau das zeigte mir nur, dass ich weitaus italienischer geworden
war als angenommen.
Italien befriedigte
meine Liebe zum Absurden. Nichts ändert sich, und doch ist das
Leben voller Überraschungen. Die Halbinsel ist nicht so, wie sie
aussieht. Sie sieht aus wie ein Stiefel, ist aber eigentlich eine
Bühne, auf der sich Schauspieler tummeln, die sich weigern, einem
bestimmten Skript zu folgen. Ihr Improvisationstheater ist eine Art
Zirkus: lustig, gefährlich, chaotisch, erotisch. Das Leben ist eine
Show, in der nichts ist, was es scheint oder was es sein sollte.
Italien ist kein Land, in dem man leben sollte, wenn man sehen
will, was im Fernsehprogramm steht. Und wenn Straßenschilder
verlässlich Auskunft geben sollen, wird man sich dort auch nie
heimisch fühlen. Wer dagegen Lust hat, sich zu verlieren, landet
irgendwann unweigerlich in diesem merkwürdigen Land.
Im Vergleich zu
anderen entwickelten Nationen sind die Italiener Nonkonformisten.
Sie finden ihre köstlichen Gerichte wichtiger als Geld, Sex
wichtiger als Aktienkurse und lassen lieber ihre Beziehungen
spielen, damit das Konto am Ende ausgeglichen ist. Diese
Prioritäten haben dem Sorgenkind Italien so etwas wie zärtliches
Mitgefühl vom Rest der Welt eingetragen. Gleichzeitig ist es auf
internationaler Ebene eine Witzfigur, über die man sich lustig
macht wegen ihrer Unfähigkeit, Krieg zu führen, anstatt dass man
sie für ihre Friedensliebe bewundert. Als das Land die Bedrohung
durch das Jahr-2000-Problem – jenes Computerproblem zur
Jahrtausendwende, das angeblich die ganze Welt lahmlegen sollte –
komplett ignorierte, wurde es heftig kritisiert. Die neunmalklugen
Länder, die ein Vermögen dafür ausgegeben haben, sich auf die
eingebildete Krise vorzubereiten, haben niemals zugegeben, dass
Italiens mangelndes Interesse vielleicht intuitiv richtig statt
ignorant gewesen ist. Aber ein Land, das Regeln ignorieren und
trotzdem zur fünftgrößten Industrienation aufsteigen kann, muss
auch irgendetwas richtig machen.
Italiener finden die
Vollkommenheit weniger interessant als die Unvollkommenheit und
stellen überschäumende Lebensfreude über Effizienz. Danielas
Vorstellung von der Hölle ist das Paradies. Wie die meisten
Italiener glaubt sie an die Ordnung hinter der Unordnung und an die
Stille mitten im Chaos. Was sie an mir, dem Perfektionisten, fand,
blieb mir ein Rätsel. Ich beschwerte mich oft über den Lärm vor der
Wohnung, über heulende Motoren und quietschende Bremsen. Aber
Daniela hörte nichts anderes als das Leben. Stille, versicherte sie
mir, war die Begleitmusik des Todes.
Das Leben in Italien
stellt einen vor die Wahl: Entweder man toleriert »das Bittere«, um
»das Süße« zu genießen, oder man kehrt in eine ordnungs- und
effizienzverliebte Welt zurück, wo es weniger Tragödien, aber auch
weniger Komödien gibt. Mir fiel diese Wahl schwer, denn Italien zog
mich an und stieß mich gleichzeitig ab. Sein Reiz wurde von seinen
Fehlern überschattet, doch gleichzeitig machten seine Fehler den
Reiz aus. Wer Italien liebt, zählt zu seinen heftigsten Kritikern,
und wer es hasst, zu seinen erbittertsten Verteidigern. Bill Bryson
behauptete, italienverliebt zu sein – und war im Nu wieder weg,
während sein amerikanischer Freund durchaus kritisch gegenüber
einem Land eingestellt war, das er wahrscheinlich nie mehr
verlassen würde. Und ich steckte irgendwo dazwischen. Meine
Hassliebe zu Italien führte dazu, dass ich es kaum erwarten konnte,
von dort weg- und wieder zurückzukommen.
Nachdem ich mir eine
ganze Nacht damit um die Ohren geschlagen hatte, zu überlegen, ob
ich mit einer Frau leben wollte, ohne die ich anscheinend nicht
leben konnte, schlief ich im Morgengrauen endlich ein, einen
schwarzen Slip über dem Kopf. Das war der beste Ersatz für eine
serranda, den ich in meinem Koffer
finden konnte. Jetzt brauchte ich nur noch einen echt italienischen
Kaffee und würde mich fast fühlen – wie zu Hause.
Weil ich es kaum
erwarten konnte, ihre Stimme zu hören, rief ich Daniela am nächsten
Morgen sofort an.
»Pronto.«
Ich hatte ihre
Mutter am Apparat.
»Ciao Valeria. Sono Chris. C’è
Daniela?«
»Nein, sie ist mit
Concetta an den Strand gegangen. Es ist ein schöner Tag. Kein
scirocco.«
»Verstehe. Ich ruf
später noch mal an.«
Aber Valeria war zum
Schwatzen aufgelegt.
»Wie ist dein
Urlaub, Crris?«
»Schrecklich. Alles
hat sich verändert. Alle haben sich verändert.«
Valeria
lachte.
»Du hast dich
verändert. Komm zurück in unser belpaese. Du bist italienischer als meine Tochter.
Oh, und bring was von diesem wiederablösbaren Klebstoff mit … wie
heißt der noch gleich? … Ach ja, Blu-Tack. Daniela hat mir davon
erzählt. Klingt nach einem fantastischen Zeug.«
»Der Blu-Tack ist
jetzt weiß, Valeria. Er wird keine Flecken an deine weißen Wände
machen.«
»Umso besser. Bring
welchen mit.«
Valeria hatte so
eine Art, schwierige Entscheidungen ganz leicht aussehen zu
lassen.
Nach gerade mal
vierundzwanzig Stunden in England flog ich noch am selben
Nachmittag zurück nach Italien. James und Jenny hielten mich für
verrückt – aber wer will sich schon Filme im verregneten Sussex
ansehen, wenn er im Mittelmeer baden und sich in der Sonne Andranos
aalen kann? Der Sommer war nach Italien zurückgekehrt. Genauso wie
die Touristen auf der Suche nach la dolce
vita. Genauso wie ich, der ich wider besseres Wissen erneut
danach Ausschau hielt.