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Die Anzeige
Zwei Kilometer von
Andrano entfernt liegt an einem unausgeschilderten Weg, wo sich die
Füchse und ziemlich dicke Mäuse gute Nacht sagen, ein Restaurant
namens Pietralata. Seine Tische stehen unter dreihundert Jahre
alten Olivenbäumen. Nach einem faulen Tag am Meer gibt es nur
wenige so simple und preiswerte Vergnügungen wie ein Glas Wein,
eine Partie Tischfußball und Pizza unter den Sternen. Pietralata
ist das inoffizielle Italien hoch vier: ein nettes Gespräch, ein
Satz Spielkarten, Artischockenherzen und Mondlicht.
Nachdem wir schon
viele Sommerabende an den wackligen Tischen von Pietralata
verbracht hatten, erschien uns das lässige Pizzalokal als der beste
Ort, um uns von Danielas Freunden und Kollegen zu verabschieden.
Und wie immer hatten wir einen herrlichen Abend, bis die Rechnung
kam und Daniela feststellte, dass ihre Handtasche verschwunden war.
Normalerweise hätte ich gezahlt, nur dummerweise hatte ich mir
angewöhnt, meinen Geldbeutel zu Hause zu lassen. Dermaßen triviale
Gegenstände gehörten zu dem durchorganisierten Leben, das ich vor
mehreren Monaten hinter mir gelassen hatte. Ich war zu einem Mann
geworden, der sich aushalten ließ und weder einen eigenen
Wohnungsschlüssel besaß noch mit seinen Taschen etwas anderes
anzufangen wusste, als die eigenen gebräunten Hände
hineinzustecken. Zum Glück kannte Daniela die Besitzer und konnte
ein andermal zahlen.
Am nächsten Morgen
lag Danielas Handtasche vor unserer Tür. Nur das Geld in ihrer
Geldbörse fehlte – vielleicht als Gebühr für die Ablieferung zu
Hause. Alles andere war noch da: das Handy, die Kreditkarten, sogar
ein Ring, der zumindest teuer aussah. Ich hatte ihn ihr geschenkt
und war fast beleidigt, dass die Diebe ihn nicht gestohlen
hatten.
Daniela war so
dankbar für die Rückgabe ihrer Habseligkeiten, dass sie schon drauf
und dran war, das Geld abzuschreiben. Jetzt bestand ihr Problem nur
noch darin, dass sie ihre Kreditkarten gesperrt hatte. Als sie ihre
Bank anrief, um sie darüber zu informieren, dass es sich die Diebe
anders überlegt hätten, riet man ihr, den vorübergehenden Diebstahl
innerhalb von achtundvierzig Stunden bei den carabinieri anzuzeigen. Denn nur dann würde sie das
Geld, das eventuell abgebucht worden sei, von der Versicherung der
Bank zurückbekommen. Klingt eigentlich simpel, oder? Doch nun
traten die carabinieri auf den Plan
…
Italiens
paramilitärische Truppe, über die ständig Witze gemacht wird, ist
berühmt dafür, zwölf Mann zu benötigen, um eine Glühbirne
auszuwechseln. Oder dafür, den Hinterausgang einer Bank zu
bewachen, während die Diebe durch den Haupteingang entkommen. Die
unbeholfenen Uniformträger gelten gern als gut gekleidete
Dummköpfe, die so inkompetent, faul und unterbelichtet sind wie die
Halbinsel, die sie patrouillieren. Wenn die carabinieri am Tatort eintreffen, gehen viele Opfer
davon aus, dass sich ihre Situation noch
verschlimmert.
Die Kirchturmuhr
schlug sieben, als wir das Polizeirevier von Loritano erreichten.
Sie ließ die Heiterkeit von Andranos campana vermissen, wahrscheinlich infolge von mehr
modernem Metall, wie Daniela glaubte. Um nicht Schlange stehen zu
müssen, hatten wir während der Siesta aufs Revier gehen wollen.
Daniela fing langsam an, sich meiner Denkweise anzuschließen. Aber
der Polizeibeamte, der ans Telefon ging, als wir anriefen, um uns
zu erkundigen, ob das Revier auch besetzt sei (eine Maßnahme, die
sogar bei der Polizei nötig wird), sagte, der Chef müsse die
Diebstahlsanzeige unterzeichnen und sei nicht vor sieben Uhr
zurück. Um nicht noch einmal herkommen zu müssen, könnten wir
genauso gut bis dann warten, so seine versteckte Botschaft. Die
Italiener sind unfair zu den carabinieri. Die Denke dieses Beamten schien
hocheffizient zu sein.
Anders als die
weißen Häuser, zwischen denen es stand, war das Revier ein wenig
von der Straße zurückgesetzt. Sein Eingang wurde durch eine
Schranke blockiert. Daniela klingelte zwei Mal, bevor ein Beamter
die Tür öffnete und sich in die langsam kühler werdende Abendluft
hinauslehnte.
»Si?«
»Wir müssen einen
Diebstahl anzeigen.«
Die Schranke ging
hoch, und wir betraten das verwitterte Gebäude. Der carabiniere war allein und reckte sich, als ob wir
ihn geweckt hätten.
Die gesamte
Möblierung des spartanischen Warteraums bestand aus vier
Metallstühlen. Die einzigen Farbtupfer in diesem trostlosen,
langweiligen Raum waren die roten Streifen an den schwarzen
Hosenbeinen des Beamten (damit er die Hose nicht mit der Jacke
verwechselt, wie man in Italien sagt) sowie Fotos von tapferen
Beamten, die Heldentaten im Kampf gegen das Verbrechen
vollbrachten: Sie kletterten auf Berge, seilten sich aus
Hubschraubern ab und klammerten sich an Schlitten, die von Huskys
gezogen wurden. Der glatzköpfige, dickbäuchige Polizist, der uns in
sein Büro geleitete, hatte jedoch keinerlei Ähnlichkeit mit jenen
athletischen jungen Männern, die für die Kamera posierten, während
sie Reißleinen zogen.
Daniela erklärte,
sie habe vorhin angerufen und sei gekommen, um den vorübergehenden
Diebstahl ihrer Handtasche anzuzeigen. Sie erinnerte den Beamten
auch daran, dass er ihr geraten hatte, um sieben zu kommen, weil
dann auch der Chef da wäre. Daraufhin erfuhr sie, dass der Chef
nicht da war und sie am nächsten Tag wiederkommen müsse. Der Mann
spürte unsere Verärgerung und bot immerhin an, die Anzeige
aufzunehmen, damit sie das heutige Datum trüge. Dann könnte sie der
Chef morgen, oder wann immer er geruhte, seinen Dienst anzutreten,
einfach unterschreiben.
Ein Kruzifix war der
einzige Schmuckgegenstand im Büro, dessen Möbel aus einem
Grundschulklassenzimmer zu stammen schienen. In den Schreibtisch
gekratzt waren Worte wie Forza
Juventus! Die Fußballmannschaft von Lecce erzielte scheinbar
keine Ergebnisse, die die Beschädigung von Möbeln gerechtfertigt
hätten. Ein Ventilator pustete Papiere von einem Tisch in der Ecke.
Computer gab es keine, und das übliche graue Telefon unterschied
sich von denen in anderen Büros nur durch ein rotes Lämpchen über
der Wählscheibe. Metallene Bücherregale bogen sich unter vergilbten
Dokumenten und eselsohrigen Akten, die mit Bändchen verschlossen
waren. So alt und verstaubt wie das Büro war, schien es das heutige
Datum auf dem Formular beinahe Lügen zu strafen.
Der carabiniere zündete sich eine Zigarette an und
holte ein Formular aus seiner obersten Schublade. Zwischen das
Formular und ein weißes Blatt legte er ein zerknittertes Blatt
Kohlepapier, bevor er alles in eine antike Schreibmaschine spannte.
Eine Olivetti natürlich. Dem stark mitgenommenen Ding fehlte die
Taste für die 5, und das freiliegende Metallstück sah nicht so aus,
als wolle man es gern berühren. Der Buchstabe T war mit Filzstift
auf eine graue Ersatztaste geschrieben worden, während die
Originaltasten einst schwarz gewesen waren.
Der Beamte benutzte
nur seinen Zeigefinger, um Danielas persönliche Daten einzutippen,
die er von ihrem Führerschein abschrieb. Nach mehrminütigem,
gewissenhaftem Tippen, wozu auch die Suche nach einem geeigneten
Gegenstand gehörte, mit dem man die gefährliche 5er-Taste drücken
konnte – Daniela wohnte in der Hausnummer 15 -, gab er ihr den
Führerschein wieder und lehnte sich in seinem Stuhl
zurück.
»Allora«, sagte er und sog an seiner Zigarette.
»Wann ist das passiert, signora?«
»Gegen halb zehn«,
sagte Daniela.
Bei dem Versuch, 22
Uhr 30 zu tippen, drückte der Beamte die 3er-Taste, aber der
Metallarm bewegte sich nicht. Genervt drückte er erneut darauf,
aber die Taste war anscheinend blockiert. Das schien ihm peinlich
zu sein, und er zögerte.
Ȁh, es tut mir
leid, aber die 3 funktioniert nicht. Können wir einfach 10 Uhr 40
daraus machen?«
Stirnrunzelnd sahen
Daniela und ich uns an.
»Ich denke schon«,
entgegnete Daniela.
»Aber nicht viel
später«, witzelte ich auf Englisch, »das Restaurant schließt um
elf.«
»Woher kommt Ihr
Freund, signora?«
»Aus
Australien.«
Er sah mich
an.
»Australien? Was zum
Teufel machen Sie dann hier?«
Der Rest ist
bekannt.
Bevor er
Geschichtsfälschung betrieb, gab der carabiniere der 3 eine letzte Chance und drückte
diesmal ziemlich fest darauf. Der Metallarm schoss nach vorn wie
der einer Mausefalle, nur um gleich darauf am Papier festzukleben.
Der Beamte beugte sich vor, um den Arm zu lösen und an seinen
angestammten Platz zurückzuschicken. Froh, mit den Ziffern fertig
zu sein, schnippte er die Asche von seiner Zigarette und lehnte
sich erneut in seinem Stuhl zurück.
»So, wo waren wir
stehen geblieben, signora?«
»Im Pietralata in
Andrano. Sie kennen das Pizzalokal auf dem Land?«
»Si, si. Und dort haben Sie Ihre Handtasche
verloren?«
»Nein, die
Handtasche wurde mir dort gestohlen.«
»Gestohlen?« Er
wirkte überrascht. »Aber Sie haben mir doch erzählt, Sie hätten sie
verloren.«
»Nein, ich sagte,
sie sei mir gestohlen worden«, beharrte Daniela. »Das war das
Erste, was ich Ihnen am Telefon gesagt habe.«
»Aber wenn sie
gestohlen wurde, ist das etwas vollkommen anderes.« Er blickte auf
seine Schreibmaschine. »Wir brauchen ein anderes
Formular.«
»Allora?«, hakte Daniela nach. Sie behandelte ihn
wie einen ihrer Schüler in der Grundschule, und was seine
Schreibmaschinenkenntnisse betraf, gehörte er auch genau
dorthin.
Er drehte an der
Walze seiner Schreibmaschine, um das Blatt in seine aufgehaltene
Hand fallen zu lassen. Dann öffnete er eine andere Schublade, fand
ein anderes Formular, spannte es samt Kohlepapier und einem weißen
Blatt ein, und die Prozedur begann wieder von vorn. Ein
unangenehmes Schweigen entstand, während er das Formular ausfüllte,
bis er wieder vor dem vorherigen Problem stand und sich erneut
vorbeugte, um die 3 von 10 Uhr 30 zu tippen, allerdings ohne uns
diesmal dazu zu befragen. Am Ende jeder Zeile hielt er inne, um uns
das Geschriebene einschließlich Satzzeichen laut vorzulesen.
Gleichzeitig rieb er sich die Hände – das Inbild kreativer
Versenkung. Er schilderte den Vorfall sehr ausführlich, und Daniela
konnte ihr Lachen nur mit Mühe unterdrücken, als er die Diebe als
»ignori malfattori« bezeichnete, eine
literarische Wendung, mit denen er die Kleinkriminellen in den Rang
»unbekannter Übeltäter« erhob.
Zufrieden mit seiner
Einführung sah er zu Daniela auf, um weitere Recherchen für seinen
Roman anzustellen.
»Und welche Farbe
hatte die Handtasche?«
»Äh, schwarz«, sagte
Daniela zögernd und hielt die Protagonistin der Geschichte hoch.
»Es ist diese hier.«
Sein Blick schweifte
von links nach rechts. Er murmelte etwas Unhörbares. Er sah die
alte Olivetti an, und dann Daniela. Obwohl er ihren Anruf
entgegengenommen hatte, hatte er offensichtlich sämtliche Details
unseres nächtlichen Handtaschenabenteuers vergessen. Er zeigte auf
die Tasche, die sich laut seiner Meldung immer noch in den Händen
der »ignori malfattori« befand. Er
wirkte nervös und sagte das, was nun kam, nur höchst ungern: »Aber
das ist doch nicht gestohlen,
signora.«
Daniela hob eine
Hand, um den Mann zum Schweigen zu bringen und ihm weitere
Peinlichkeiten zu ersparen. Sie schwieg, holte tief Luft und
lächelte mir verstohlen zu. Dann fing sie noch einmal von vorn an
und erzählte die ganze Geschichte genauso langsam und umständlich,
wie der Beamte sie aufgeschrieben hatte. »Wie ich bereits am
Telefon erwähnte, wurde mir diese Handtasche« – sie hielt sie
erneut hoch – »letzte Nacht gestohlen und heute Morgen
zurückgegeben. Auf den Rat meiner Bank hin muss ich sie von zehn
Uhr dreißig bis um acht Uhr heute Morgen gestohlen melden. Denn nur
dann wird mir Geld ersetzt, falls die Diebe meine Kreditkarten
missbraucht haben, bevor sie mir die Tasche vor die Tür
legten.«
Beruhigt von ihren
klaren Angaben, spielte der carabiniere
seine erste richtige Karte in diesem Spiel aus.
»Warum fragen Sie
nicht einfach bei der Bank nach, ob überhaupt Geld abgehoben
wurde?«
»Die Bank weiß das
frühestens morgen Nachmittag. Deshalb hat man mir geraten, den
Diebstahl anzuzeigen, nur für alle Fälle.«
Der Beamte begriff,
sah aber keine Veranlassung mehr, diesen Roman ohne richtigen Plot
fortzusetzen.
»Aber dieses
Formular ist für gestohlenen Besitz gedacht. Sie haben Ihre
Handtasche allerdings wiederbekommen, und so kann ich sie wohl kaum
als gestohlen melden, oder?«
Für einen Glatzkopf
war er ein ziemlicher Haarspalter.
Ich überraschte alle
Beteiligten einschließlich mich selbst, indem ich in perfektem
Italienisch folgenden Vorschlag vorbrachte: »Können Sie nicht
schreiben, dass die Handtasche gestohlen und dann zurückgegeben
wurde?«
»Aber dieses
Formular ist für gestohlene Gegenstände gedacht, die vermisst
werden. Wenn ich es ausfülle, gilt die Tasche für uns nach wie vor
als vermisst.«
»Gibt es denn kein
Formular für Gegenstände, die gestohlen und dann zurückgegeben
werden?«, fragte Daniela.
»No, signora.«
Daniela überlegte
einen Moment. Wenn sie in zweiunddreißig Jahren in Süditalien eines
gelernt hatte, dann zu improvisieren.
»Was, wenn wir so
tun, als ob die Tasche nicht zurückgegeben wurde und immer noch
vermisst wird? Dann könnten wir das Formular doch
ausfüllen.«
Der carabiniere sah aus dem Fenster und strich über
seinen Alfalfa-Schnurrbart.
»Warum eigentlich
nicht?«, entgegnete er vorsichtig, so als spüre er irgendwie, dass
bestimmte Gründe dagegen sprachen, ohne zu wissen,
welche.
»Ah«, seufzte
Daniela. »Alleluia.«
Schon deutlich
weniger begeistert beugte sich der Beamte über die Olivetti. Als er
Daniela anschließend bat, alle Gegenstände aufzulisten, die in
ihrer Handtasche gewesen waren, entgegnete sie schlau, dass nur ihr
Geldbeutel darin gewesen wäre, um nicht noch mehr Verwirrung zu
stiften. Nach ein paar Minuten war die Anzeige beinahe komplett.
Der carabiniere las seine
Schlussfolgerung laut vor: »… hiermit melde ich den Diebstahl
innerhalb von achtundvierzig Stunden, damit mir die Bank den
Schaden ersetzen kann, falls Geld unter der
Versicherungspolicenummer …«
Er sah zu Daniela
auf, die ihre Augen geschlossen hatte.
»Wie lautet die
Versicherungspolicenummer der Bank?«, fragte er.
»Woher soll ich das
denn wissen?«, gab Daniela gereizt zurück. Vom Strand einmal
abgesehen, sah ich zum ersten Mal, wie sie rot wurde. »Das ist doch
Sache der Bank. Es geht hier nicht um eine Versicherungspolice
zwischen mir und der Bank. Das ist einfach nur eine
Sicherheitsgewährleistung der Bank für ihre
Kreditkartenkunden.«
»Aber ich brauche
die Nummer, sonst kann ich das hier nicht fertig
ausfüllen.«
»Warum haben Sie das
überhaupt hingeschrieben?«
»Mi scusi?«
»Diese Art Police
hat keine Nummer.«
»Das muss sie
aber.«
»Sie hat
keine.«
So kamen wir
eindeutig nicht weiter. Daniela und der carabiniere tauschten verzweifelte Blicke. Ich
legte meine Hand auf ihre Schulter, um sie zu beruhigen, während
ich krampfhaft nach einer Antwort suchte, die dieses verschlafene
Polizeirevier vertragen konnte.
Der carabiniere zündete sich eine neue Zigarette an,
knackte mit den Knöcheln und beäugte das Dokument. Als ich ihm so
beim Denken zusah, fiel mir die 3er-Taste wieder ein, die klemmte,
wenn man sie benutzte. Daniela wollte gerade etwas sagen, als er
plötzlich einen Einfall hatte. »Warum rufen Sie die Bank nicht
morgen früh an und fragen nach der Versicherungspolicenummer? Dann
können wir das Formular ausfüllen, wenn Sie wiederkommen, um mit
dem Chef zu sprechen.«
Ein absurder
Vorschlag, aber inzwischen hätte Daniela sogar einen Mord
gestanden, nur um der Qual endlich ein Ende zu machen. Sie war
schon drauf und dran, das Ganze bleiben zu lassen und den Dieben
lieber Geld zu schenken, als wegen derer, die dafür bezahlt wurden,
sie zu fangen, die Nerven zu verlieren.
Froh, hier wieder
wegzukommen, wurden wir in den Warteraum geführt, wo die Fotos der
tapferen Verbrechensbekämpfer immer noch an ihren rostigen Haken
baumelten. Davon, sich von einem Hubschrauber abzuseilen, konnte
dieser Sesselfurzer nur träumen. Ein Schleudersitz hätte besser zu
ihm gepasst. Jetzt begriff ich, warum die carabinieri Stoff für Witze aller Art liefern. Wenn
mich dieser nervenaufreibende Abend etwas gelehrt hatte, dann, gar
nicht erst in Schwierigkeiten zu geraten.
Der Beamte setzte
seine Mütze auf, die spaßeshalber lucerna genannt wird, weil sie aussieht wie die
Laterne eines Bergarbeiters. Seinen Prioritäten entsprechend griff
er zuerst nach seinen Zigaretten und dann nach dem Schlüsselbund,
bevor er das Revier abschloss und uns auf die Straße folgte. Als
wir mit Napoleon davonbrausten, fuhr er mit einem
Matchbox-Fiat-Panda in die andere Richtung.
»Wo, glaubst du,
fährt er jetzt hin?«, fragte ich Daniela.
»Wahrscheinlich
fahndet er nach meiner Handtasche«, sagte sie. »Laut seinem
Formular wird sie schließlich immer noch vermisst.«
Am nächsten Morgen
riefen wir Errico in der Bank an, in der Hoffnung, er könne uns
einen weiteren Weg aufs Revier ersparen. Laut seinem Computer war
kein Geld abgehoben worden, aber er wiederholte, dass sich das erst
nach 48 Stunden verlässlich sagen ließ, und riet uns, trotzdem
Anzeige zu erstatten. Als er hörte, dass die carabinieri die Versicherungspolicenummer wollten,
kicherte er und stellte die rhetorische Frage: »Ihr seid nach
Loritano gefahren, stimmt’s?« Er erzählte uns, wie Beamte dieses
Reviers einmal in seine Bank gestürmt waren, um einen Überfall zu
vereiteln, der allerdings in der Post stattfand. Er bestätigte uns,
dass die Versicherungspolice der Bank keine Nummer habe, und ließ
dem Beamten ausrichten, er solle doch Italien einen Gefallen tun
und zur berittenen Polizei gehen. Aber uns blieb nichts anderes
übrig, als wieder nach Loritano zu fahren.
Diesmal öffnete uns
ein kleiner Beamter mit blankgewienerten Schuhen. Im Büro stand ein
chicer neuer Laptop neben seinem uralten Vorgänger. Die beiden
Apparate waren genauso unterschiedlich wie die beiden Polizisten.
Wir atmeten erleichtert auf. Endlich hatten wir den Chef vor
uns.
Wieder einmal waren
wir die einzigen Besucher. Entweder gab es keinerlei Verbrechen in
dieser Gegend, oder die carabinieri
waren dermaßen unfähig, sie aufzuklären, dass sich keiner die Mühe
machte, sie überhaupt anzuzeigen. Daniela erklärte den Grund
unseres Besuchs, fasste die Geschehnisse des gestrigen Tages
zusammen und sagte, die Versicherungspolice habe erwartungsgemäß
keine Nummer. Nach einer längeren Suche nach unserem Formular, das
letztlich immer noch in der Schreibmaschine steckte, warf der
commandante einen Blick auf die Arbeit
seines Untergebenen und strich den letzten Absatz durch.
Anschließend unterschrieb Daniela die Erklärung, bevor der Chef
seine Initialen hinzufügte und sie mit einem Gummistempel
abstempelte.
»Das ist für Sie«,
sagte er und gab Daniela den Durchschlag.
Daniela dankte ihm
für seine Effizienz.
»Keine Ursache«,
sagte der Polizeichef. »Aber falls die gestohlene Ware wieder
auftaucht«, fügte er noch hinzu, »geben Sie uns bitte
Bescheid.«
Hätte Daniela
höflich zugestimmt, das Formular zusammengefaltet und fein
säuberlich in der gerade als gestohlen gemeldeten Handtasche
verstaut, wäre die Tortur beendet gewesen. Stattdessen machte sie
einen entscheidenden Fehler. Das war eines der seltenen Male, bei
denen ich ihr vorwarf, zu ehrlich zu sein.
»Aber die Tasche ist
bereits wieder aufgetaucht.«
»Mi scusi?«, fragte der verwirrte Polizeichef. »Sie
wurde zurückgegeben?«
»Si.«
»Aber hier steht
nicht, dass sie zurückgegeben wurde.« Er überflog das Dokument
erneut. »Warum haben Sie das nicht schon gestern Abend
gesagt?«
»Aber das habe ich
ja«, entgegnete Daniela. »Ich habe Ihrem Kollegen erzählt, dass die
Tasche am nächsten Morgen zurückgegeben wurde, aber er sagte, dann
könne er das Formular nicht ausfüllen. Also haben wir so getan, als
ob sie noch vermisst würde.«
Der Chef blinzelte
mehrmals.
»Wann, sagten Sie,
haben Sie gestern vorbeigeschaut?«
»Um
sieben.«
»Porca la miseria«, fluchte er leise und lächelte
mitfühlend, als ihm einfiel, wer da gerade Dienst gehabt hatte.
»Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, signori. Würden Sie mir netterweise die ganze
Geschichte erzählen?«
Daniela kam seiner
Aufforderung nach, und der Chef hörte aufmerksam zu. Dann las er
die ganze Erklärung noch einmal laut und deutlich vor: »Während ich
mit Freunden in einem Restaurant namens Pietralata unweit von
Andrano …« Er sah zu uns auf. »Cristo«,
sagte er lachend. »Hat Sie mein Kollege auch gefragt, was es zum
Abendessen gab?«
Zu unserer und
seiner großen Befriedigung knüllte der Chef die Anzeige zusammen
und warf sie in den Mülleimer. Auf einem neuen Formular, das mit
dem alten identisch war, tippte er eine kurze Erklärung, dass
Tasche, Geldbeutel und Kreditkarten für die Dauer von zwölf Stunden
aus unserem Besitz entwendet worden waren. Er bediente geschickt
die Olivetti, griff aber wie sein Kollege nach einem kleinen
Gegenstand, mit dem er Danielas heikle Adresse eintippte. Als er
die überarbeitete Version gerade fertig hatte, ertönte die Klingel
im Warteraum. Er tippte noch ein paar Buchstaben, bevor er sich
entschuldigte und aufstand.
Der Mann, dem er die
Tür öffnete, hatte einen wirren grauen Haarschopf, und seine Augen
funkelten nur so vor Zorn. Er trug Shorts, Sandalen und ein
Sommerhemd, das sich so sehr über seinem dicken Bauch spannte, dass
die Knöpfe jeden Moment abzuplatzen drohten.
»Mi dica«, sagte der Polizeichef – »Erzählen Sie« -,
aber er würde die Geschichte dieses Mannes zwangsläufig zu hören
bekommen, ob er nun wollte oder nicht.
»Ich muss jemanden
anzeigen«, sagte der Mann drohend und zog seine Augen zu schmalen
Schlitzen zusammen.
»Wen? Was ist
passiert? Stia calmo,
signore.«
»Meinen Nachbarn.
Ich muss meinen Nachbarn anzeigen.« Er sprach wie ein Roboter.
»Neben meinem Haus ist ein Garten. Vor zwei Monaten hat mein
Nachbar dort einen Hund angebunden, der Tag und Nacht bellt. Ich
habe zwei Monate lang kein Auge mehr zugetan. Meine Familie hat
zwei Monate lang kein Auge mehr zugetan. Sie müssen sofort
mitkommen und etwas wegen meines Nachbarn
unternehmen.«
Der Chef hob beide
Hände.
»Beruhigen Sie sich,
und hören Sie mir gut zu. Sie müssen mit Ihrem vigile reden. Ich kann mich da nicht
einmischen.«
»Das habe ich ja«,
sagte der Mann verzweifelt. »Mein Nachbar ist der vigile.« Der
Polizeichef hob die Brauen und der wütende Mann seine Stimme. »Sie
müssen mitkommen und irgendetwas unternehmen. Dem Hund kann ich
keinen Vorwurf machen, mein Nachbar ist das Problem. Und wenn Sie
nicht gleich mitkommen und etwas unternehmen,« – er ballte die
Faust, um seine Drohung zu unterstreichen – »bring ich ihn noch
heute um! Bestimmt! Ich meine es ernst. Ich werde ihn
umbringen!«
Seine Warnung hallte
in dem leeren Warteraum wider. Die Huskys beäugten ihn von einer
kühleren Klimazone aus.
»Calmo!«, beharrte der Polizeichef.
»Nein. Damit wir uns
richtig verstehen: Ich bringe ihn noch heute um!«
Zweifellos stieß er
diese Drohungen bereits seit zwei Monaten aus. Doch erst jetzt
fühlte er sich imstande, sie auch wirklich wahrzumachen. Das hatte
ihm solche Angst eingejagt, dass er zur Polizei gegangen war. So
melodramatisch das auch klang, aber auf seine Weise hatte er genau
das Richtige getan und sich der Obrigkeit übergeben, bevor er das
Verbrechen beging. Der commandante
begriff, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als irgendwie zu
intervenieren. Er schloss die Tür zum Revier mit seinem Fuß.
»Setzen Sie sich«, sagte er zu dem verzweifelten Eindringling. »Ich
kümmere mich gleich um Sie, sobald ich mit der signora fertig bin.«
Obwohl der gestrige
Wahnsinn Italiens Witze über die carabinieri nur bestätigt hatte – zumindest, was
bestimmte Beamte betrifft -, musste ich doch zugeben, dass sie es
auch nicht gerade leicht haben, was die Komplexität eines
durchschnittlichen italienischen Verbrechens bzw. die Komödie des
durchschnittlichen Italienerlebens anbelangt. Zu Hause abgegebene
Handtaschen verkomplizieren den simpelsten Diebstahl. Und jetzt
zwang ein Gesetzeshüter auch noch jemanden, zum Gesetzesbrecher zu
werden. Es fiel zwar nicht leicht, das Fiasko des vorherigen Tages
zu entschuldigen, aber für jede Geschichte über einen bescheuerten
carabiniere gibt es bestimmt auch einen
carabiniere mit einer Geschichte über
einen bescheuerten Bürger.
Der Chef füllte das
Formular geistesabwesend aus und dachte an den brodelnden Vulkan im
Nebenzimmer. Als er fertig war, unterschrieben er und Daniela
erneut – und zwar die dritte und letzte Version eines Dokuments,
das wir niemals brauchen würden, da die Diebe keinerlei Geld
abgehoben hatten. Nach dem, was wir durchgemacht hatten, um den
Diebstahl anzuzeigen, wünschte ich mir fast, sie hätten welches
abgehoben.
Wir dankten dem
Polizeichef und gingen an dem wütenden Besucher im Warteraum
vorbei. Er lief wie ein Tiger im Käfig auf und ab. Angesichts der
geplatzten Äderchen in seinen Augen erwartete den Chef eine
schwierige diplomatische Mission. Aber er war der Aufgabe
wenigstens gewachsen. Mich schauderte bei dem Gedanken, was wohl
passiert wäre, wenn der Mann um sieben Uhr des Vorabends von seiner
Wut überwältigt worden wäre. Nachdem er ihm erst geraten hätte,
seinen Nachbarn umzubringen, damit er sich leichter täte, das
richtige Formular zu finden, hätte der Untergebene bestimmt noch
die Geistesgegenwart besessen, dem Mörder zu raten, in der Stadt zu
bleiben – und sei es nur, um am nächsten Tag wiederzukommen, damit
das Formular vom Chef unterschrieben werden könne.