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Die Anzeige
 
Zwei Kilometer von Andrano entfernt liegt an einem unausgeschilderten Weg, wo sich die Füchse und ziemlich dicke Mäuse gute Nacht sagen, ein Restaurant namens Pietralata. Seine Tische stehen unter dreihundert Jahre alten Olivenbäumen. Nach einem faulen Tag am Meer gibt es nur wenige so simple und preiswerte Vergnügungen wie ein Glas Wein, eine Partie Tischfußball und Pizza unter den Sternen. Pietralata ist das inoffizielle Italien hoch vier: ein nettes Gespräch, ein Satz Spielkarten, Artischockenherzen und Mondlicht.
Nachdem wir schon viele Sommerabende an den wackligen Tischen von Pietralata verbracht hatten, erschien uns das lässige Pizzalokal als der beste Ort, um uns von Danielas Freunden und Kollegen zu verabschieden. Und wie immer hatten wir einen herrlichen Abend, bis die Rechnung kam und Daniela feststellte, dass ihre Handtasche verschwunden war. Normalerweise hätte ich gezahlt, nur dummerweise hatte ich mir angewöhnt, meinen Geldbeutel zu Hause zu lassen. Dermaßen triviale Gegenstände gehörten zu dem durchorganisierten Leben, das ich vor mehreren Monaten hinter mir gelassen hatte. Ich war zu einem Mann geworden, der sich aushalten ließ und weder einen eigenen Wohnungsschlüssel besaß noch mit seinen Taschen etwas anderes anzufangen wusste, als die eigenen gebräunten Hände hineinzustecken. Zum Glück kannte Daniela die Besitzer und konnte ein andermal zahlen.
Am nächsten Morgen lag Danielas Handtasche vor unserer Tür. Nur das Geld in ihrer Geldbörse fehlte – vielleicht als Gebühr für die Ablieferung zu Hause. Alles andere war noch da: das Handy, die Kreditkarten, sogar ein Ring, der zumindest teuer aussah. Ich hatte ihn ihr geschenkt und war fast beleidigt, dass die Diebe ihn nicht gestohlen hatten.
Daniela war so dankbar für die Rückgabe ihrer Habseligkeiten, dass sie schon drauf und dran war, das Geld abzuschreiben. Jetzt bestand ihr Problem nur noch darin, dass sie ihre Kreditkarten gesperrt hatte. Als sie ihre Bank anrief, um sie darüber zu informieren, dass es sich die Diebe anders überlegt hätten, riet man ihr, den vorübergehenden Diebstahl innerhalb von achtundvierzig Stunden bei den carabinieri anzuzeigen. Denn nur dann würde sie das Geld, das eventuell abgebucht worden sei, von der Versicherung der Bank zurückbekommen. Klingt eigentlich simpel, oder? Doch nun traten die carabinieri auf den Plan …
Italiens paramilitärische Truppe, über die ständig Witze gemacht wird, ist berühmt dafür, zwölf Mann zu benötigen, um eine Glühbirne auszuwechseln. Oder dafür, den Hinterausgang einer Bank zu bewachen, während die Diebe durch den Haupteingang entkommen. Die unbeholfenen Uniformträger gelten gern als gut gekleidete Dummköpfe, die so inkompetent, faul und unterbelichtet sind wie die Halbinsel, die sie patrouillieren. Wenn die carabinieri am Tatort eintreffen, gehen viele Opfer davon aus, dass sich ihre Situation noch verschlimmert.
Die Kirchturmuhr schlug sieben, als wir das Polizeirevier von Loritano erreichten. Sie ließ die Heiterkeit von Andranos campana vermissen, wahrscheinlich infolge von mehr modernem Metall, wie Daniela glaubte. Um nicht Schlange stehen zu müssen, hatten wir während der Siesta aufs Revier gehen wollen. Daniela fing langsam an, sich meiner Denkweise anzuschließen. Aber der Polizeibeamte, der ans Telefon ging, als wir anriefen, um uns zu erkundigen, ob das Revier auch besetzt sei (eine Maßnahme, die sogar bei der Polizei nötig wird), sagte, der Chef müsse die Diebstahlsanzeige unterzeichnen und sei nicht vor sieben Uhr zurück. Um nicht noch einmal herkommen zu müssen, könnten wir genauso gut bis dann warten, so seine versteckte Botschaft. Die Italiener sind unfair zu den carabinieri. Die Denke dieses Beamten schien hocheffizient zu sein.
Anders als die weißen Häuser, zwischen denen es stand, war das Revier ein wenig von der Straße zurückgesetzt. Sein Eingang wurde durch eine Schranke blockiert. Daniela klingelte zwei Mal, bevor ein Beamter die Tür öffnete und sich in die langsam kühler werdende Abendluft hinauslehnte.
»Si?«
»Wir müssen einen Diebstahl anzeigen.«
Die Schranke ging hoch, und wir betraten das verwitterte Gebäude. Der carabiniere war allein und reckte sich, als ob wir ihn geweckt hätten.
Die gesamte Möblierung des spartanischen Warteraums bestand aus vier Metallstühlen. Die einzigen Farbtupfer in diesem trostlosen, langweiligen Raum waren die roten Streifen an den schwarzen Hosenbeinen des Beamten (damit er die Hose nicht mit der Jacke verwechselt, wie man in Italien sagt) sowie Fotos von tapferen Beamten, die Heldentaten im Kampf gegen das Verbrechen vollbrachten: Sie kletterten auf Berge, seilten sich aus Hubschraubern ab und klammerten sich an Schlitten, die von Huskys gezogen wurden. Der glatzköpfige, dickbäuchige Polizist, der uns in sein Büro geleitete, hatte jedoch keinerlei Ähnlichkeit mit jenen athletischen jungen Männern, die für die Kamera posierten, während sie Reißleinen zogen.
Daniela erklärte, sie habe vorhin angerufen und sei gekommen, um den vorübergehenden Diebstahl ihrer Handtasche anzuzeigen. Sie erinnerte den Beamten auch daran, dass er ihr geraten hatte, um sieben zu kommen, weil dann auch der Chef da wäre. Daraufhin erfuhr sie, dass der Chef nicht da war und sie am nächsten Tag wiederkommen müsse. Der Mann spürte unsere Verärgerung und bot immerhin an, die Anzeige aufzunehmen, damit sie das heutige Datum trüge. Dann könnte sie der Chef morgen, oder wann immer er geruhte, seinen Dienst anzutreten, einfach unterschreiben.
Ein Kruzifix war der einzige Schmuckgegenstand im Büro, dessen Möbel aus einem Grundschulklassenzimmer zu stammen schienen. In den Schreibtisch gekratzt waren Worte wie Forza Juventus! Die Fußballmannschaft von Lecce erzielte scheinbar keine Ergebnisse, die die Beschädigung von Möbeln gerechtfertigt hätten. Ein Ventilator pustete Papiere von einem Tisch in der Ecke. Computer gab es keine, und das übliche graue Telefon unterschied sich von denen in anderen Büros nur durch ein rotes Lämpchen über der Wählscheibe. Metallene Bücherregale bogen sich unter vergilbten Dokumenten und eselsohrigen Akten, die mit Bändchen verschlossen waren. So alt und verstaubt wie das Büro war, schien es das heutige Datum auf dem Formular beinahe Lügen zu strafen.
Der carabiniere zündete sich eine Zigarette an und holte ein Formular aus seiner obersten Schublade. Zwischen das Formular und ein weißes Blatt legte er ein zerknittertes Blatt Kohlepapier, bevor er alles in eine antike Schreibmaschine spannte. Eine Olivetti natürlich. Dem stark mitgenommenen Ding fehlte die Taste für die 5, und das freiliegende Metallstück sah nicht so aus, als wolle man es gern berühren. Der Buchstabe T war mit Filzstift auf eine graue Ersatztaste geschrieben worden, während die Originaltasten einst schwarz gewesen waren.
Der Beamte benutzte nur seinen Zeigefinger, um Danielas persönliche Daten einzutippen, die er von ihrem Führerschein abschrieb. Nach mehrminütigem, gewissenhaftem Tippen, wozu auch die Suche nach einem geeigneten Gegenstand gehörte, mit dem man die gefährliche 5er-Taste drücken konnte – Daniela wohnte in der Hausnummer 15 -, gab er ihr den Führerschein wieder und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
»Allora«, sagte er und sog an seiner Zigarette. »Wann ist das passiert, signora
»Gegen halb zehn«, sagte Daniela.
Bei dem Versuch, 22 Uhr 30 zu tippen, drückte der Beamte die 3er-Taste, aber der Metallarm bewegte sich nicht. Genervt drückte er erneut darauf, aber die Taste war anscheinend blockiert. Das schien ihm peinlich zu sein, und er zögerte.
»Äh, es tut mir leid, aber die 3 funktioniert nicht. Können wir einfach 10 Uhr 40 daraus machen?«
Stirnrunzelnd sahen Daniela und ich uns an.
»Ich denke schon«, entgegnete Daniela.
»Aber nicht viel später«, witzelte ich auf Englisch, »das Restaurant schließt um elf.«
»Woher kommt Ihr Freund, signora
»Aus Australien.«
Er sah mich an.
»Australien? Was zum Teufel machen Sie dann hier?«
Der Rest ist bekannt.
Bevor er Geschichtsfälschung betrieb, gab der carabiniere der 3 eine letzte Chance und drückte diesmal ziemlich fest darauf. Der Metallarm schoss nach vorn wie der einer Mausefalle, nur um gleich darauf am Papier festzukleben. Der Beamte beugte sich vor, um den Arm zu lösen und an seinen angestammten Platz zurückzuschicken. Froh, mit den Ziffern fertig zu sein, schnippte er die Asche von seiner Zigarette und lehnte sich erneut in seinem Stuhl zurück.
»So, wo waren wir stehen geblieben, signora
»Im Pietralata in Andrano. Sie kennen das Pizzalokal auf dem Land?«
»Si, si. Und dort haben Sie Ihre Handtasche verloren?«
»Nein, die Handtasche wurde mir dort gestohlen.«
»Gestohlen?« Er wirkte überrascht. »Aber Sie haben mir doch erzählt, Sie hätten sie verloren.«
»Nein, ich sagte, sie sei mir gestohlen worden«, beharrte Daniela. »Das war das Erste, was ich Ihnen am Telefon gesagt habe.«
»Aber wenn sie gestohlen wurde, ist das etwas vollkommen anderes.« Er blickte auf seine Schreibmaschine. »Wir brauchen ein anderes Formular.«
»Allora?«, hakte Daniela nach. Sie behandelte ihn wie einen ihrer Schüler in der Grundschule, und was seine Schreibmaschinenkenntnisse betraf, gehörte er auch genau dorthin.
Er drehte an der Walze seiner Schreibmaschine, um das Blatt in seine aufgehaltene Hand fallen zu lassen. Dann öffnete er eine andere Schublade, fand ein anderes Formular, spannte es samt Kohlepapier und einem weißen Blatt ein, und die Prozedur begann wieder von vorn. Ein unangenehmes Schweigen entstand, während er das Formular ausfüllte, bis er wieder vor dem vorherigen Problem stand und sich erneut vorbeugte, um die 3 von 10 Uhr 30 zu tippen, allerdings ohne uns diesmal dazu zu befragen. Am Ende jeder Zeile hielt er inne, um uns das Geschriebene einschließlich Satzzeichen laut vorzulesen. Gleichzeitig rieb er sich die Hände – das Inbild kreativer Versenkung. Er schilderte den Vorfall sehr ausführlich, und Daniela konnte ihr Lachen nur mit Mühe unterdrücken, als er die Diebe als »ignori malfattori« bezeichnete, eine literarische Wendung, mit denen er die Kleinkriminellen in den Rang »unbekannter Übeltäter« erhob.
Zufrieden mit seiner Einführung sah er zu Daniela auf, um weitere Recherchen für seinen Roman anzustellen.
»Und welche Farbe hatte die Handtasche?«
»Äh, schwarz«, sagte Daniela zögernd und hielt die Protagonistin der Geschichte hoch. »Es ist diese hier.«
Sein Blick schweifte von links nach rechts. Er murmelte etwas Unhörbares. Er sah die alte Olivetti an, und dann Daniela. Obwohl er ihren Anruf entgegengenommen hatte, hatte er offensichtlich sämtliche Details unseres nächtlichen Handtaschenabenteuers vergessen. Er zeigte auf die Tasche, die sich laut seiner Meldung immer noch in den Händen der »ignori malfattori« befand. Er wirkte nervös und sagte das, was nun kam, nur höchst ungern: »Aber das ist doch nicht gestohlen, signora
Daniela hob eine Hand, um den Mann zum Schweigen zu bringen und ihm weitere Peinlichkeiten zu ersparen. Sie schwieg, holte tief Luft und lächelte mir verstohlen zu. Dann fing sie noch einmal von vorn an und erzählte die ganze Geschichte genauso langsam und umständlich, wie der Beamte sie aufgeschrieben hatte. »Wie ich bereits am Telefon erwähnte, wurde mir diese Handtasche« – sie hielt sie erneut hoch – »letzte Nacht gestohlen und heute Morgen zurückgegeben. Auf den Rat meiner Bank hin muss ich sie von zehn Uhr dreißig bis um acht Uhr heute Morgen gestohlen melden. Denn nur dann wird mir Geld ersetzt, falls die Diebe meine Kreditkarten missbraucht haben, bevor sie mir die Tasche vor die Tür legten.«
Beruhigt von ihren klaren Angaben, spielte der carabiniere seine erste richtige Karte in diesem Spiel aus.
»Warum fragen Sie nicht einfach bei der Bank nach, ob überhaupt Geld abgehoben wurde?«
»Die Bank weiß das frühestens morgen Nachmittag. Deshalb hat man mir geraten, den Diebstahl anzuzeigen, nur für alle Fälle.«
Der Beamte begriff, sah aber keine Veranlassung mehr, diesen Roman ohne richtigen Plot fortzusetzen.
»Aber dieses Formular ist für gestohlenen Besitz gedacht. Sie haben Ihre Handtasche allerdings wiederbekommen, und so kann ich sie wohl kaum als gestohlen melden, oder?«
Für einen Glatzkopf war er ein ziemlicher Haarspalter.
Ich überraschte alle Beteiligten einschließlich mich selbst, indem ich in perfektem Italienisch folgenden Vorschlag vorbrachte: »Können Sie nicht schreiben, dass die Handtasche gestohlen und dann zurückgegeben wurde?«
»Aber dieses Formular ist für gestohlene Gegenstände gedacht, die vermisst werden. Wenn ich es ausfülle, gilt die Tasche für uns nach wie vor als vermisst.«
»Gibt es denn kein Formular für Gegenstände, die gestohlen und dann zurückgegeben werden?«, fragte Daniela.
»No, signora
Daniela überlegte einen Moment. Wenn sie in zweiunddreißig Jahren in Süditalien eines gelernt hatte, dann zu improvisieren.
»Was, wenn wir so tun, als ob die Tasche nicht zurückgegeben wurde und immer noch vermisst wird? Dann könnten wir das Formular doch ausfüllen.«
Der carabiniere sah aus dem Fenster und strich über seinen Alfalfa-Schnurrbart.
»Warum eigentlich nicht?«, entgegnete er vorsichtig, so als spüre er irgendwie, dass bestimmte Gründe dagegen sprachen, ohne zu wissen, welche.
»Ah«, seufzte Daniela. »Alleluia
Schon deutlich weniger begeistert beugte sich der Beamte über die Olivetti. Als er Daniela anschließend bat, alle Gegenstände aufzulisten, die in ihrer Handtasche gewesen waren, entgegnete sie schlau, dass nur ihr Geldbeutel darin gewesen wäre, um nicht noch mehr Verwirrung zu stiften. Nach ein paar Minuten war die Anzeige beinahe komplett. Der carabiniere las seine Schlussfolgerung laut vor: »… hiermit melde ich den Diebstahl innerhalb von achtundvierzig Stunden, damit mir die Bank den Schaden ersetzen kann, falls Geld unter der Versicherungspolicenummer …«
Er sah zu Daniela auf, die ihre Augen geschlossen hatte.
»Wie lautet die Versicherungspolicenummer der Bank?«, fragte er.
»Woher soll ich das denn wissen?«, gab Daniela gereizt zurück. Vom Strand einmal abgesehen, sah ich zum ersten Mal, wie sie rot wurde. »Das ist doch Sache der Bank. Es geht hier nicht um eine Versicherungspolice zwischen mir und der Bank. Das ist einfach nur eine Sicherheitsgewährleistung der Bank für ihre Kreditkartenkunden.«
»Aber ich brauche die Nummer, sonst kann ich das hier nicht fertig ausfüllen.«
»Warum haben Sie das überhaupt hingeschrieben?«
»Mi scusi
»Diese Art Police hat keine Nummer.«
»Das muss sie aber.«
»Sie hat keine.«
So kamen wir eindeutig nicht weiter. Daniela und der carabiniere tauschten verzweifelte Blicke. Ich legte meine Hand auf ihre Schulter, um sie zu beruhigen, während ich krampfhaft nach einer Antwort suchte, die dieses verschlafene Polizeirevier vertragen konnte.
Der carabiniere zündete sich eine neue Zigarette an, knackte mit den Knöcheln und beäugte das Dokument. Als ich ihm so beim Denken zusah, fiel mir die 3er-Taste wieder ein, die klemmte, wenn man sie benutzte. Daniela wollte gerade etwas sagen, als er plötzlich einen Einfall hatte. »Warum rufen Sie die Bank nicht morgen früh an und fragen nach der Versicherungspolicenummer? Dann können wir das Formular ausfüllen, wenn Sie wiederkommen, um mit dem Chef zu sprechen.«
Ein absurder Vorschlag, aber inzwischen hätte Daniela sogar einen Mord gestanden, nur um der Qual endlich ein Ende zu machen. Sie war schon drauf und dran, das Ganze bleiben zu lassen und den Dieben lieber Geld zu schenken, als wegen derer, die dafür bezahlt wurden, sie zu fangen, die Nerven zu verlieren.
Froh, hier wieder wegzukommen, wurden wir in den Warteraum geführt, wo die Fotos der tapferen Verbrechensbekämpfer immer noch an ihren rostigen Haken baumelten. Davon, sich von einem Hubschrauber abzuseilen, konnte dieser Sesselfurzer nur träumen. Ein Schleudersitz hätte besser zu ihm gepasst. Jetzt begriff ich, warum die carabinieri Stoff für Witze aller Art liefern. Wenn mich dieser nervenaufreibende Abend etwas gelehrt hatte, dann, gar nicht erst in Schwierigkeiten zu geraten.
Der Beamte setzte seine Mütze auf, die spaßeshalber lucerna genannt wird, weil sie aussieht wie die Laterne eines Bergarbeiters. Seinen Prioritäten entsprechend griff er zuerst nach seinen Zigaretten und dann nach dem Schlüsselbund, bevor er das Revier abschloss und uns auf die Straße folgte. Als wir mit Napoleon davonbrausten, fuhr er mit einem Matchbox-Fiat-Panda in die andere Richtung.
»Wo, glaubst du, fährt er jetzt hin?«, fragte ich Daniela.
»Wahrscheinlich fahndet er nach meiner Handtasche«, sagte sie. »Laut seinem Formular wird sie schließlich immer noch vermisst.«
 
Am nächsten Morgen riefen wir Errico in der Bank an, in der Hoffnung, er könne uns einen weiteren Weg aufs Revier ersparen. Laut seinem Computer war kein Geld abgehoben worden, aber er wiederholte, dass sich das erst nach 48 Stunden verlässlich sagen ließ, und riet uns, trotzdem Anzeige zu erstatten. Als er hörte, dass die carabinieri die Versicherungspolicenummer wollten, kicherte er und stellte die rhetorische Frage: »Ihr seid nach Loritano gefahren, stimmt’s?« Er erzählte uns, wie Beamte dieses Reviers einmal in seine Bank gestürmt waren, um einen Überfall zu vereiteln, der allerdings in der Post stattfand. Er bestätigte uns, dass die Versicherungspolice der Bank keine Nummer habe, und ließ dem Beamten ausrichten, er solle doch Italien einen Gefallen tun und zur berittenen Polizei gehen. Aber uns blieb nichts anderes übrig, als wieder nach Loritano zu fahren.
Diesmal öffnete uns ein kleiner Beamter mit blankgewienerten Schuhen. Im Büro stand ein chicer neuer Laptop neben seinem uralten Vorgänger. Die beiden Apparate waren genauso unterschiedlich wie die beiden Polizisten. Wir atmeten erleichtert auf. Endlich hatten wir den Chef vor uns.
Wieder einmal waren wir die einzigen Besucher. Entweder gab es keinerlei Verbrechen in dieser Gegend, oder die carabinieri waren dermaßen unfähig, sie aufzuklären, dass sich keiner die Mühe machte, sie überhaupt anzuzeigen. Daniela erklärte den Grund unseres Besuchs, fasste die Geschehnisse des gestrigen Tages zusammen und sagte, die Versicherungspolice habe erwartungsgemäß keine Nummer. Nach einer längeren Suche nach unserem Formular, das letztlich immer noch in der Schreibmaschine steckte, warf der commandante einen Blick auf die Arbeit seines Untergebenen und strich den letzten Absatz durch. Anschließend unterschrieb Daniela die Erklärung, bevor der Chef seine Initialen hinzufügte und sie mit einem Gummistempel abstempelte.
»Das ist für Sie«, sagte er und gab Daniela den Durchschlag.
Daniela dankte ihm für seine Effizienz.
»Keine Ursache«, sagte der Polizeichef. »Aber falls die gestohlene Ware wieder auftaucht«, fügte er noch hinzu, »geben Sie uns bitte Bescheid.«
Hätte Daniela höflich zugestimmt, das Formular zusammengefaltet und fein säuberlich in der gerade als gestohlen gemeldeten Handtasche verstaut, wäre die Tortur beendet gewesen. Stattdessen machte sie einen entscheidenden Fehler. Das war eines der seltenen Male, bei denen ich ihr vorwarf, zu ehrlich zu sein.
»Aber die Tasche ist bereits wieder aufgetaucht.«
»Mi scusi?«, fragte der verwirrte Polizeichef. »Sie wurde zurückgegeben?«
»Si
»Aber hier steht nicht, dass sie zurückgegeben wurde.« Er überflog das Dokument erneut. »Warum haben Sie das nicht schon gestern Abend gesagt?«
»Aber das habe ich ja«, entgegnete Daniela. »Ich habe Ihrem Kollegen erzählt, dass die Tasche am nächsten Morgen zurückgegeben wurde, aber er sagte, dann könne er das Formular nicht ausfüllen. Also haben wir so getan, als ob sie noch vermisst würde.«
Der Chef blinzelte mehrmals.
»Wann, sagten Sie, haben Sie gestern vorbeigeschaut?«
»Um sieben.«
»Porca la miseria«, fluchte er leise und lächelte mitfühlend, als ihm einfiel, wer da gerade Dienst gehabt hatte. »Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, signori. Würden Sie mir netterweise die ganze Geschichte erzählen?«
Daniela kam seiner Aufforderung nach, und der Chef hörte aufmerksam zu. Dann las er die ganze Erklärung noch einmal laut und deutlich vor: »Während ich mit Freunden in einem Restaurant namens Pietralata unweit von Andrano …« Er sah zu uns auf. »Cristo«, sagte er lachend. »Hat Sie mein Kollege auch gefragt, was es zum Abendessen gab?«
Zu unserer und seiner großen Befriedigung knüllte der Chef die Anzeige zusammen und warf sie in den Mülleimer. Auf einem neuen Formular, das mit dem alten identisch war, tippte er eine kurze Erklärung, dass Tasche, Geldbeutel und Kreditkarten für die Dauer von zwölf Stunden aus unserem Besitz entwendet worden waren. Er bediente geschickt die Olivetti, griff aber wie sein Kollege nach einem kleinen Gegenstand, mit dem er Danielas heikle Adresse eintippte. Als er die überarbeitete Version gerade fertig hatte, ertönte die Klingel im Warteraum. Er tippte noch ein paar Buchstaben, bevor er sich entschuldigte und aufstand.
Der Mann, dem er die Tür öffnete, hatte einen wirren grauen Haarschopf, und seine Augen funkelten nur so vor Zorn. Er trug Shorts, Sandalen und ein Sommerhemd, das sich so sehr über seinem dicken Bauch spannte, dass die Knöpfe jeden Moment abzuplatzen drohten.
»Mi dica«, sagte der Polizeichef – »Erzählen Sie« -, aber er würde die Geschichte dieses Mannes zwangsläufig zu hören bekommen, ob er nun wollte oder nicht.
»Ich muss jemanden anzeigen«, sagte der Mann drohend und zog seine Augen zu schmalen Schlitzen zusammen.
»Wen? Was ist passiert? Stia calmo, signore
»Meinen Nachbarn. Ich muss meinen Nachbarn anzeigen.« Er sprach wie ein Roboter. »Neben meinem Haus ist ein Garten. Vor zwei Monaten hat mein Nachbar dort einen Hund angebunden, der Tag und Nacht bellt. Ich habe zwei Monate lang kein Auge mehr zugetan. Meine Familie hat zwei Monate lang kein Auge mehr zugetan. Sie müssen sofort mitkommen und etwas wegen meines Nachbarn unternehmen.«
Der Chef hob beide Hände.
»Beruhigen Sie sich, und hören Sie mir gut zu. Sie müssen mit Ihrem vigile reden. Ich kann mich da nicht einmischen.«
»Das habe ich ja«, sagte der Mann verzweifelt. »Mein Nachbar ist der vigile.« Der Polizeichef hob die Brauen und der wütende Mann seine Stimme. »Sie müssen mitkommen und irgendetwas unternehmen. Dem Hund kann ich keinen Vorwurf machen, mein Nachbar ist das Problem. Und wenn Sie nicht gleich mitkommen und etwas unternehmen,« – er ballte die Faust, um seine Drohung zu unterstreichen – »bring ich ihn noch heute um! Bestimmt! Ich meine es ernst. Ich werde ihn umbringen!«
Seine Warnung hallte in dem leeren Warteraum wider. Die Huskys beäugten ihn von einer kühleren Klimazone aus.
»Calmo!«, beharrte der Polizeichef.
»Nein. Damit wir uns richtig verstehen: Ich bringe ihn noch heute um!«
Zweifellos stieß er diese Drohungen bereits seit zwei Monaten aus. Doch erst jetzt fühlte er sich imstande, sie auch wirklich wahrzumachen. Das hatte ihm solche Angst eingejagt, dass er zur Polizei gegangen war. So melodramatisch das auch klang, aber auf seine Weise hatte er genau das Richtige getan und sich der Obrigkeit übergeben, bevor er das Verbrechen beging. Der commandante begriff, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als irgendwie zu intervenieren. Er schloss die Tür zum Revier mit seinem Fuß. »Setzen Sie sich«, sagte er zu dem verzweifelten Eindringling. »Ich kümmere mich gleich um Sie, sobald ich mit der signora fertig bin.«
Obwohl der gestrige Wahnsinn Italiens Witze über die carabinieri nur bestätigt hatte – zumindest, was bestimmte Beamte betrifft -, musste ich doch zugeben, dass sie es auch nicht gerade leicht haben, was die Komplexität eines durchschnittlichen italienischen Verbrechens bzw. die Komödie des durchschnittlichen Italienerlebens anbelangt. Zu Hause abgegebene Handtaschen verkomplizieren den simpelsten Diebstahl. Und jetzt zwang ein Gesetzeshüter auch noch jemanden, zum Gesetzesbrecher zu werden. Es fiel zwar nicht leicht, das Fiasko des vorherigen Tages zu entschuldigen, aber für jede Geschichte über einen bescheuerten carabiniere gibt es bestimmt auch einen carabiniere mit einer Geschichte über einen bescheuerten Bürger.
Der Chef füllte das Formular geistesabwesend aus und dachte an den brodelnden Vulkan im Nebenzimmer. Als er fertig war, unterschrieben er und Daniela erneut – und zwar die dritte und letzte Version eines Dokuments, das wir niemals brauchen würden, da die Diebe keinerlei Geld abgehoben hatten. Nach dem, was wir durchgemacht hatten, um den Diebstahl anzuzeigen, wünschte ich mir fast, sie hätten welches abgehoben.
Wir dankten dem Polizeichef und gingen an dem wütenden Besucher im Warteraum vorbei. Er lief wie ein Tiger im Käfig auf und ab. Angesichts der geplatzten Äderchen in seinen Augen erwartete den Chef eine schwierige diplomatische Mission. Aber er war der Aufgabe wenigstens gewachsen. Mich schauderte bei dem Gedanken, was wohl passiert wäre, wenn der Mann um sieben Uhr des Vorabends von seiner Wut überwältigt worden wäre. Nachdem er ihm erst geraten hätte, seinen Nachbarn umzubringen, damit er sich leichter täte, das richtige Formular zu finden, hätte der Untergebene bestimmt noch die Geistesgegenwart besessen, dem Mörder zu raten, in der Stadt zu bleiben – und sei es nur, um am nächsten Tag wiederzukommen, damit das Formular vom Chef unterschrieben werden könne.