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Liebeslieder, Dekolletees und
Konversation
Der Januar endet mit
einer Woche Regen, vom vierundzwanzigsten bis zum dreißigsten, die
als i giorni della merla – die Tage der
Amsel – bekannt sind. Der Legende nach soll ein großer weißer Vogel
bei dem Versuch, Italiens kältester Woche zu entfliehen,
Unterschlupf in einem Kamin gesucht haben, aus dem er schwarz
herauskam. So fraglich der Wahrheitsgehalt dieser Legende auch ist
– die Kälte ist mehr als real. Sibirische Winde fallen über die
Stadt her, und der Abendhimmel färbt sich orange. Aber die
betörende Farbe wärmt in etwa so sehr, wie eine Fata Morgana den
Durst stillt.
Für Mailands
Obdachlose ist diese Woche noch härter als ihr auch so schon harter
Alltag. Deshalb sehen sich viele Landstreicher gezwungen,
Hausfriedensbruch zu begehen, um den Minustemperaturen zu
entfliehen. In dieser Notlage befand sich auch der vereiste
Vagabund, den wir eines Morgens auf dem Rücksitz von Danielas Auto
vorfanden. Sie weckte den Mann, und weil er das Kleingeld im
Handschuhfach unangetastet gelassen hatte, gab sie es ihm und
spendierte ihm auf diese Weise ein Frühstück. Wortlos zog der Mann
von dannen, sein gesamtes Hab und Gut unter einen Arm geklemmt, und
beäugte skeptisch das vage Frühlingsversprechen am
Horizont.
Dass mein Postfach
jeden Morgen vor E-Mails nur so überquoll, die das alljährliche
Kumpeltreffen zu Hause in Australien betrafen, machte den harten
Winter auch nicht gerade leichter. Während ich mich in Mailand zu
Tode fror, schossen meine alten Schulfreunde mit dem Katamaran
meines besten Freundes über die Wellen – mit jeder Menge Bier an
Bord für zusätzlichen Ballast. Zum ersten Mal bekam ich
Heimweh.
Zum Glück spendete
uns unsere neue Wohnung Wärme und Wohlbehagen.
Francescos Freund
Michele hatte darauf bestanden, dass wir an unserem ersten Abend in
der neuen Wohnung Fisch zubereiteten, um böse Geister zu vertreiben
– eine alte sizilianische Tradition, woraufhin ich meinte, die
Schlösser auszutauschen sei bestimmt die bessere Methode. Abgesehen
von meinem Zynismus und seinem Aberglauben hatten wir nur wenig
gemeinsam. Als er zum Abendessen kam und unsere winzige Wohnung
sah, rief Michele – der wie gesagt selbst auf 18 Quadratmetern
hauste: »La Madonna! Die ist ja riesig.
Und ihr habt einen großen Kühlschrank!« Fünf Jahre in Mailand
hatten genügt, um sein Gefühl für Größenwahrnehmung vollkommen zu
verzerren.
Da wir in einer
anderen Region gemeldet waren, mussten wir einen 30-prozentigen
Zuschlag auf unsere Stromrechnung zahlen. Trotzdem hielten sich die
Nachteile dieser unwillkommenen Gesetzgebung ziemlich in Grenzen,
als wir einen der wenigen Vorteile entdeckten, den das Leben in
einer solchen Streichholzschachtel bereithält – nämlich den, dass
sie sich durch das Anzünden eines Streichholzes beheizen lässt.
Unser tauber Nachbar half uns ebenfalls sparen, da wir die
Abendnachrichten hören konnten, ohne unseren eigenen Fernseher
dafür zu bemühen. Und da die Wohnung im ersten Stock lag, wurde sie
mehr als ausreichend von einer Straßenlaterne erhellt, die etwa
einen Meter von unserem Fenster entfernt stand. Es war herrlich,
endlich eine eigene Wohnung zu haben. Nachdem wir so lange auf
etwas Privatsphäre hatten warten müssen, konnten wir uns jetzt ganz
besonders dafür erwärmen.
Obwohl ich den
leisen Verdacht hatte, dass wir nicht sehr lange in Mailand bleiben
würden, lebten wir uns besser ein als erwartet. Mir machte mein
neuer Job als Englischlehrer wesentlich mehr Spaß, als Texte für
Francesco zu schreiben. Ich weiß nicht, ob er beleidigt oder froh
war, als ich ihm auf Wiedersehen sagte, Fakt ist jedoch, dass
Danielas Bruder auf meine Bitte nach Unabhängigkeit äußerst
entspannt reagiert hatte. Ja, er hatte mir sogar geholfen, Arbeit
zu finden, und mir, bevor ich endgültig den Job wechselte, zu einem
Vorstellungsgespräch im Verlag eines seiner Kunden
verholfen.
Während des
Vorstellungsgespräches überflog ich die Publikationen des
Verlegers, die Monatshefte von Polizia
und Carabinieri. Dort entdeckte ich
dieselben Hochglanzhelden, die auch die Wände des Reviers von
Loritano schmückten. Das große Büro war minimal möbliert. Dieser
Umstand und der Marmorboden sorgten für ein solches Echo, dass ich
das, was ich beim ersten Anlauf nicht verstand, bei einem zweiten
nachholen konnte. Was die Stellenbeschreibung betraf, hatte ich
zwischen den Zeilen gelesen und begriffen, dass meine Fähigkeiten
als englischer Muttersprachler hier nur wenig gefragt waren. Ich
brauchte nicht lange, um die Stelle abzulehnen, die mehr nach
Schönfärberei des Verlegers klang als nach einer tatsächlich
einträglichen Arbeit.
Die Idee, als
Sprachlehrer zu arbeiten, kam mir in dem Irish Pub unweit unserer
Wohnung, wo ich mich mit dem einzigen Engländer in der Bar
unterhielt. Danny lebte seit fünfzehn Jahren in Mailand, konnte
aber nichts Positiveres darüber berichten, außer dass die
Einheimischen »scheiße Golf spielen« und er jedes Turnier gewinne,
an dem er teilnehme. Er hasste die Stadt, die er als »Dritte Welt,
die sich als Erste Welt ausgibt« beschrieb. Alles nervte diesen
nervösen Engländer: die Leute, der Smog, der Fußball – der von
Mädchen gespielt wurde, die weinen, wenn sie verlieren, und sich
küssen, wenn sie gewinnen -, das Leben, der Müll, der Nebel, die
Pelze, die künstliche Bräune und vor allem die Mode, die er
»oberflächlichen Nonsens für oberflächliche Leute« nannte. Dafür
liebte Danny seine Frau umso mehr, die zufälligerweise aus Mailand
stammte. Was sie gemeinsam hatten, kann man sich
denken.
Da er in mir einen
potenziellen Verbündeten oder zumindest einen objektiven Zuhörer
sah, orderte Danny mehrere Runden überteuertes Guinness, und wir
zerstörten gemeinsam unsere Leber, während er Dampf abließ. Die
Art, wie Italiener Auto fahren, regte Danny am allermeisten auf,
zumal seine älteste Tochter bald das Führerscheinalter erreichte.
»Wenn sie auf diesen Straßen fahren will, dann nur in einem
verdammten Panzer«, jammerte Danny in sein Pint, ein Anblick, der
ihm mehr als vertraut war. In dem Moment sauste eine Vespa an der
Bar vorbei, beschleunigte laut und trieb den Engländer erst recht
zur Weißglut. Er sprang auf und schrie: »Ich hoffe, du krepierst
mutterseelenallein und unter großen Schmerzen!« Ich glaube, es ist
nur fair zu sagen, dass Danny nicht viel vom dolce vita hielt.
Der kettenrauchende
Danny war genauso nervös wie ein Gefangener ohne Fluchtplan. Die
Liebe zu seiner Frau schien zwar größer zu sein als sein Hass auf
ihre Heimat – trotzdem brachte sie ihn um den Verstand, um sein
Selbstwertgefühl und ein Vermögen, das er in den Pub trug. Der wie
ein Wasserfall redende Engländer war eine tickende Zeitbombe und so
etwas wie eine Warnung: Da er der Herausforderung Barzinis
augenscheinlich nicht gewachsen war, war er der lebende Beweis
dafür, dass es mir ganz ähnlich ergehen könnte. Ich schwor mir,
mein Abenteuer abzubrechen, sobald ich anfangen würde, ihm zu
ähneln. So gesehen war es nicht gerade vernünftig, sein Jobangebot
anzunehmen. Nachdem ich den Feind identifiziert hatte, verbündete
ich mich mit ihm. Vielleicht war ich bereits italienischer als
angenommen.
Obwohl ich noch nie
Englisch unterrichtet hatte – was laut Danny auch nicht notwendig
war -, bestand die Herausforderung weniger in dem Job an sich als
darin, heil dorthin und wieder nach Hause zu gelangen. Ich
arbeitete von drei bis neun an einer Privatschule, die eine
Dreiviertelstunde mit dem Auto weit weg war, und verdiente in dem
halben Jahr dort kaum mehr als das, was mich die Blechschäden
kosteten, die ich mir auf dem Weg von und zur Arbeit
zuzog.
Daniela war eines
Nachmittags auf ihrem Arbeitsweg selbst in einen Unfall mit zwei
Autos verwickelt worden. Daraufhin hatte sie Napoleon durch einen
Lancia ersetzt, den sie gebraucht von einem Freund von Francesco
gekauft hatte. Er war zwar kein Panzer, bot aber auf Straßen, die
Danny an die Flasche gebracht hatten und mir bald ein ganz
ähnliches Schicksal bescheren würden, mehr Schutz als sein
Vorgänger.
Selbst die
ängstlichsten Italiener fahren, als sei ihrer Beifahrerin soeben
die Fruchtblase geplatzt. Alle anderen geben sich gefährlichen
Autoscooter- alias Zerstörungsmanövern hin. Das Gefährlichste an
meinem täglichen Arbeitsweg war Mailands circonvallazione oder Ringstraße. Obwohl sie so
breit ist wie eine Rollbahn – zumindest aus der Perspektive der
meisten Italiener -, waren darauf keinerlei Spuren markiert.
Außerdem besaß sie mehr schwarze Flecken als ein Dalmatiner. Die
Leute fuhren, als gehöre ihnen die Straße allein, sie blendeten
auf, um langsamere Autos wegzuscheuchen, und hupten, wenn das nicht
prompt geschah. Wie im Film Speed
schienen sie Bomben an Bord zu haben, die explodieren, sobald man
anhält oder auch nur langsamer wird. Ich fuhr in der Regel 20 km/h
zu schnell und wurde trotzdem bedroht, geblendet und gezwungen
auszuweichen, weil man meine Fahrweise deutlich zu lahm
fand.
Manche Fahrer
reagierten sogar so allergisch auf das geringste Stocken des
Verkehrs, dass sie auf den Bürgersteig fuhren, um dem Stau zu
entgehen. Diejenigen, die auf der Fahrbahn blieben, schlossen
Wetten darauf ab, welche Spur wohl die schnellste wäre, indem sie
sich genau in die Mitte stellten. Eine Taktik, die nur dazu führte,
dass der Stau immer länger und das Chaos immer größer wurde. Die
Zebrastreifen waren verblasst und wurden ignoriert, genauso wie die
Fußgänger, die sich darauf wagten. Ich hielt an, um eine Frau über
die Straße zu lassen, woraufhin diese einen Knicks machte und mir
einen Kuss zuhauchte!
Unfälle waren an der
Tagsordnung. Einmal sah ich, wie ein Motorradfahrer in einen in der
zweiten Reihe geparkten Wagen hineinraste, während er versuchte,
einen Bus von rechts zu überholen. Er war einer von mehr als 7000
Menschen, die jedes Jahr auf italienischen Straßen
umkommen.
Vigili kamen und zeichneten die Umrisse des Toten
mit Kreide auf den Asphalt. Als ich während der nächsten Tage
darüber fuhr, fühlte ich mich wie ein Grabschänder. Dann regnete
es, und der Umriss verschwand.
Die größte Gefahr
stellten die Vespas dar, die trotz des heftigen Verkehrs kein
bisschen langsamer fuhren. Ja, die meisten dieser Todesmutigen
schienen den Hindernisparcours wie vorher in Andrano regelrecht zu
genießen. Je nachdem, wie es ihren Fahrern gerade so passt, sind
Vespas mal Motorräder, mal Fahrräder. Diese Verwandlung vollzieht
sich in Sekundenbruchteilen – so lange, wie es nun mal dauert, den
Bordstein hochzufahren und den Bürgersteig entlangzurasen. Sie
terrorisieren Autofahrer und Fußgänger und sind für die Hälfte
aller Unfälle verantwortlich. Damit sie ihr Tempo niemals drosseln
müssen, schlängeln sie sich wie ein perpetuum
mobile nach vorn und sausen davon, ohne den Boden jemals mit
dem Fuß zu berühren.
Eines Nachmittags
sah ich, wie zwei Jungen auf einer Vespa eine rote Ampel überfuhren
und die Fußgänger auf dem Zebrastreifen umschwirrten wie Möwen am
Strand. Ein älterer Mann warf seinen Schuh nach den beiden, die in
diesem Moment jedoch schon hinter einer dicken Auspuffwolke
verschwunden waren. Ein vigile sah den
Wahnsinn und blies in seine Trillerpfeife, bis er ganz rot im
Gesicht wurde, begriff aber, dass es sinnlos war, die beiden mit
seinem Fahrrad zu verfolgen. Italiens Verkehrspolizisten sehen dem
Treiben ohnmächtig zu und dienen hauptsächlich der Dekoration.
Tatsächlich sind ihre eleganten Uniformen so aufwendig, dass sie
sogar einmal einen Streik auslösten, und zwar über die Frage, wie
viel bezahlte Arbeitszeit für das Anziehen derselben
anfällt.
Wenn die Vespas den
Verkehr wegen der damit verbundenen Aufregung lieben, geht es den
Bettlern wegen ihrer damit verbundenen Verdienstmöglichkeit ganz
genauso. Verhärmte Vagabunden bewachen beinahe jede Kreuzung,
Männer, Frauen, Kinder, lauter müde ausgestreckte Hände, und
Fensterputzer, die auf das Signal warten loszulegen. Viele sind
krank oder behindert. Ein Albaner, an dem ich täglich vorbeifuhr,
hatte ein Bein und drei Finger verloren. Wenn er es endlich
geschafft hatte, das Fenster eines Wagens zu erreichen, war dieser
bereits wieder angefahren. Aber ich wartete auf ihn und warf ihm
eine Münze zu, und zwar unabhängig davon, wie lange er mit seinem
Bein brauchte, um das Almosen aufzuheben. Das brachte mir natürlich
ein Hupen von den Arschlöchern hinter mir ein.
Die Bettler
verließen sich auf die Staus, denn wenn sie sich auf die roten
Ampeln verlassen hätten, hätten sie ewig warten können. Die
Schüler, für die ich jeden Nachmittag meinen Hals riskierte,
beschwerten sich und sagten, Englisch sei eine schwere Sprache
wegen der vielen Doppeldeutigkeiten. Darauf sagte ich nur, dass sie
ihre eigene Sprache deutlich unterschätzten, denn nur auf
Italienisch bedeutet ein semaforo rosso
– eine rote Ampel – »Halt an!« und »Fahr, wenn du kannst!«. Aber
das sei etwas vollkommen anderes, wandte ein Schüler ein. »Eine
rote Ampel ist ein Ratschlag, keine Regel.«
Die meisten Unfälle,
in die ich verwickelt war, ergaben sich aus einer dieser Haltung
entsprechenden Verachtung für rote Ampeln. Der schlimmste wurde von
einem Fahrer verursacht, der eine Ampel im Kreisverkehr
missachtete, mir hinten auffuhr und mich dazu brachte, eine
elegante, wenn auch beängstigende Pirouette zu vollführen. Es fällt
jedoch schwer, jemandem die Schuld dafür zu geben, der fähig ist,
eine rote Ampel zu überfahren, während er ein Baby in seinen Armen
wiegt, telefoniert und seinem neunjährigen Sohn erlaubt, im Wagen
herumzuspringen wie in einer Hüpfburg.
Wer glaubt,
Überwachungskameras könnten dieses Problem beheben, täuscht sich
gewaltig. Als ich in Italien Auto fuhr, habe ich nur ganze zwei
entdecken können, und zwar in den winzigen süditalienischen Dörfern
Diso und Marittima. Und die in Marittima macht die Kreuzung nur
noch gefährlicher, weil ihr die Fahrer ausweichen, indem sie auf
der falschen Straßenseite fahren.
Ein weiterer Unfall
wurde tatsächlich dadurch verursacht, dass ich mich weigerte, eine
rote Ampel zu ignorieren. Ich hielt an einer Kreuzung und wurde
angehupt, weil ich mich nicht von der Stelle rührte. Dann sauste
eine Vespa vorbei, die mich um meinen Seitenspiegel erleichterte
und einen Kratzer in meine Tür fuhr.
Dann machte der
Fahrer auch noch mich dafür verantwortlich, hob die geballte Faust
und schüttelte den Kopf. Als ich die Schule endlich erreichte,
fluchte ich immer noch. Dort bemitleidete mich Danny wortreich,
schien sich aber insgeheim darüber zu freuen. Endlich hatte er
einen Zechkumpanen gefunden.
Meine Belohnung
dafür, es bis zur Schule geschafft zu haben, war die Angst vor der
Rückfahrt (das Chaos war dasselbe wie vorhin, nur bei Dunkelheit
und dichtem Nebel), aber auch ein Haufen fauler Schüler, die mehr
daran interessiert waren, sich mit einem Fremden als mit einer
Fremdsprache anzufreunden. Auf Firmenkosten tauchten Anwälte,
Buchhalter und Architekten in der Schule auf, die nicht einmal
einen Stift oder ein Blatt Papier dabeihatten. Diejenigen, die
selbst zahlten, waren ein bisschen ehrgeiziger, aber genauso
gesprächig. Ich ließ sie gerne reden, erinnerte sie aber regelmäßig
daran, das auf Englisch und nicht auf Italienisch zu
tun.
Meine Fahrt zur
Arbeit war ein festes Gesprächsthema. Die Schüler halfen mir, das
Flickwerk auf dem Asphalt zu verstehen. Manchmal stimmten sie in
meine Beschwerden mit ein, manchmal gaben sie zu, ein Teil des
Problems zu sein. Aber meist waren sie so dreist und taten sowohl
das eine als auch das andere. Ein junger Bankangestellter namens
Angelo, ein Anfänger, was das Englische, aber ein Experte, was
Italien betraf, versuchte mich eines Abends zu beruhigen, nachdem
ich mich aufgrund des starken Verkehrs stark verspätet hatte – ein
kleiner Rollentausch, aber egal. Der Stau war durch ein Polizeiauto
verursacht worden, das mitten auf der Straße parkte. Ich sah sein
Blaulicht schon von Weitem und war bereit, den Stau zu
entschuldigen, wenn dafür etwas mehr Gerechtigkeit auf den Straßen
herrschte. Aber als ich eine Viertelstunde später endlich daran
vorbeikam, sah ich, dass die Polizisten nicht etwa Bußgeldbescheide
verteilten, sondern sich in einem Straßencafé amüsierten. Ihre
Mützen lagen auf dem Bartresen, während sie gerade ihre Pizza
verspeisten. Angelo hörte sich meine Geschichte an, bevor er sagte:
»Ja, aber das war keine richtige Polizei, denn so was hat Italien
nicht. Na ja, eigentlich haben wir vier, aber keine davon taugt
etwas. Sie sollten alle abschaffen und uns eine geben, auf die wir
uns verlassen können.«
In der irrigen
Annahme, Angelo zeige Verständnis für mich, beschwerte ich mich bei
ihm über die italienischen Autofahrer. Er fand auch, dass viele
Unfälle vermeidbar wären, erklärte aber, sie seien die Folge zu
vieler Autos auf zu engem Raum und nicht etwa das Ergebnis der
Fahrkünste seiner Landsleute, die er »als geborenste Autofahrer der Welt«
beschrieb.
»Du meinst, das hat
alles nichts mit dem Tempo zu tun, mit dem ihr fahrt,
Angelo?«
»Assolutamente no. Wenn wir eure bescheuerten
Geschwindigkeitsbegrenzungen beachten würden, hätten wir noch viel
mehr Verkehrsopfer zu beklagen, weil alle am Steuer einschlafen
würden.«
Ich wartete auf ein
Grinsen, das nie kam.
»Und auch nicht
damit, dass die Leute rote Ampeln ignorieren und sich nicht
anschnallen?«
»Sich anschnallen
ist gefährlich, denn es ist unbequem und schränkt die
Bewegungsfähigkeit ein. Ich habe mich nur zweimal angeschnallt, und
jedes Mal baute ich einen Unfall.«
Das war das letzte
Mal, dass ich mich von Angelo irgendwohin fahren ließ.
Wenn meine Fahrt zur
Schule wie durch ein Wunder ohne größere Probleme vonstatten ging,
sprachen wir über irgendein anderes Debakel, an dem ich gerade zu
kauen hatte. Die meisten Schüler wollten nämlich wissen, was ich
von ihrem Land hielt. Und obwohl ich mich sehr bemühte, ihnen zu
schmeicheln, was normalerweise bedeutete, ihr Essen oder ihre
Kirchen zu loben, wäre eine ehrliche Antwort häufig negativ
ausgefallen. Aber ich sollte bald erfahren, dass sie über bestimmte
Facetten des italienischen Lebens genauso frustriert waren wie ich.
Und dass Kritik, wenn sie denn taktvoller vorgebracht wurde als von
Danny, nichts Neues für sie war.
Eine attraktive
Reiseverkehrskauffrau namens Katia fragte mich ausgerechnet an
jenem Tag, wie ich Italien fände, als die Telecom Italia ihr soundsovieltes Versprechen, mein
Telefon anzuschließen, gebrochen hatte. Das Essen und die Kirchen
konnten mich mal – sollten sie doch ruhig die Wahrheit wissen, auch
wenn die üppige Brünette mit dem Pelzhandtäschchen eigentlich das
Verb »sein« hätte konjugieren sollen.
Unsere neue Wohnung
besaß einen Telefonanschluss, wir mussten ihn nur aktivieren und
uns ein Telefon sowie eine Telefonnummer zuteilen lassen. Als wir
die Telecom das erste Mal anriefen, hieß es, man würde uns
zurückrufen (auf dem Handy, nehme ich an), um uns mitzuteilen, wann
ein Techniker vorbeikäme. Als wir die nächsten zwei Tage nichts
hörten, riefen wir am vierten noch einmal an und wurden gebeten,
bestimmte Papiere duchzufaxen, die die Sache beschleunigen würden
wie carta d’identità, codice fiscale
usw. Am fünften Tag versäumte man es erneut, uns anzurufen, also
rief Daniela am sechsten an und bekam zu hören, man würde gegen
Mittag des siebten Tages vorbeischauen. Das Ganze klingt wie die
Schöpfungsgeschichte, aber die war im Vergleich dazu eine
Kleinigkeit.
Als der Techniker
nicht auftauchte, rief Daniela an und erfuhr, dass die Telecom
streikte. Am achten Tag riefen wir erneut an und fragten, ob unser
Termin vom Vortag denn heute gültig sei. Ja, das sei er,
versicherte man uns, aber es kam trotzdem niemand. Am neunten Tag
hieß es, man würde morgen kommen, wobei man eine völlig entnervte
Daniela darauf hinwies, dass sie laut Gesetz zehn Tage Zeit hätten,
auf ihre erste Anfrage zu reagieren. Und morgen sei eigentlich erst
der siebte Tag, weil weder das Wochenende noch der Streiktag zähle.
Die Uhren gingen rückwärts.
Am zehnten Tag
steckte ein Techniker einen Schraubenzieher in unseren Anschluss,
drehte ihn leicht nach links, gab uns eine gesalzene Rechnung und
eilte zur Tür.
»Il telefono?«, hakte Daniela nach.
»Das Telefon kommt
innerhalb der nächsten zehn Tage«, entgegnete er.
Wenn wir so dringend
ein Telefon bräuchten, so die Dame von der Telecom Italia, könnten
wir zu einer der folgenden Adressen gehen und uns eines holen. Wir
befolgten ihre Angaben und landeten in einer Metzgerei, wo ein Mann
mit einem gehäuteten Kaninchen in den Händen meinte, er sei es
leid, nach Telefonen statt nach Würsten gefragt zu werden. Wir
gingen zur zweiten Adresse, aber da hatten sie keine Telefone mehr
auf Lager, also kauften wir eines in einem Elektrogeschäft, und die
Saga war vorbei, genauso wie Katias Englischstunde.
Ich hatte eigentlich
erwartet, dass die gut aussehende Reiseverkehrskauffrau bei meiner
Leidensgeschichte nur ihre dünn gezupften Brauen heben würde. Doch
stattdessen nickte sie nur und erzählte mir von einem ganz
ähnlichen Fiasko. Während sie mit den drei obersten Knöpfen ihrer
Bluse spielte, die sie, wenn es nach ihrem Freund gegangen wäre,
bestimmt lieber hätte zulassen sollen, erklärte mir Katia, dass
Staatsbedienstete in Italien weder wegen Inkompetenz entlassen noch
wegen Fleiß befördert werden können. In der Privatwirtschaft
verhalte es sich auch nur geringfügig besser wegen irgendwelcher
obskurer Gesetze, die Angestellte gegenüber Arbeitgebern
bevorzugen. Anscheinend gehen sie auf die Zeit kurz nach dem
Zweiten Weltkrieg zurück, als die Regierung meinte, der
Arbeitslosigkeit lasse sich am besten dadurch vorbeugen, dass man
Entlassungen verbietet. Der Lehrer lernte mehr als seine
Schüler.
Neben Katias tiefem
Dekolletee war es mit das Schönste an meinem Job, das Klassenzimmer
zu betreten und die Vokabeln des vorherigen Lehrers an der Tafel
vorzufinden. Wie ein Ermittler, der nach Beweisen sucht, bemühte
ich mich anhand dieser Überbleibsel, das Thema der vorherigen
Konversationen zu erraten. Wenn man die aktuellen Nachrichten
kannte, war das meist nicht weiter schwer. Eines Montagnachmittags,
nach einem Wochenende, an dem der Fußballriese Juventus zum großen
Leidwesen der Milanesi den
Champion-Pokal geholt hatte, erwarteten mich an der Tafel die
Wörter: manipuliert, Schiedsrichter, Bestechungsgeld, Schande,
Eckstoß und Rolex-Uhr. Und am Tag, nachdem Silvio Berlusconi zum
primo ministro gewählt worden war,
schrien die Wörter auf der Tafel trotz Berlusconis Mailänder
Herkunft nach einem Skandal: heimliche Absprachen, korrupt,
unehrlich, Affe, Zirkus, narzisstisch, Zwerg.
Manchmal war das
Rätsel kryptischer, und ich brauchte länger, um es zu lösen. Einmal
verwirrte mich die Wortkombination Schnorchel, Zunge, Spa,
Krabbencocktail, Ohrentzündung und Mondlicht. Diesmal gab ich mich
geschlagen und fragte die betreffende Lehrerin anschließend, worum
es in ihrer Konversationsstunde gegangen war. Offenbar hatte einer
ihrer Schüler Urlaub in einer ägyptischen Ferienanlage am Roten
Meer gemacht.
Es dürfte kaum einen
leichteren Job geben, als Konversationskurse für Italiener zu
veranstalten. Bei ausländischen Studenten war das deutlich
schwerer. So auch bei der schmallippigen Viktoria aus Moskau, der
gerade mal zwanzigjährigen Katalogbraut eines wohlhabenden
Mailänder Geschäftsmannes. Viktoria, die wunderschön aussah mit
ihren blonden Haaren und den rosigen Wangen einer russischen Puppe,
trat mit einem Selbstbewusstsein auf, das so hoch war wie ihre
Schwindel erregenden Absätze. Und das, obwohl sie so viele
Freiheiten besaß wie ein von Autoscheinwerfern geblendetes Reh. Ihr
Käufer war über sechzig und gönnte sie sich neben vielen weiteren
Luxusgegenständen in seiner Mailänder Villa. Dort lebte sie mit den
Kindern aus vorhergehenden Ehen, die älter waren als ihre
wohlgeformte Stiefmutter. Viktoria, die selbst eher schweigsam war,
wurde bald zum Tagesgespräch der ganzen Schule. Immer wenn sie in
einem schwarzen Mercedes vorfuhr, streckte die Sekretärin den Kopf
ins Lehrerzimmer und verkündete: »Die Prinzessin geruht ihren Kurs
anzutreten.« Aber diese Prinzessin war alles andere als glücklich.
Ihre korallenblauen Augen waren ebenso leer wie verführerisch, und
während unserer unbeholfenen Unterhaltungen fasste sie ihr
»perfektes Leben« auf eine Weise zusammen, dass der Zuhörer
anschließend genauso traurig war wie die Sprecherin
selbst.
Aber die meisten
Schüler waren redselige Italiener, mit denen sich so manche
Freundschaft ergab. Wie die zu dem schrägen Claudio, der mich auf
das Weingut seines Vaters einlud, um ihm zu helfen, eine Flasche
köstlicher, selbst gemachter Traubenauslese herzustellen. Der
siebzehnjährige Claudio war klein, nervös und besaß ein gewieftes
Grinsen. Er ging noch zur Schule, wo er das Fundament für seinen
Traumberuf – Tierarzt – legte, vorausgesetzt, er lernte genauso
viel, wie er redete. Den überwiegenden Teil der Stunde blieb
Claudios Shakespeare-Lektüre zu, während er versuchte, mir eine
Reihe herabgesetzter Waren zu verkaufen wie einen Armani-Anzug zum
halben Preis, Handys zum Selbstkostenpreis sowie freien Eintritt zu
Mailands beliebtesten Nachtclubs. Eines Nachmittags machte ich den
Fehler, ihm zu erzählen, dass ich keine Karte mehr für das berühmte
Milan – Inter Milan-Spiel im San-Siro-Stadion bekommen hätte. Noch
am selben Abend klingelte mein Handy.
»Du hast genau zwei
Möglichkeiten«, sagte Claudio. »Ich habe einen Freund mit zwei
Karten, die er dir für hundertfünfzig Euro pro Stück verkauft.
Ansonsten habe ich noch einen Freund, der sie selbst druckt und der
dir eine für fünfundzwanzig Euro verschaffen kann.«
Claudio drängte
mich, die billigere Option zu wählen.
»Und wo würde ich
sitzen?«
»Äh, du würdest
überhaupt nicht sitzen«, erwiderte er widerwillig. »Du stehst in
einem der Treppenhäuser, und wenn die Polizei kommt, gehst du
einfach in einen anderen Teil des Stadions.«
»Das klingt mir eher
nach einer Eintrittskarte ins Gefängnis, Claudio.«
»Nein, nein, keine
Sorge. Wir machen das immer so.«
»Warum hat dein
anderer Freund dann Karten, die hundertfünfzig Euro
kosten?«
Nur Shakespeare
konnte Claudio schneller zum Schweigen bringen.
Eine ebenso abwegige
Freundschaft knüpfte ich zu einem Mann namens Raffaele, dem ich
donnerstags Englisch beibrachte und mit dem ich sonntags Tennis
spielte – vorausgesetzt, er war da nicht gerade im Fußballstadion.
Raffaele war ein Mitglied der ultras,
jener fanatischen Fans, die dadurch nerven, dass sie Leuchtraketen
zünden und Obst, Münzen, Flaschen und alles andere, was nicht niet-
und nagelfest ist, in die Arena werfen. Die ultras von San Siro schmuggelten sogar einmal ein
Motorrad ins Stadion, steckten es in Brand und warfen es von den
obersten Tribünenrängen auf die Zuschauer darunter. Die einzige
Entschuldigung der rotgesichtigen Wachleute muss die gewesen sein,
dass die criminali das Motorrad in
Einzelteilen ins Stadion geschmuggelt und erst dort zusammengebaut
hätten.
Der außerhalb des
Stadions äußerst umgängliche Raffaele machte von Anfang an klar,
dass ihn sein Chef zum Unterricht schicke und er hier lieber auf
Italienisch über Fußball reden würde. Einmal war er ganz aufgeregt,
als er hörte, dass wir zum selben Spiel gehen würden, einem
Champions-League-Spiel zwischen Chelsea und seinem heiß geliebten
Milan. Am Abend nach dem Spiel erschien Raffaele mit einer Frage
auf den Lippen, die ausnahmsweise mal das Englische betraf. Es gibt
für alles ein erstes Mal. »Was haben die englischen Fans den ganzen
Abend gerufen?« Als mir schließlich eine gelungene Übersetzung für
»verfickte Spaghettifresserfotzen« eingefallen war, war sogar der
Raufbold Raffaele schockiert. »La
Madonna!«, rief er aus. »Nicht mal wir sind so
schlimm!«
Beim
Einzelunterricht schließt man besonders schnell Freundschaften.
Weil die Schule um die Intimität solcher Kurse wusste, hatten alle
Klassenzimmer Glastüren. Bei ihrer ersten Stunde brachen die
meisten Schüler das Eis, indem sie mit Essen ankamen. Natürlich
nicht wirklich, sondern sie fragten mich, was mein italienisches
Lieblingsgericht sei. Eine Schülerin bot mir sogar an, es für mich
zu kochen. Tiziana war eine kokette Brünette mit straffen, stolzen
Brüsten, die sie auch im Winter offenherzig zur Schau stellte. Sie
war größer als die meisten männlichen Schüler und trug ihre
Pin-up-Maße mit einem unerschütterlichen Selbstbewusstsein zur
Schau. Wenn ich Interesse gehabt hätte, etwas anderes als Verben
mit ihr zu konjugieren, wäre ich viel zu eingeschüchtert gewesen,
um den ersten Schritt zu machen. Schön und verführerisch wie sie
war, hatte sie viel zu viele Verabredungen, um je Zeit zum Lernen
zu finden. Ich kann mich an keine Stunde erinnern, in der sie
keinen Anruf von irgendeiner Modeboutique bekam, die ihr mitteilte,
dass ihre Bestellung eingetroffen sei, oder in der nicht Friseur-
und Schönheitssalontermine bestätigt oder verschoben
wurden.
Zwei Tage vor ihrer
Abschlussprüfung löcherte mich Tiziana nach den Antworten. Dabei
ließ sie keinen Zweifel daran, dass ich – falls ich Interesse daran
hätte zu erkunden, wo ihre falsche Bräune aufhörte – es bestimmt
nicht bereuen würde. Als ich höflich ablehnte, begriff sie, dass
sie durchfallen würde, und kam erst gar nicht zur Prüfung. Sie
hatte den Kurs nur belegt, um sich auf die Aufnahmeprüfung der
Alitalia vorzubereiten, die sie jetzt wahrscheinlich ebenfalls
ausfallen ließ. Aber einen Monat später schaute sie kurz in der
Schule vorbei, um mir zu sagen, dass sie bestanden habe und beim
Check-in arbeite. Um das zu feiern, trank ich mit ihr ein
unschuldiges Glas Champagner in der Bar auf der gegenüberliegenden
Straßenseite und bemühte mich, den feierlichen Moment nicht durch
die Frage zu ruinieren, wo sie denn die dort erforderlichen
Antworten gefunden hatte.
Claudia aus Sizilien
war weitaus weniger direkt als Tiziana, zog Sex dem Lernen
allerdings ebenfalls deutlich vor. Obwohl Lehrer eigentlich keine
Übersetzungen machen dürfen, fiel es mir schwer, ihre rotblonden
Bitten abzuschlagen, Liebeslieder aus eigener Feder zu übersetzen.
Erst als sie darauf bestand, sie mir vorzusingen, damit ich ihre
Aussprache überprüfen konnte, sah ich mich gezwungen abzulehnen –
nicht nur, weil sie erwartete, dass ich mit einstimmte, sondern
weil noch weitere zehn Schüler dabei waren und ich ein noch
schlechterer Sänger als Übersetzer bin.
Der Unterricht
bestand allerdings nicht nur aus Liebesliedern, Dekolletees und
Konversation. Vor allem in Gruppenkursen versuchte ich, das
Englisch der Schüler genauso zu verbessern, wie sie mein
Italienisch verbesserten. Die meisten fanden die englische Sprache
schrecklich kompliziert, und eine Schülerin führte sogar
wissenschaftliche Beweise dafür an. Francesca aus Bologna, die
mittwochs und freitags um fünf Uhr bei mir Unterricht nahm, hatte
einen Artikel in Il Corriere della Sera
entdeckt, der nahelegte, Englisch sei schwerer zu lernen als
Italienisch, Deutsch oder sogar Japanisch, weil die Wörter so
anders ausgesprochen werden, als sie geschrieben werden. I am shore/sure you know/no what I mean. Die
Wissenschaftler behaupteten, dass Englische belege gleich zwei
Gehirnhälften mit Beschlag anstatt nur eine wie beim Italienischen,
wo man die Wörter ausspricht, wie sie geschrieben werden. »Würden
Sie das netterweise mitberücksichtigen, wenn Sie meine nächste
Prüfung benoten?«, bat Francesca derart liebenswert, dass ich
ernsthaft darüber nachdachte.
Francesca war meine
Lieblingsschülerin, weil sie ihren Dackel mit zum Unterricht
brachte. Der zweisprachige Bruno saß geduldig neben dem Pult seines
Frauchens und knurrte jeden an, der ihm seinen Platz streitig
machen wollte. Nachdem ich der Klasse eine Frage gestellt hatte,
pflegte ich im Klassenraum auf und ab zu laufen und nach Antworten
zu suchen, bis ich schließlich zu Bruno kam, der mich aufgeweckt
ansah und mir seine rosa Zunge herausstreckte. Er schien die Kurse
zu genießen und nahm regelmäßiger daran teil als viele meiner
zweibeinigen Schüler. Francescas Prüfungsergebnisse waren stets
besser als ihre Leistungen während des Kurses, und zwar in einem
solchen Ausmaß, dass ich sie aus Versehen beleidigte und fragte, ob
sie die Innenseiten von Brunos Ohren wohl als Spickzettel
benutze.
Francescas größtes
Problem mit dem Englischen war auch das vieler Klassenkameraden:
die Aussprache. Das Englische erforderte, dass sie Dinge mit ihrer
Zunge tat, die sie einfach nicht über sich brachte, zum Beispiel
das Wort »the« auszusprechen. Der
bestimmte Artikel brachte ihre Zunge an die Schneidezähne, ein Ort,
bis zu dem es die Italiener nie schaffen und der sich deshalb
ungewohnt scharfkantig anfühlt. Italiener haben große
Schwierigkeiten mit dem »th«. Ein Kind
brach wegen des Unterrichts sogar in Tränen aus, weil es Angst
hatte, sich die Zunge abzubeißen. Francesca wagte es erst, das
»th« auszusprechen, nachdem ich es ihr
ein Dutzend Mal vorgesagt hatte und ihr bewies, dass meine Zunge
anschließend immer noch intakt war. Sie bekam es dann doch noch
hin, aber erst nachdem sie die Spuckepfützen mehrerer vergeblicher
Versuche wieder aufgewischt hatte. Nur Tiziana schaffte es auf
Anhieb, aber ihre Zunge war an so einige Herausforderungen
gewohnt.
Ich erfuhr oft mehr
über meine Schüler, wenn ich sie auf Englisch unterrichtete, als
wenn ich Italienisch mit ihnen sprach. So auch, als ich ihnen das
Hilfsverb sollen erklärte. Das Lehrbuch
gab mir ein paar theoretische Beispiele an die Hand, die ich der
Klasse vortrug wie bei einem Quiz.
»Sie haben an einer
roten Ampel gehalten, aber es kommt niemand. Sollten Sie fahren, oder sollten Sie nicht fahren?«
»Sie sollten nicht fahren!«, erwiderte die Klasse im
Chor.
Ich fand es
ermutigend, dass sie die Regeln, die sie ständig übertraten,
wenigstens kannten.
»Sie sind am
Flughafen und wollen rauchen. Es gibt nirgendwo ein Schild, auf dem
›Rauchen verboten‹ steht, aber der Flughafen ist ein öffentlicher
Ort. Sollten Sie rauchen, oder
sollten Sie nicht
rauchen?«
Diesmal wurde ihre
richtige Antwort von einem Mann zunichtegemacht, der sagte: »Sie
sollten. Selbst wenn da ein Schild
hängt – Sie sollten.«
Derselbe
unverbesserliche Sturkopf hatte auch Schwierigkeiten mit
sollen und müssen. Nach mehreren Beispielen aus dem Lehrbuch
sah er mich immer noch begriffsstutzig an, also dachte ich mir
weitere Beispiele aus, bis der Groschen endlich fiel.
»Ah, so was wie
Steuern«, sagte er und strahlte.
»Wie
bitte?«
»Wir sollten sie zahlen.«
Wieder einmal
erklärte ich widerwillig eine falsche Antwort für
richtig.
Im Lehrerzimmer war
es genauso lustig wie im Klassenzimmer. Meine Kollegen waren eine
wilde Mischung, von denen die meisten aus England stammten und sich
entweder in Italien oder in Italiener verliebt hatten. Sie waren
genauso zufällig zum Unterrichten gekommen wie ich.
Egal, wie lange sie
bereits in Italien lebten oder wie fließend sie Italienisch
sprachen – einen Winkel ihrer Seele konnte Italien niemals so sehr
zufriedenstellen, wie es ein Abend im Pub mit anderen Heimatlosen
vermag. Außer Danny waren wir ziemlich glückliche
Schiffbrüchige.
Wenn bis zum
Mittwoch niemand aus unserem Team den Freitagabend erwähnt hatte,
tauchte Danny auf, um uns daran zu erinnern. Er war stets der Erste
im Pub und reservierte uns einen Tisch, unter dem er regelmäßig
lag, wenn wir schließlich auftauchten. Aber Danny brauchte keine
Gesellschaft. Seine interessantesten Gespräche waren jene, die er
nach mehreren Pints mit sich selbst führte. Ich fand es
unterhaltsam, mich zurückzulehnen und ihm zuzuhören, wie er sich
darüber erging, warum das Hotel auf der anderen Straßenseite einen
seiner zwei Sterne verloren hatte. Klebestreifen verdeckten den
zweiten Stern auf einem Schild an der Wand eines heruntergekommenen
Gebäudes, das Danny beschrieb wie folgt: »Uralt, aber sauber und
mit das Ehrlichste, was ich in zehn Jahren jemals in Italien
gesehen habe.«
Aus Angst, sein
ungebremster Hass auf Italien könne mir meinen Aufenthalt
verleiden, hatte ich erst versucht, Danny auf Abstand zu halten.
Aber unsere Angst vor dem Verkehr verband uns, und er sah in mir so
etwas wie einen Vertrauten.
Wenn also kurz nach
elf Uhr abends das Telefon klingelte, konnte es nur Danny sein. Ich
ging dran, doch statt seines dröhnenden Organs hörte ich nur ein
ungewohnt schwaches Stimmchen.
»Was ist los,
Kumpel?«, fragte ich. »Hat der Guinness-Effekt wieder
nachgelassen?«
»Es ist noch viel
schlimmer. Ich habe eine Nonne überfahren. Triff mich im Pub,
bitte, tu mir den Gefallen!«
Danny hatte die
Ordensschwester mit seinem Citroën flachgelegt. Zum Glück hatte sie
nur ein paar blaue Flecken davongetragen. Er dagegen war ein
nervliches Wrack und brauchte drei Pints, um sich wieder zu
beruhigen. Als er sich endlich entspannte, lehnte er sich in seinem
Stuhl zurück und verkündete: »Gott sei dank war sie eine Nonne.
Jeder andere hätte mich angezeigt, anstatt mich zu segnen.« Ich
hatte meine Aufgabe erfüllt. Er war wieder unverkennbar er
selbst.
Wenn Danny wollte,
dass ich trank, dann wollte David, dass ich spielte. Der Ire in
mittleren Jahren, der zum ersten Mal als Teenager nach Italien
gekommen war, um den Rasen eines Klosters in Rom zu mähen, war
inzwischen verheiratet und nach Mailand gezogen. Seitdem
unterrichtete und spielte er. Was mich an Davids Sucht störte, war
weniger das Geld, das er verprasste, als vielmehr die obskuren
Dinge, auf die er wettete. Wenn ich zur Arbeit kam und einen
Pflaumenkuchen in meinem Eingangskörbchen vorfand, hatte Davids
Mannschaft in der dritten sibirischen Liga gewonnen.
Er wohnte über einem
Wettbüro, das von einem Kroaten geführt wurde, der ihm sichere
Wetten auf ungarische Ringkämpfe, belgisches Wasserpolo, ja sogar
auf den Eurovision Song Contest anbot.
Ich weigerte mich, auf ausländische Aktivitäten zu setzen, spielte
aber jede Woche mit ihm Totocalcio –
bei dem man die Ergebnisse der italienischen Fußballspiele erraten
muss, Totogol – bei dem man raten muss,
welcher Verein wie viele Tore schießt, – und Totosei – eine weitere Form von Fußballtoto, die
ich nur spielte, um David einen Gefallen zu tun, die ich aber bis
heute nicht begriffen habe. Da wir niemals etwas gewannen, glaube
ich fast, dass es ihm diesbezüglich ganz genauso ging.
Die Eigentümerin der
Schule, Rachael, lebte seit zwanzig Jahren in Italien und sprach
fließend Italienisch mit einem Yorkshire-Akzent. Die exzentrische
Frau hatte ebenfalls einen Italiener geheiratet, war aber sehr
glücklich damit. Anders als Danny, der stets damit drohte, wieder
nach England zu ziehen, war Rachael fest davon überzeugt, nie
länger als für einen Sommerurlaub nach England zurückkehren zu
können. Ob das an ihrer Liebe zu Italien oder den Unmengen von Geld
lag, die ihre Englischschule einbrachte, weiß ich nicht. Wie viele
Ausländer, die sich entschieden haben, in Italien zu leben,
betrachtete sie es als ihr »Zuhause«, wenn es ihr gefiel, und als
»Ausland«, wenn es ihr missfiel. Was den Lebensstil anging, war sie
mit Danny uneins und meinte, Italiens Charme erschließe sich eben
nur Menschen, die Charme besitzen – eine Beleidigung, die Danny
wortlos einsteckte. Aber für italienische Gesetzeshüter hatte
Rachael nichts als beißenden Spott übrig. In zwanzig Jahren hatte
man ihr sieben Autos gestohlen, eines davon sogar zwei Mal, das sie
beim zweiten Mal verlassen unter einer stark befahrenen
Unterführung wiederfand. »Die Polizei konnte es nicht finden,
obwohl das eigentlich ihr Job gewesen wäre. Und dann entdeckte ich
es ganz zufällig beim Einkaufen.«
Die einzige Regel im
Lehrerzimmer war die, dass die Tür während der Prüfungen
geschlossen bleiben musste, damit kein Schüler seinen Beitrag zu
den komischen Fehlern sehen konnte, die wir an die Tafel schrieben.
Bestimmte Fehler waren einfach zu schön, um sie den anderen
vorzuenthalten, wie zum Beispiel:
»Leider konnte ich nicht zu deiner Party kommen, weil ich
einen Furztrip in die Berge gemacht habe.« David kannte den
Skilehrer gut und sagte, er habe die Antwort als richtig durchgehen
lassen, weil sie womöglich der Wahrheit entsprach.
»Meine Schwester hat
bange Beine und ein blondes Haar.« Sie klingt
fantastisch, hatte Danny daneben gekritzelt. »Hat sie diesen Freitagabend schon was
vor?«
»Roberto Benigni macht in die Kamera.«
»Ich bin auch nicht
gerade sein größter Fan.« Letzteres stammte natürlich von
Danny.
Alle lachten. Aber
ich musste zwangsläufig an einen dicken Sizilianer denken, der
seinen Freunden immer wieder von dem Idioten erzählt, der sich für
eine Stunde einen Pädophilen mieten wollte, und empfand ebenso viel
Mitleid wie Belustigung.