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Zwei Tage an einem – Mattina
 
 
 
 
 
Der Wassermelonenverkäufer des weißen Fischerdorfs am italienischen Stiefelabsatz steht bei Sonnenaufgang auf. Mit nur einer Hand am Lenkrad knattert der erfahrene Kavalier mit seinem verrosteten Laster durch die verwinkelten Gassen. In seiner anderen Hand hält er ein Mikrofon, das mit einem Lautsprecher auf dem Wagendach verbunden ist, und lässt seinen Morgenruf »Meloni, meloni, meloni!« mit einer Lautstärke erschallen, dass er selbst dickste Zementmauern durchdringt und die Einwohner von Andrano noch im Halbschlaf auf seine pralle, reife Ware einstimmt.
Langsam gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit. Zuerst sehe ich Danielas Füße, ihre Knie und Schenkel, dann ihren sich wiegenden Po, dem anzusehen ist, mit welcher Anstrengung sie die Rollläden hochzieht. Als die serranda oben ist, fluten Lärm und Licht ins Zimmer.
»Hast du von Wassermelonen geträumt?«, fragt sie und kommt schweißnass zurück ins Bett.
»Hat noch nie jemand versucht, den Kerl zu erschießen?«, frage ich verschlafen.
»Man gewöhnt sich daran«, sagt sie lachend. »Ich geh und kauf eine, was meinst du?«
»Willst du dir vorher nicht erst noch was anziehen?«, rufe ich ihr hinterher. Aber sie ist schon im Nebenzimmer und kurbelt dort die Rollläden hoch, während ein süditalienisches Dorf zum Lärm eines turbulenten, aber durchaus nicht hektischen Lebens erwacht.
Während ich allein in der schwülen Morgenhitze liegen bleibe, erkunden meine Ohren ein Dorf, das meine Augen erst noch zu Gesicht bekommen werden. Eine campana beginnt zu läuten, leise, aber ganz in der Nähe, und ich zähle jeden trägen Glockenschlag, bis dieses Geräusch von Stimmen auf der Straße übertönt wird. Ein Streit vielleicht, zwischen Männern, die einen Dialekt sprechen, den ich nicht verstehe. Ich höre die Glocke noch einmal läuten, bevor ein Auto hupt. Ein anderes antwortet. Fahrer verständigen sich. Noch einmal die Glocke, bevor Fensterläden knallen und ein Traktor vorüberrattert. Ein Fußball hüpft über Zement. Wieder die Glocke. Wie spät ist es also? »Bravo!« – Kinder bejubeln ein Tor. Und dann das fürchterliche Getöse einer beschleunigenden Vespa – ein 50-Kubik-Motorrad, das seine fehlenden PS durch Lärm wettmacht. Die campana schweigt. Ich glaube, es ist acht Uhr.
Eine Viertelstunde später schlägt die Glocke erneut – obwohl ich von dem langen Flug müde bin und nicht im Geringsten vorhabe, aufzustehen -, nur um nach acht ausdauernden Schlägen eine weitere Glocke in einer höheren Tonlage erschallen zu lassen – es ist Viertel nach acht. Um halb neun kehrt der Wassermelonenverkäufer zurück, das wohlklingende Läuten der Bronzeglocke kann seinem krächzenden Lautsprecher nicht standhalten. Aber um Viertel vor neun höre ich in einem seltenen Augenblick der Stille acht Schläge, gefolgt von dreien in einer anderen Tonlage.
Andranos campana, rechne ich, schlägt 768 Mal am Tag. Ich kann meine Uhr also getrost wegwerfen.
Ich fange an, den Trubel und die wiederkehrenden Rhythmen zu genießen. Ich achte darauf, wie lang die Stille dauern kann, und muss lachen, als bereits wenige Sekunden später eine ältere Frau einem Kind lautstark irgendeine unverständliche Anweisung oder Warnung erteilt. Der Lärm scheint ein festes Morgenritual zu sein, an das ich mich bestimmt noch gewöhnen werde. Aber das Kreischen, das nun folgt, ein lang andauerndes, gequältes Aufheulen, erinnert eher an Folter. »Meeeelanzaaneeciicooooorie!!« Irgendwas stimmt hier nicht.
Es ist der Schrei eines Mannes, ein unerträgliches Lamento, das jeden Winkel des Dorfes durchdringt. Ich springe aus dem Bett und will nach Daniela suchen, als der Schwanengesang, bei dem einem das Blut in den Adern gefriert, erneut anhebt. «Meeeelanzaaneeciicooooorie!!« Ich eile in die Küche und überrasche sie dabei, wie sie an einem vornehm gedeckten Tisch sitzt und sich mit einem ellenlangen Messer über eine Wassermelone von der Größe eines Medizinballs hermacht.
»Che c’è?«, fragt sie und blinzelt mich an.
»Ich glaube, irgendjemand steckt in Schwierigkeiten. Hörst du das nicht?«
»Was denn?«
Wie auf Kommando schreit das Opfer erneut seinen Schmerz heraus.
»Meeeelanzaaneeciicooooorie!!«
»Das da.«
Sie lacht und kommt auf mich zu, um mich zu umarmen, allerdings erst nachdem sie das Messer weggelegt hat.
»Das ist Rocco. Ein Gemüseverkäufer. Er hat die besten Auberginen und das beste Chicoree im ganzen Ort. Möchtest du was davon?«
»Ich dachte, er stirbt.«
»Stupido«, sagt sie kichernd, bevor sie nach ihrer Geldbörse greift und auf die Straße eilt.
Nach mehreren Schnitzen Wassermelone führt mich Daniela auf ihre Dachterrasse mit einer atemberaubenden Aussicht auf Andrano. Die zur Mitte hin abfallende, in der Sonne gleißende terrazza verfügt über ein kniehohes Mäuerchen, damit mamma nicht herunterfällt, wenn sie hier die Wäsche aufhängt. Danielas Haus befindet sich mitten in der Altstadt, offiziell sogar auf dem Gelände einer Burg. Nach Süden hin kann ich das mittelalterliche castello erkennen, die Piazza und den campanile oder Glockenturm, auf dem zwei dunkle Glocken nebeneinanderhängen. In nördlicher Richtung sehe ich die bunt durcheinandergewürfelten Dächer schlichter Häuser. Im Osten erstrecken sich Olivenhaine bis zur Küste, ein Fischerboot tuckert aus dem Hafen, und das Mittelmeer glitzert bis hin zu den schwachen Umrissen der albanischen Berge in der Ferne. Landeinwärts liegt eine Hitzeglocke über der sonnenverbrannten Landschaft und dem wüstenartigen Küstenstreifen, wo die Wurzeln der Olivenbäume Felsen erdrosseln, um zu überleben. Verblichene Farben stehen in einem starken Kontrast zum intensiven Blau des Meeres. »Das ist Salento«, erklärt Daniela.
Ich befinde mich auf Augenhöhe mit den Glocken, als sie Andrano laut verkünden, dass es halb zehn ist. Es muss ein Signal für die Frauen sein, in Schürzen auf ihre Terrassen zu treten und die Wäsche aufzuhängen. Graue Dächer explodieren plötzlich vor sommerlichen Farben, als Strandtücher und Badesachen an ihren Wäscheklammern baum eln. Ich lerne Danielas Nachbarn als Erstes über ihre Wäsche kennen. Die Frau von nebenan mag geblümte Nachthemden, ein Nachbar spielt Tennis, und ein im Wind flatternder BH zeigt an, dass zwei Türen weiter eine üppige Signora lebt, die Wert auf Bequemlichkeit legt. Eine ihrer riesigen Unterhosen hat Stoff für zehn Slips von der Sorte, wie sie an Danielas Wäscheleine baumeln.
»Die sehen aus wie Bettlaken«, lästere ich. »Oder Segel. Erstaunlich, dass das Haus nicht davonweht.«
»Criticone«, sagt Daniela, klopft mir tadelnd auf die Schulter und erzählt dann, wie ihr Vater den Unterschied zwischen den Unterhosen einer jungen und einer alten Frau zu erklären pflegte: Wer den Hintern einer alten Frau sehen will, muss ihr die Hose ausziehen. Aber wer den Po einer jungen Frau sehen will, muss die eigene Hose ausziehen. Ihre Anekdote erregt mein Interesse, allerdings nicht wegen ihres Humors, sondern weil sie in der Vergangenheitsform von einem Mann spricht, der immer noch lebt.
»Meloni-melanzane-banane-patate!« Ein weiterer Obst- und Gemüsehändler bahnt sich seinen Weg durch die Gassen unter uns und bringt eine alte Frau dazu, ihre Wäscheklammern fallen zu lassen und von ihrer Terrasse zu verschwinden, nur um Sekunden später auf der Straße wieder aufzutauchen, wo der Lastwagen anhält und ein Verkauf getätigt wird.
In Andrano kann man überleben, ohne das Haus jemals zu verlassen. Man braucht nur zu warten, bis die Kirchturmglocke Viertel vor zehn schlägt, und den Kopf zum Fenster hinauszustrecken, wenn die alten Laster durch den Ort kurven. Die heiseren Tiraden der Fahrer, die mit einstudierter Melodik zum Besten gegeben werden, werden von selbst gebastelten Lautsprecheranlagen verstärkt und hallen in den staubigen engen Gassen wider. Viele singen im Dialekt und sprechen ihre Kundschaft unmittelbar an. Nahrungsmittel sind die Haupthandelsware, was soll man in Süditalien auch anderes erwarten?
»ZucchineZucchineZucchine!«
»Patate Calimera, patate zuccarine!”
»Funghi-melanzane-peperoni-meloni!«
»Pesche fresche. Cinque euro ‘na cascia de pesche!«
Dank der Straßenhändler von Andrano umfasst mein Vokabular bald ebenso viele Gemüsesorten wie Danielas Kühlschrank.
Andere Händler verkaufen Haushaltswaren. »Articoli da bagno, articoli da bagno!«, ruft einer und bietet Badezimmerzubehör an – Waagen, Spiegel, Badewannenmatten und Wischmopps. »Mula forbici!«, ruft ein anderer, in der Hoffnung, unsere Scheren schleifen zu können. »Voglio la murga! Cambio la murga!« Dieser alte Mann, so Daniela, tauscht Küchenutensilien gegen murga – altes Küchenfett, das er zu Seife verarbeitet. Nein danke.
»HausfrauenHausfrauenHausfrauen! Kommt heraus auf die Straße für dieses einzigartige Sonderangebot! Vier Besen für nur zehn Euro!«
»Ist das nicht beleidigend?«, frage ich Daniela.
»Perchè?«
»Na ja, wenn er in Australien ›Hausfrauen‹ rufen würde, könnte er keine Besen verkaufen.«
Uns trennen Welten.
»Materassi! Materassi! Wir haben die Qualität, die Sie von einer Einzel- oder Doppelmatratze erwarten!« Aber heute Vormittag erwartet das niemand. Ohne Kunden erreicht der Laster schnell das Ende der Straße. Dort sieht sich der Fahrer gezwungen, den Rückwärtsgang einzulegen, weil seine hoch aufgetürmte Ware einen Balkon einzureißen droht. Darauf steht eine wütende Frau, die mit einem Besen nach dem Laster schlägt, der vielleicht selbst einmal ein einzigartiges Sonderangebot war. Eine Szene wie aus einem Fellini-Film, und trotzdem ist meine Belustigung für Daniela das einzig Neue an diesem für sie vollkommen alltäglichen Morgen.
Wie bei einer Parade kommt ein Händler nach dem anderen vorbei. Hosen, Schuhe, Wasser, Wein. Das Einzige, das man nicht von zu Hause aus kaufen kann, ist die Zeitung. Aber wir befinden uns im Sommerloch, und da gibt es sowieso nicht viel zu lesen. Und wenn Italiener schuften, dann nur, um das Leben zu genießen.
Zwischen zehn und zwei kehrt wieder Ruhe ein in Andrano. Eine erbarmungslose Sonne steht hoch am Himmel, und die Bewohner fliehen ans Meer. Daniela schlägt vor, dasselbe zu tun, obwohl ich lieber das Dorfleben beobachten würde. Auch wenn mir das in diesem Moment noch nicht klar ist, ist dieser erste Tag in ihrem Dorf mit das schönste Geschenk, das mir Daniela jemals machen wird. Die geduldigen Ausführungen meiner Reiseleiterin, Geliebten und Dolmetscherin lösen eine Liebe aus, die weit über uns beide hinausgeht. Ich empfinde eine unerwartete Zuneigung für Andrano, für die Zeremonien der Einheimischen und Rituale eines Alltags, der dem Takt der campana folgt. Ihr unaufhörliches Läuten ist eine ironische Mahnung, dass die Zeit verstreicht, auch wenn sie stehen geblieben zu sein scheint.
Während ich über die Dächer schaue, habe ich das Gefühl, der heutige Tag hätte vor zehn, zwanzig oder fünfzig Jahren ganz genauso ablaufen können. Und wenn man sich die Fernsehantennen und den Verkehr wegdenkt, vielleicht sogar vor hundert Jahren.
 
Daniela schaltet in den Leerlauf, und wir rollen den Hügel zum Hafen hinunter. Wie eine Schlange windet sich die Straße durch jahrhundertealte Olivenhaine. Die knorrigen Äste der Bäume scheinen zu gespenstischen Posen erstarrt zu sein. »Als ich noch ein Kind war«, erzählt Daniela, »dachte ich, dass die Olivenbäume ihre Gestalt ändern, sobald ich ihnen den Rücken zukehre.« Olivenbäume sind das Wahrzeichen Salentos. Davon gibt es in ganz Apulien, also auf dem italienischen Stiefelabsatz, über zehn Millionen, die 60 Prozent des italienischen Olivenöls liefern.
»Sie sind wunderschön«, sage ich.
»Sie sind Überlebende«, erwidert Daniela.
Wir kommen an mehreren Reihen von Strandhäusern vorbei, bevor wir am Porto d’Andrano sind – einem Badeplatz für Braungebrannte. Er besteht aus spitzen Felsen, die es nicht gerade gut mit nackten Füßen meinen. Sand gibt es hier nicht, nur zerklüftete Höhlen und aufregende Grotten. Planschen kommt nicht infrage. Man springt direkt in das kristallklare tiefe Blau, das glitzernd gegen die Fischerboote schlägt, zwischen denen wir uns tummeln. Jedes ächzend an seinen Tauen zerrende Schiff stellt eine schlaffe, von Sonne, Wind und Wetter ausgeblichene italienische Flagge zur Schau.
Da ich an den Stränden nördlich von Sydney aufgewachsen bin, fühle ich mich in dem tiefen Wasser wie zu Hause und gewöhne mich schnell an die Gefahren meiner neuen Umgebung, die hauptsächlich darin bestehen, hinein- und hinauszugelangen, ohne sich die Füße aufzuschlitzen oder sich an einem unter der Wasseroberfläche verborgenen Felsen das Rückgrat zu brechen. Aber mein Selbstvertrauen erhält einen jähen Dämpfer, als ich in die spitzen, sechs Zentimeter langen Stacheln eines riccio, eines Seeigels, trete und mein Schrei über den gut besuchten Strand hallt.
Einheimische starren den verlegenen Fremden an.
»Deshalb schwimmen hier alle mit Plastiksandalen«, sage ich stöhnend zu Daniela.
»Si, amore
Sie hat mir zwar noch nicht gesagt, dass sie mich liebt, nennt mich aber »mein Liebster«. Das tut gut … und fühlt sich auf jeden Fall besser an als mein schmerzender Fuß.
Danielas Auto tritt den steilen Rückweg deutlich langsamer an, und als wir endlich oben sind, gewinnen wir an Tempo und rasen im höchsten Gang an unserem Haus vorbei.
»Wohin fahren wir?«, frage ich und stütze meinen Fuß auf ihr Handschuhfach.
»Zu Zia Maria«, lautet ihre Antwort. »Niemand kann Seeigelstacheln besser entfernen als Tante Maria.«
Zia Maria, die mich für einen Österreicher (Austriaco) statt für einen Australier (Australiano) hält, verarztet mich gekonnt, und bald darauf befinden wir uns mit Feigen, Spinat und einer Schürze Zitronen vom eigenen Baum, die auf dem Rücksitz herumkullern, wieder auf dem Heimweg.
Am höchsten Punkt der Straße bläst ein dunkelblau uniformierter Mann mittleren Alters in eine Trillerpfeife und hält etwas hoch, das aussieht wie ein übertrieben großer rot-weißer Lutscher. »Das ist ein vigile«, erklärt mir Daniela, tritt mit ihrer Sandale auf die Bremse und murmelt etwas wie »la miseria«. Aber als wir näher kommen, erkennt der Verkehrspolizist die Fahrerin und winkt uns durch.
»Der ist aber gründlich«, sage ich.
»Das ist Giovanni«, hebt Daniela an und grüßt ihn, als wir an ihm vorbeifahren, bevor sie beginnt, mir seine Lebensgeschichte zu erzählen.
Giovanni stammt ursprünglich aus Poggiardo, einer Stadt die weiter nördlich liegt, und wurde vor zehn Jahren hierher versetzt. Schon bald stand er in dem Ruf, der gemeinste vigile der ganzen Gegend zu sein, einer, der schon bei winzigen Vergehen Strafzettel verteilt, was weder die Autofahrer noch seine Kollegen gewohnt waren. Doch dann verliebte er sich in eine Frau aus dem nahe gelegenen Castro und hat seitdem kaum noch Strafzettel verteilt. Heute zeigt er sich stets verhandlungsbereit, sogar bei ernsthaften Verkehrsverstößen. »Der Mann ist wie verwandelt, und das alles nur wegen einer Frau aus Castro«, beendet Daniela auf Italienisch ihre Geschichte.
»Und, weiß er genauso viel von dir wie du von ihm?«, hake ich auf Englisch nach.
»Probabilmente. Er hat dich auch schon durchgewunken, stimmt’s?«
»Aber ich bin doch erst einen Tag hier.«
»Länger dauert es nicht.«
 
Seit wir uns kennen, hat sich Danielas Englisch dramatisch verbessert. Sie hat ein paar Probleme mit dem Imperfekt, aber ich interessiere mich ohnehin ausschließlich für ihre Zukunft. Da sie in der Schule Englisch hatte, hat sie einen gewissen Vorsprung, was das Lernen von Fremdsprachen betrifft, aber ich bemühe mich aufzuholen. Daniela hilft mir dabei, während ich ihr Englisch verbessere. So sind wir beide Lehrer und Schüler und sprechen eine Mischung aus Englisch und Italienisch. Daraus wird fast so etwas wie eine Mischsprache, die ebenso lustig wie einzigartig ist. Alles nehmen wir zum Anlass, um ein neues Wort oder eine neue Redewendung zu lernen. Danielas alte Schrottkarre bildet da keine Ausnahme.
»Schrott«, wiederholt Daniela. »Mein Auto ist Schrott.« Sie versucht sich das neue Wort einzuprägen.
»Genau. Schrott. Und auf Italienisch?«
»Sfinita. La macchina è sfinita.«
»Sfinita«, spreche ich ihr nach. »La macchina è sfinita
Die Kirchturmuhr läutet zwölf, als wir Danielas Toreinfahrt erreichen. Ihr Nachbar, Pippo, hat sein Auto vor ihrer Garage geparkt. »Das tut er öfter«, sagt sie eher resigniert als wütend. Daniela drückt dreimal auf die Hupe – »das hilft normalerweise.« Prompt watschelt Pippo mit den kurzen, hastigen Schritten eines alten Herrn, der es eilig hat, aus dem Haus. Er hebt den Daumen, zum Zeichen, dass es keine Sekunde dauern wird.
»Was ist das für ein Auto?«, frage ich Daniela, während wir in unserem sitzen und warten.
»Das« – sie macht eine kleine Kunstpause, als verkünde sie eine kleine Sensation – »ist ein Fiat aus dem Jahr 1964. Er heißt ›La Giardiniera‹, das Modell ›Gärtnerin‹. Er war vor allem bei den Bauern beliebt, weil er hinten viel Platz für Werkzeug hat.«
Das Auto sieht aus wie die Oldtimerversion eines Kombis und besitzt drei Türen, von denen zwei nach hinten aufgehen. Es ist kaum länger als ein heutiges Motorrad und auch nicht größer.
Pippo steigt ein und knallt die Tür zu, woraufhin der Kofferraumdeckel aufspringt.
»Du kennst doch Newton?«, fragt Daniela. »Per ogni azione …«
»Ja, ja, ich weiß: Kräfte treten immer paarweise auf. Übt ein Körper A auf einen anderen Körper B eine Kraft aus, so wirkt eine gleichgroße, aber entgegengerichtete Kraft von Körper B auf Körper A
»Pippos Fiat ist das perfekte Beispiel für diese Theorie.«
Vollkommen ahnungslos über seinen Beitrag zur Welt der Physik, klettert ein gebückter Pippo aus dem Wagen, geht um das Wagenheck herum und hebt erneut den Daumen, zum Zeichen, dass es keine Sekunde mehr dauern wird. Nachdem er den Kofferraum geschlossen hat, steigt er wieder ein und zieht die Tür diesmal sanfter zu. Aber der Kofferraumdeckel geht noch einmal auf, und die Slapstickszene wiederholt sich erneut.
»Ich das bestimmt schon tausend Mal gesehen haben«, sagt Daniela. »Meinen Vater das machte wahnsinnig. Er sagen zu Pippo, er soll durchs Fenster hineinklettern, aber er sagen, er ist zu alt.«
Pippo beschließt, die Fahrertür aufzulassen und den Zündschlüssel zu drehen, woraufhin das ganze Auto vibriert wie ein nasser Hund, der sich schüttelt. Ein rasselndes Keuchen ertönt, als die alte Kurbelwelle gezwungen wird, ihren Dienst zu tun. Humpelnd wie sein Besitzer verschwindet La Giardiniera, doch kaum sind wir in der Garage, steht sie auch schon wieder vor der Ausfahrt.
»Was, wenn wir wieder wegwollen?«
»Dann hupe ich.«
Nach einer kurzen Dusche, um das Salz abzuwaschen, sagt Daniela, sie müsse ein paar Einkäufe machen, bevor die Läden über Mittag schließen. Das erledige sie am liebsten per Fahrrad. Für mich habe sie auch schon eines besorgt, da man in Andrano nicht ohne Fahrrad zurechtkommt – nicht zuletzt deshalb, weil man das Auto nicht immer aus der Garage fahren kann. Es ist ein Damenrad, das wie die Unterwäsche der Nachbarin eher zum Zwecke der Bequemlichkeit als zu dem der Geschwindigkeit entwickelt wurde.
Die schönsten italienischen Mosaiken sind die Straßen von Andrano. Während ich durch den Ort holpere und von einem Schlagloch ins nächste gerate, springt mein Fahrradscheinwerfer aus seiner Plastikeinfassung. Unter diesen Umständen fällt es schwer, einen geraden Kurs beizubehalten. Radfahrer, die versuchen, den Schlaglöchern auszuweichen, sehen aus wie Betrunkene, und ich komme mir vor, als würde ich auf einem Stier Rodeo reiten.
Mit quietschenden Bremsen halten wir vor dem Coop-Supermarkt, wo mich Daniela Antonio, dem Metzger des Ortes, vorstellt. Er steht mit einem kleinen Mädchen und einer räudigen Katze vor dem Laden und versucht, Ersteres dazu zu bewegen, Letztere mit nach Hause zu nehmen. Die Katze miaut herzerweichend und wackelt angesichts der Düfte, die durch ein Fliegengitter auf sie einstürmen, mit dem Näschen.
Im Laden säumen verstaubte Waren die Wände, und eine Frau etikettiert Pasta. Hinter der Fleischtheke hängt über einer Reihe blasser Kaninchen, die alle viere von sich gestreckt haben – so als habe man ihnen bereits auf der Flucht das Fell über die Ohren gezogen -, ein kleines blaues Herz mit der Aufschrift: »È nato un bambino« – »Wir haben einen kleinen Jungen bekommen.«
»Auguri«, gratuliert Daniela. »Wie heißt er?«
»Paolo«, entgegnet der stolze Vater.
»Che bello«, sagt Daniela und faltet die Hände vor der Brust, bevor sie ein paar Scheiben Schinken und Mortadella bestellt.
Ich hatte Daniela dummerweise gesagt, das mir ein panino zum Mittagessen reichen würde. Aber als wir die kopfsteingepflasterte Straße hinter der Kirche entlangradeln und an offenen Fenstern vorbeikommen, bringen die Küchendüfte meine Nase zum Zucken wie die der Katze.
Wegen des köstlichen Dufts nach gegrilltem Fisch und Braten, nach Knoblauch, Auberginen und ZucchineZucchineZucchine, kann ich meinem panino nicht mehr viel abgewinnen.
Als die Kirchturmuhr halb zwei schlägt, hallen die Glocken erstmals nach Sonnenaufgang wieder durch verlassene Straßen. Hinzu kommen das Klirren von Besteck, die Erkennungsmelodien von Seifenopern und Tischgespräche. Selbst wenn man nicht neugierig ist – und laut Daniela ist hier jeder neugierig -, kommt man kaum umhin, wenigstens über die Nachbarn Bescheid zu wissen. Als wir uns auf unsere Spaghetti mit Muscheln in Weißweinsauce stürzen, die Daniela spontan für uns gezaubert hat, hören wir draußen einen kleinen Jungen, der Straßenhunden das Kommando »Sitz!« beibringen will. Sein Vater ruft ihn herein mit der Begründung, er verschwende nur seine Zeit. Es sei schon ein Wunder, dass sie überhaupt noch stehen können.
Als die Kirchturmuhr halb drei schlägt, werden die Fensterläden verrammelt, um Nacht vorzutäuschen. Während der Siesta wird Andrano zur Geisterstadt. Auf meiner Fahrradfahrt durchs Dorf sehe ich, dass sogar die Ampeln abgeschaltet sind. Das blinkende orangefarbene Licht verleiht den verlassenen Straßen etwas Unheimliches. Wenn ich nicht wüsste, dass Andrano schläft, würde ich denken, es wäre verlassen. Die Hitze hat den Ort zum Schweigen, Schlafen und Ausruhen gezwungen, und man kann die weißen Häuser nicht ansehen, ohne von ihnen geblendet zu werden.
Zu Hause bei Daniela liegen wir bei halb geschlossenen Rollläden auf dem Bett und genießen die Stille. Um drei schlägt die campana feierlich sieben Minuten lang, eine düstere Ermahnung an den Tod Jesu zu jener Stunde. Kurz nachdem das Läuten aufhört, höre ich den hellen Singsang eines Kindes. Neugierig gehe ich nach draußen und sehe, wie auf dem Balkon gegenüber ein vielleicht fünfjähriges Mädchen splitterfasernackt herumtanzt. Es träufelt sich Wasser über den Kopf und singt: »Voglio l’amore, voglio fare l’amore
Ich bin fest davon überzeugt, dass mir meine mangelhaften Sprachkenntnisse einen Streich spielen, und eile zurück ins Schlafzimmer, wo Daniela fast eingedöst ist. Ich berühre sie sanft an der Schulter und flüstere: »Singt das Mädchen wirklich, was ich denke?«
»Che cosa
»Ich will Liebe, ich will Liebe machen?«
Daniela hört einen Moment zu.
»Si«, sagt sie, ganz benommen vor Hitze und Schläfrigkeit.
»Und sie tanzt dabei nackt auf dem Balkon?«
»Ja und?«, sagt Daniela geistesabwesend, bevor sie endgültig einschläft.
Ich nicke schließlich auch ein, nachdem ich diese frühreife Serenade mithilfe der heruntergelassenen serranda zum Schweigen gebracht habe, und eine Glocke Viertel vor vier schlägt. Und wieder ist es vollkommen dunkel im Zimmer. Wenn Daniela nicht neben mir atmen würde, hätte ich keine Ahnung, wo ich bin.