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Campanilismo
 
Wir wohnten gerade ein halbes Jahr in unserer Wohnung, als wir die Glocken der Kirche am Ende unserer Straße das erste Mal hörten. In der seltenen mittäglichen Stille war das träge zwölfmalige Läuten nicht zu überhören. Ein paar herrliche Momente lang verstummte der Verkehrslärm, und das wütende Hupen sowie die heulenden Sirenen wurden von lieblichen Bronzeklängen übertönt. »Che schifo di campana!«, verkündete Daniela, die schon zum zweiten Mal in diesem Monat mit einer Grippe im Bett lag. »Was für eine lahme Glocke. Sie klingt wie eine trockene Zunge, die gegen die ausgedörrten Wangen eines Mundes schlägt, dem das Singen vergangen ist.« Doch ich sollte noch ein viel besseres Beispiel für den campanilismo – die Liebe und Loyalität zur heimatlichen Kirchturmglocke und zum Leben, das sie dirigiert, zu hören bekommen.
Die campana einer italienischen piazza ist wie ein Herz, das Blut in die Organe des Körpers pumpt. Sie spielt eine solch überlebenswichtige Rolle für das Leben eines Dorfes, dass die Einwohner von Adano die Alliierten in John Herseys Eine Glocke für Adano trotz ihres Hungers als Erstes bitten, die Kirchturmglocke zu ersetzen, die Mussolini zu Munition hatte einschmelzen lassen. »Das Seelenheil ist wichtiger als ein voller Magen«, sagte ein Dorfbewohner zu einem amerikanischen Major. Die Mailänder setzen andere Prioritäten, und die Glocke verliert irgendwie an Bedeutung, wenn ihr Läuten nur von den Mäusen im Glockenturm gehört wird.
Daniela verspürte eine angeborene Zuneigung für Andranos Glocke und deren gelassene Choreographie eines gemächlichen Tagesablaufs. Ihre verächtliche Bemerkung über die Mailänder Glocke war nur ein Wutausbruch von vielen, die mir klarmachten, dass Daniela am Ende war und nicht die Glocke. Ohne mit mir darüber zu reden, stellte sie unseren Aufenthalt in Italiens Wirtschaftsmetropole immer mehr infrage. Als dann noch ihre Mutter anrief, um ihr zu sagen, dass ihr todkranker Vater einen epileptischen Anfall erlitten habe, die Treppe heruntergefallen sei, sich den Kopf angeschlagen habe und im Krankenhaus liege, dachte sie ernsthaft darüber nach zurückzuziehen – etwas, das sie nicht so bereitwillig getan hätte, wenn wir in Mailand glücklich gewesen wären.
Daniela hasste die Atmosphäre in der farblosen Zementstadt. Ohne die Sonne, die ihre Haut wärmte, fühlte sie sich wie eine Fremde im eigenen Land. Das roboterhafte Leben der Mailänder und deren freudlose Besessenheit von der Arbeit befremdeten sie. Außerdem war sie es leid, gestresste Kinder zu unterrichten, die ihren Babysitter für ihre Mutter hielten. Sie konnte den Mailändern zwar ihre Verachtung für den Süden vergeben, nicht aber ihren mangelnden Respekt vor dem Befinden ihrer eigenen Stadt, die noch mehr hustete und nieste als sie selbst. Doch anders als Daniela konnte sich die Stadt Mailand nicht mal eben einen Tag frei nehmen, wenn sie krank war.
In Mailand gibt es mehr Erkrankungen, die auf den Smog zurückzuführen sind, als in jeder anderen italienischen Stadt, einschließlich Neapel, wo Frischluft sogar in Dosen verkauft wird. Die EU warnte Mailand, dass die Luftverschmutzung die EU-Grenzwerte in einem gefährlichen Ausmaß überschreite. Doch am »europaweiten autofreien Tag«, an dem alle europäischen Großstädte einschließlich London, Paris, Rom, Madrid, Athen und München für den Autoverkehr gesperrt waren, lehnte Mailand das Angebot, etwas für eine sauberere Luft zu tun, mit dem Argument ab, man müsse schließlich arbeiten. Die EU solle die Umwelt doch bittschön außerhalb der Bürozeiten retten.
Auch ich war enttäuscht von Mailand. Wie Daniela bereits in unserer ersten Woche in dieser Stadt bemerkt hatte, war es weniger der Nebel, der mich störte, sondern das, was er freigab, wenn er sich lichtete. Wie konnte eine derart wohlhabende Stadt nur so heruntergekommen aussehen? Das Zentrum war elegant, aber die Vorstädte waren der reinste Albtraum. Sogar teure Wohnviertel sahen hässlich aus. Und das Allgemeingut war so gepflegt wie der Bart eines Penners. Auf meinem Weg zur Arbeit sah ich, wie Leute ihre Hunde auf dermaßen verwilderten Wiesen ausführten, dass der Hund nur noch anhand der Leine seines Herrchens auszumachen war.
Trotz ihrer Geldfixiertheit und ihres Talents zur Scheinheiligkeit waren mir die Leute sympathischer als die Stadt. Auch wenn sie sofort dabei sind, wenn es darum geht, Süditaliener als unzivilisiert zu bezeichnen, haben sie gelegentlich selbst reichlich schlechte Manieren. Nachdem wir die Miete ein halbes Jahr lang stets pünktlich gezahlt hatten, wurden wir eines Sonntagmorgens um neun von unserer Vermieterin geweckt, die fragte, warum unsere Miete noch nicht in der Post sei. »Heute ist der Monatserste«, sagte sie zu einer völlig verschlafenen Daniela. »Von Ihrer Miete bezahle ich meine Rechnungen. Wenn Sie nicht zahlen können, müssen Sie mir acht Tage vorher Bescheid geben, damit ich mich anderweitig behelfen kann.«
»Können Sie Ihre Rechnungen am Sonntagvormittag bezahlen?«, fragte Daniela, die den Umschlag bereits für den nächsten Morgen bereit gelegt hatte, den ersten Arbeitstag des Monats.
Noch im Schlafanzug ging Daniela nach unten und warf den Brief ein – allerdings ohne meiner Bitte nachzukommen, das »gentilissima« vor dem Namen durchzustreichen, eine verbreitete italienische Schmeichelei, die den Empfänger als »extrem freundlich« bezeichnet. Ich hätte es angebrachter gefunden, »fortunatissima« zu schreiben, da das Adjektiv »extrem glücklich« wesentlich besser zu einem Menschen passt, der Post von den Poste Italiane bekommt.
Mailand strapazierte unsere Nerven und unser Portemonnaie. Italiens teuerste Stadt kann die hohen Lebenshaltungskosten einfach nicht aufwiegen. Während die Mailänder sich energisch anrempeln, hektisch herumrennen und dabei die einfachen Freuden des Lebens völlig aus den Augen verlieren, ist ihre Stadt so erschöpft, schal und steril, als langweile sie sich ob ihrer eigenen Farblosigkeit. Ich war es auch leid, ständig dem Tod auf meinem Arbeitsweg von der Schippe zu springen, nach Parkplätzen zu suchen, die nicht existieren, den ganzen Tag in der Schlange zu stehen, nur um irgendwelche Rechnungen zu bezahlen. Ich war den bleigrauen Himmel leid, die nicht vorhandene Sonne und die Bettler an jeder Straßenecke: hungrig, frierend und verzweifelt und viel zu oft auch noch versehrt.
Am Anfang brach mir Mailand das Herz, mit der Zeit zerstörte die Stadt es vollständig. Ein kleiner Junge in einem zerfetzten Jogginganzug stand vor meinem Wagenfenster und hielt mit seinem guten Arm Feuerzeuge hoch, während der andere, ein bloßer Stumpf, an seiner Seite herabhing. Er klopfte an mein Fenster, aber ich starrte geradeaus auf eine fast nackte Frau auf einer Plakatwand, die Fotos mit ihrem Handy machte. Noch vor wenigen Monaten hatte ich mein ganzes Wechselgeld verschenkt, ja, ganz am Anfang hatte ich sogar extra welches für jeden Bettler zurückgelegt, bevor ich das Haus verließ. Ich hatte unzählige Feuerzeuge gekauft, obwohl ich nur selten rauche, aber jetzt ignorierte ich die armselige kleine Gestalt im Regen. Beim Wegfahren blickte ich in den Rückspiegel und sah, wie das Kind zu dem müllübersäten Gehsteig zurückging. Ich schaute mich um, sah jedoch nichts, was mir irgendeinen Weg in die Zukunft gezeigt hätte. Ich war immun gegen sein Leid geworden. Und es wurde höchste Zeit, Mailand zu verlassen.
Aber war Andrano eine realistische Alternative? Ohne englischsprachige Freunde wäre ich dort noch isolierter als in Mailand. Diese Isolation würde meinem Italienisch natürlich zugutekommen. Das war die Gelegenheit, den Norden gegen den Süden einzutauschen, die Stadt gegen das Meer, und in einem Teil Italiens zu leben, der genauso reizvoll wie abgelegen war. Daniela konnte sich um eine Versetzung an ihre frühere Schule bemühen, und da ich nicht mehr für Francesco arbeitete, konnte ich Englisch unterrichten, wo ich wollte. Aber doch nicht in Andrano, oder? Viele Einheimische sprachen nicht mal Italienisch.
Durcheinander, wie ich war, machte ich den Fehler, meine Schüler zu fragen, was sie von der Idee hielten. Niemand von ihnen war je im Süden gewesen, was sie allerdings nicht davon abhielt, wüst über ihn herzuziehen. Es ist einfacher, auf einen fahrenden Zug aufzuspringen, als sich ihm entgegenzustellen. »Du bist ja verrückt«, sagte Claudio vollkommen außer sich. »Mach das bloß nicht. Da unten gehst du vor die Hunde. Das ist nicht mehr Italien, das ist Süditalien. Das sind zwei vollkommen unterschiedliche Länder.«
Angelo wirkte regelrecht beleidigt, dass jemand, mit dem er befreundet war, überhaupt auf so eine Idee kam. Er machte ein Gesicht wie ein Kind, das Spinat essen soll, und sagte: »Ich glaube, du machst dir keinerlei Vorstellung davon, wie es da unten aussieht. Das sind völlig zurückgebliebene Analphabeten. Du wirst dort wahnsinnig. Keine Frau ist es wert, ihr in den Süden zu folgen.«
Zu meiner Überraschung war Raffaele, der Fußball-Hooligan, der Diplomatischste. Er beugte sich vor, als ob das, was er mir zu sagen hatte, benotet würde, und flüsterte: »Pass auf dich auf, wenn du da runter ziehst, Crris. Acht von zehn Süditalienern sind leicht reizbar. Das hab ich in den Nachrichten gesehen.« Nur Raffele kann Rassismus so rührend aussehen lassen.
Ihre Scheinheiligkeit führte bei mir nur zu einer Trotzreaktion. Ich mochte keine Klischees und auch keinen böswilligen Klatsch. Die beiden Monate, die ich im Süden verbracht hatte, waren herrlich und einzigartig gewesen. Aber damals war das Urlaub, Sonne, Strand, Sex und Spaghetti – wenn man Urlaub hat, kann es überall paradiesisch sein. Wenn ich mich dauerhaft in Andrano niederließ, wäre der Reiz des Neuen bestimmt bald verflogen, und meine Beziehung zu Daniela würde auch darunter leiden.
Bis zu diesem Moment hatte ich mir gar keine Gedanken über unsere Beziehung gemacht. Ich war immer noch genauso verliebt in Daniela wie damals in Irland, als ich dachte, unsere Affäre würde genau so lange halten wie mein Pint. Die Leidenschaft, die wir füreinander empfanden, hatte sogar den ungewöhnlichen Umstand überlebt, dass wir von Anfang an zusammengezogen waren. Wir hatten keine andere Wahl gehabt, die Entfernung zwischen unseren Heimatorten hatte uns eine Alles-oder-nichts-Entscheidung abverlangt. Sonst hätten wir uns kaum sehen können, und die Einzige, die von dieser Art Beziehung profitiert hätte, wäre meine Vielfliegerkarte gewesen. Aber jetzt begannen Barzinis Alarmglocken zu läuten. Aus sommerlichen Zerstreuungen waren winterliche Entscheidungen geworden, und unsere Zukunft lag im selben dichten Nebel wie Mailand. Sich verlieben ist leicht. Aber eine dauerhafte Beziehung zu führen ist schwer.
Trotzdem waren wir bereits weiter, als es uns Barzini prophezeit hatte. Anfangs war ich einfach nur auf ein schönes Mädchen scharf gewesen, mit dem ich mich kaum unterhalten konnte. Aber dann verliebte ich mich in eine sensible Frau, die wusste, wie kompliziert unsere Beziehung war, und sie hegte und pflegte wie das basilico, das in mammas Garten gedieh. Von Zeit zu Zeit wurde es von streunenden Katzen angepinkelt, aber das verstärkte sein Aroma noch.
Danielas Charakter machte unsere Beziehung überhaupt erst möglich. Sie verlor nicht einmal dann die Geduld, wenn wir vier Stunden brauchten, um einen zweistündigen Film zu sehen. Im Kino beugte sie sich immer wieder zu mir und flüsterte mir eine Übersetzung ins Ohr. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, den Film zu verstehen, um über so etwas wie Popcorn oder Küsse im Kino überhaupt nachzudenken.
Sie drängte mich nie, ihre Sprache zu lernen, und entmutigte mich auch nicht, wenn ich Fehler machte. Die machte ich auch ihr gegenüber, was sie mir aus irgendeinem Grund verzieh. Sie rügte Freunde, die zu schnell redeten, und alle, die Dialekt sprachen. »Bitte nur Hochitalienisch, vielen Dank«, pflegte sie stets zu sagen. »Wie würdet ihr euch fühlen, wenn er auf Englisch losquasseln würde?«
Da sie hatte mit ansehen müssen, wie ihr Vater auf tragische Weise vom Professor zum Patienten geworden war, besaß sie Mut, Zähigkeit und eine unglaubliche Willensstärke – alles Eigenschaften, die sehr wünschenswert sind, wenn ein erwachsener Mann in dein Leben tritt, um den man sich kümmern muss. Von dem Moment an, in dem ich in Italien ankam, war Daniela meine Geliebte, Lehrerin und Freundin. Dass wir beinahe ein Jahr später immer noch zusammen waren, lag an ihrer bewundernswerten Art, all diese Rollen gleichermaßen zu bewältigen.
Es gab natürlich auch schwierige Momente, in denen verschiedene Kulturen und Wünsche aufeinanderprallten. Daniela hasste meine Ordnungsliebe und ich ihre Unordnung. Ich war pünktlich, sie kam zu spät. Ich war organisiert, sie war zerstreut. Ich war direkt, sie schlug verbale Kapriolen. Sie warf mir vor, ich sei ungeduldig und stur. Und ich beschwerte mich darüber, dass sie nicht verstehe, wie allein man sich manchmal in einem Land fühlt, in dem niemand die eigene Sprache spricht. Unter welchem Druck ich stehe, und wie viele Kompromisse ich eingegangen sei, um in ihrer Heimat ein neues Leben zu beginnen. »Es gibt niemanden, der dich dazu zwingt«, sagte sie unbeholfen, aber mit einem hinreißenden Akzent.
Unser größtes Problem bestand darin, dass Daniela es mit der Wahrheit nicht immer sehr genau nahm. Über ihre Lippen sprudelten jede Menge höfliche kleine Lügen – durchschaubare und im Grunde harmlose Lügen, aber eben doch Lügen, die meistens nur Verwirrung stifteten. In unserem ersten Sommer in Andrano schlug sie eines Nachmittags vor, von Acquaviva nach Castro zu laufen, die durch einige Badeorte und wenige Kilometer getrennt waren. Da ich dachte, man müsse die schmale, gewundene Küstenstraße benutzen, die schon für Autofahrer und erst recht für Fußgänger lebensgefährlich ist, lehnte ich ab und schlug vor, stattdessen schwimmen zu gehen. »E dai«, bettelte Daniela. »Es gibt einen Fußweg.« Also brachen wir auf. Doch schon bald stellte ich fest, dass sie den Fußweg nur erfunden hatte, um mich zu dem Spaziergang zu überreden. Sie hatte das natürlich nur zu meinem Besten getan, denn ich brauchte ein wenig Bewegung.
Was ich logisch fand, fand Daniela, die es sogar fertigbringt zu behaupten, sie komme, wenn sie in Wahrheit geht, unlogisch. Sie rief mich einmal zu Hause an und sagte: »Arrivo«, um dann mehr als eine Stunde später aufzutauchen. »Ich war schon auf dem Heimweg«, protestierte sie, als sie schließlich da war. »Ich musste nur noch ein paar Einkäufe erledigen und Annas Katze füttern.« Aber als ich erst einmal begriffen hatte, dass sie mich in wesentlichen Dingen niemals belog, fand ich es eher faszinierend statt frustrierend, mit einer Frau zusammenzuleben, die in der Lage ist zu sagen: »Ich hab’s nicht vergessen. Ich hab mich bloß nicht mehr daran erinnert.« Es handelte sich schließlich nicht um meinen Geburtstag, also was soll’s? Als es dann fast so weit war, kam sie mit einem Paket nach Hause, für das ich mich interessierte. »Geh weg«, sagte sie nervös. »Da ist nichts für dich drin, nur irgendetwas.«
Weitaus störender war ihre Sturheit. Da ich aus einem wenig traditionsbewussten Land komme, konnte ich mich nie daran gewöhnen, dass Daniela stets auf die Uhr sah, wenn ich vorschlug, etwas zu tun oder jemanden anzurufen. Als ich erst kurz in Italien und noch nicht selbst dazu in der Lage war, bat ich sie, Riccardo, den Polizeichef, anzurufen, der angeboten hatte, mir mit meinen Papieren zu helfen.
»Jetzt?«, entgegnete sie entsetzt. »Er isst bestimmt gerade. Ich werde später anrufen.«
Nach einer Stunde erinnerte ich sie daran, und wieder sah sie auf die Uhr.
»Jetzt? Er wird bestimmt schlafen. Ich ruf später an.«
So verging der Nachmittag.
»Wie wär’s jetzt, mein Schatz?«
»Das ist doch nicht dein Ernst? Es ist nach fünf. Er wird ausgegangen sein. Ich rufe heute Abend an.«
Doch manchmal profitierte ich auch davon, dass Italiener solche Gewohnheitstiere sind. Im Sommer hatte ich zwischen zwei und vier die ganze Adria für mich allein. Nur wenige Italiener wagen sich ins Wasser, bevor nicht mindestens zwei Stunden nach der letzten Mahlzeit vergangen sind. Für sie kommt das fast einem Selbstmord gleich – man könnte schließlich einen Krampf bekommen und sinken wie ein Stein. Die Leute standen sogar Schlange, um mich ertrinken zu sehen – Daniela hätte Eintrittskarten verkaufen können. Aber nur weil die Wellen nie über mir zusammenschlugen, hatten sie noch lange nicht vor, ihre Gewohnheit zu hinterfragen. Und dann warf Daniela ausgerechnet mir vor, ich sei stur!?
Andererseits machte der Kampf der Kulturen das Leben auch interessanter und führte höchstens zu kleinen, wenn auch regelmäßigen, nervigen Auseinandersetzungen. Unterm Strich war unsere Beziehung ebenso schön wie schwierig, und mein Unwille, nach Süditalien zu ziehen, hatte nichts damit zu tun, dass ich an meinen Gefühlen für Daniela zweifelte. Ich hatte eher Angst davor, dass sich das ändern könnte, wenn ich erst einmal von Daniela abhängig wäre. In Mailand war ich wenigstens in gewissem Sinne selbstständig. In Andrano wäre ich in erster Linie weitab vom Schuss.
Meine Zukunftspläne hatten sich nie darum gedreht, einmal in einem winzigen italienischen Kaff zu wohnen. Bevor ich Daniela kennenlernte, hatte ich eine bescheidene Karriere als Journalist begonnen und gehofft, mich bei einer Zeitschrift oder Zeitung weiter nach oben arbeiten zu können. Aber wie sagt Woody Allen so schön: »Wenn du Gott zum Lachen bringen willst, brauchst du ihm nur von deinen Plänen zu erzählen.«
Über Francos Pläne lachte er bestimmt. Der Zustand von Danielas Vater verschlechterte sich, und ihre Mutter rief immer öfter an – nicht um ihre Tochter zu bitten, nach Hause zu kommen, sondern um zur Abwechslung mal eine andere Stimme als ihre eigene zu hören. Franco war verstummt. Alles, was er jetzt noch herausbrachte, waren ruckartig und unbeherrscht hervorgestoßene Sätze. Es brach der Familie das Herz, zusehen zu müssen, wie nichts mehr von ihrem Vater übrig blieb. Deshalb konnte ich Danielas Wunsch, ihren Vater zu pflegen, nur allzu gut nachvollziehen. Einen Vater, der sie mit auf die Welt gebracht, das Grübchen auf ihrem Kinn berührt und gesagt hatte:»Das muss das Gütesiegel der Engel sein.« Sie vergötterte ihn. Ich kannte ihn zwar nur aus den Geschichten anderer, liebte ihn aber trotzdem. Danielas Mutter brauchte sie. Sollte ich sie ziehen lassen oder mit ihr gehen?
Ich hatte immer noch keine Antwort auf diese Frage gefunden, als mir eine in Tränen aufgelöste Daniela, die schon seit Wochen kaum noch schlief, um zwei Uhr morgens ins Ohr flüsterte, dass sie eine Rückversetzung an ihre alte Schule beantragen würde. Sechzehn Monate waren vergangen seit jener Nacht in Sydney, in der sie mich gebeten hatte, nach Italien zu ziehen, und in der ich Ja gesagt hatte, noch bevor sie ihre Frage beendet hatte. Doch in dieser Nacht zögerte ich, als sie mich bat, mit ihr nach Andrano zu gehen. Ich sagte weder Ja noch Nein. Stattdessen erzählte ich ihr von meinem Entschluss, noch einmal für eine Weile nach England zu gehen, um über das glücklichste, aber auch schwierigste Jahr meines Lebens nachzudenken. Um in meiner Muttersprache zu schwelgen, alte Freunde zu besuchen, meine Batterien wieder aufzuladen und meine Abenteuerlust neu zu entfachen. Und natürlich, um mich umzuschauen und herauszufinden, ob mir die Vergangenheit eine Zukunft wies.
Ich hielt Daniela im Dunkeln fest, strich ihr übers Haar und trocknete ihre Tränen.
Mein Sommermädchen fühlte sich ganz dünn und kalt in meinen Armen an. Ich dachte daran, wie glücklich ihre Schüler sein würden, ihre Lieblingslehrerin zurückzubekommen. Wie glücklich ihre Mutter sein würde, wenn ihre Tochter wohlbehalten nach Hause zurückgekehrt war. Aber ich dachte auch daran, wie traurig wir sein würden, wie wir zu unterschiedlich für einen gemeinsamen Lebensweg waren. Daniela hatte einmal gesagt: Wenn es ihrem Vater noch gutgegangen wäre, hätten wir uns vielleicht niemals kennengelernt. Doch jetzt, wo er krank war, schien er uns ebenfalls auseinanderzubringen.
Dann quietschten draußen die Reifen, und eine Stimme schrie: »Vaffanculo!« – »Fick dich!«
Das Leben in Mailand würde auch ohne uns weitergehen.
 
Danielas Bitte um Rückversetzung wurde vom Schulministerium genehmigt, aber Danny weigerte sich, meine Kündigung in der Englischsprachschule zu akzeptieren. Wir kündigten unseren Mietvertrag ohne irgendwelche finanziellen Nachteile, auch wenn die Vermieterin darauf bestand, dass wir die Küche strichen, wenn wir unsere Kaution wiedersehen wollten. »Die Tomatensauce sollte sie eigentlich an die Freunde erinnern, die sie nicht hat«, sagte Daniela, als ich die Spuren unserer Sonntagabend-Spaghettatas beseitigte. Unser Aufenthalt in der Wohnung hatte wenig dazu beigetragen, Nord- mit Süditalien zu versöhnen. Aus unserer Sicht war unsere Vermieterin eine typische geldgierige Mailänderin. Und aus der Sicht unserer Vermieterin waren wir Faulpelze aus dem Süden.
Unsere letzten Tage in Mailand verbrachten wir dort, wo wir auch schon unsere ersten Tage verbracht hatten – bei Francesco. Ich würde meine Sachen bei ihm lassen, solange ich in England war. Ich besaß nicht viel, die Ausbeute meines Jahres in Italien befand sich in meinem Kopf, in meinem Herzen und beim Spengler. Unser Lancia, der vor neun Monaten noch so gut wie neu gewesen war, besaß inzwischen mehr Beulen als ein Pestkranker. Im teuren Mailand ließen wir nur das Nötigste reparieren, der Rest konnte bis zu Danielas Rückkehr nach Andrano warten, wo solche Arbeiten nur halb so viel kosten oder von einem Cousin erledigt werden.
Danny und die anderen Kollegen hatten einen Abschiedsabend organisiert. Weil sie schon früh mit dem Trinken anfingen, hatten wir vereinbart, uns um sechs auf den Stufen des Doms zu treffen. Daniela und ich nahmen eine Straßenbahn, die eigentlich an der Piazza Duomo hätte halten sollen. Aber je mehr wir uns dem centro storico näherten, desto mehr staute sich der Verkehr, und wir blieben stecken. Es dauerte nicht lange, bis der Fahrer die Türen öffnete, um etwas frische Luft hineinzulassen. Es war Mitte Juni, und die Abende waren so mild und angenehm, dass man mit kurzen Ärmeln herumlaufen konnte. Hundert Meter weiter befand sich eine große Kreuzung, an der sich trotz mehrerer Ampeln Straßenbahnen, Busse, Autos, Fahrräder, Vespas und Fußgänger nur selten einigen konnten, wer das Kopfsteinpflaster zuerst überqueren darf.
Wegen des Staus wurde gehupt. Italienische Autofahrer machen stets den Wagen dafür verantwortlich, der sich direkt vor ihnen befindet, auch wenn der Stau kilometerlang ist. Straßenbahnen standen sich reglos gegenüber, eine knallorange Schlange, bei der man unmöglich sagen konnte, wo die Nummer 16 aufhörte und die Nummer vier anfing. Vespas schlängelten sich zwischen den Autos hindurch, bis sie ihrerseits widerwillig zum Stillstand kamen. Ein besonders ungeduldiger Fahrer nahm den Bürgersteig und wich entgegenkommenden Fußgängern aus. Gesichter erschienen in den Fenstern, Ladenbesitzer eilten auf die überfüllten Gehsteige, und eine Nonne kam aus der Kirche San Tommaso und verrenkte sich den Hals in Richtung Kreuzung, die sich inzwischen sogar der Aufmerksamkeit Gottes sicher sein konnte.
Aber nicht jeder sah dorthin. Das Paar vor uns in der Straßenbahn setzte seinen Kuss fort und vergaß alles um sich herum. Er war der typische italienische, sehr von sich überzeugte Herzensbrecher mit einer Hose von Versace, künstlicher Bräune aus dem Solarium, schulterlangem Haar und einem hochgeschlagenen Hemdkragen. Sie war Engländerin, blass und dicklich und ganz sicher noch neu in Italien. Die ausgelassenen Mittdreißiger hatten sich erst kürzlich kennengelernt – »vielleicht sogar in der Straßenbahn«, flüsterte Daniela. Und die einzige gemeinsame Sprache, die sie hatten, war die ihrer feuchten Küsse, wobei sie ihr Publikum kein bisschen kümmerte.
Als sie schließlich merkte, dass alle Augen auf sie gerichtet waren, schob sie den Romeo von sich weg, zupfte ihre Bluse zurecht und setzte sich aufrecht hin. Daraufhin nahm er die Welt um sich herum erneut wahr und murmelte ein Kompliment.
»Verry much … traffico«, sagte er und rollte das R in beiden Sprachen.
»Ein Unfall?«, fragte sie.
»Penso proprio di si.«
»Wie bitte?«
»Si, si.«
Sie sah sich um und schien wie so viele Ausländer in Italien nervös zu werden, sobald das Gehupe losgeht, die Alarmsirenen losschrillen, die Stimmen lauter und die Gesten heftiger werden. Italiener sind an solche Szenen gewöhnt, aber Touristen glauben, der Weltuntergang stehe kurz bevor. Nachdem er in die Richtung aus dem Fenster gesehen hatte, wo der Lärm herkam, nahm er die Hand der Frau und sagte:»Andiamo. We walk.«
Als sie weg waren, nahm ich Danielas Hand und ahmte seinen unbeholfenen Befehl nach: »Andiamo. We walk, too
Ich zog die beiden ins Lächerliche, weil ich nur zu gut wusste, dass wir einmal ganz genauso gewesen waren. Vor weniger als einem Jahr war auch ich angesichts eines italienischen Unfalls nervös geworden. Ein Jahr später griff ich nun ruhig und gleichgültig nach Danielas Hand, so als sei sie der verwirrte Neuankömmling. Ich kannte mich aus und führte sie durch eine Schlange mit Autos, die es kaum erwarten konnten, nirgendwohin zu kommen. Ich überquerte eine weitere blutbefleckte Kreuzung, auf der eine Frau reglos am Boden lag, schob Passanten zur Seite wie Äste auf einem Waldweg und nahm dann eine Abkürzung, die direkt zum Dom führte, dessen prächtig weißer Marmor sich in der Abendsonne rosa färbte. Das sanfte Schimmern des Duomo bleibt meine schönste Erinnerung an Milano. Auch sie reichte nicht dafür aus, dass ich mir den Abschied noch mal überlegte, aber es war ein sehr schöner Abschied.
 
Am Tag unserer Abreise flogen Pollen durch die Luft und wirbelten durch die Straßen wie Schnee. Daniela und ich hatten jeden Tag des vergangenen Jahres gemeinsam verbracht. Jetzt stand unser erster Abschied bevor, der ebenso zärtlich wie angespannt verlief. Ihre zierliche Hand schien wie für die meine gemacht zu sein. Daniela war verzweifelt, und ich schützte Tapferkeit vor, aber als ich sah, wie ihr Wagen um die Ecke bog, fiel ein langer dunkler Schatten auf meine Welt.
Ich nahm einen Bus zum Flughafen und versuchte, nicht mehr an sie zu denken. Sie würde jetzt bald in Modena sein, hätte das Radio laut gestellt und das Fenster heruntergekurbelt. Ich checkte für den Flug nach London ein. Wetten, sie hört sich gerade das Crowded-House-Album an, das ich ihr geschenkt habe, summt mit und trommelt aufs Lenkrad? Ich trank einen Kaffee, während sich mein Abfluggate änderte. Bologna war ihr nächstes Ziel, dann die Adriaküste, 600 Kilometer immer am Meer entlang. Mein Flug wurde aufgerufen. Valeria würde etwas Besonderes kochen. Wahrscheinlich irgendein sizilianisches Willkommensgericht, es gab kulinarische Traditionen für jeden Anlass. Ich bestieg das Flugzeug und fand meinen Sitz. Wahrscheinlich ein Fleisch- oder Fischgericht, das denjenigen Glück bringt, die lange fort waren. Der Kapitän kündigte eine Verspätung an. Es würde getuschelt werden. Daniela kehrte allein zurück, und auf der Piazza würde die Gerüchteküche brodeln, was wohl der Grund dafür war. Das Flugzeug setzte sich in Bewegung, und ich blätterte die Seiten eines Buches um, das ich nicht las. Ob ihr Vater sie wohl noch erkennen wird?
Mein Flugzeug rollte an den Start. Regentropfen flohen das Fenster entlang, während die Maschine losdonnerte, bevor sie die Wolkendecke durchbrach und ihre Nase gen England wandte.
Daniela fuhr durch ein Schlagloch auf der Straße nach Andrano, wo die Glocke wild läutete, der frühlingshaften Mittagsstunde ein Lob- und der einsamen Heimkehrerin ein Willkommenslied sang.