22
Das globale Fischerdorf
Winter bedeutete Arbeit,
für mich und Daniela. Daniela unterrichtete seit Anfang September
und war wieder an ihre frühere Grundschule in Tricase
zurückgekehrt. Sie hatte ihre Schüler vermisst, die in ihrer
Abwesenheit dramatisch gewachsen und jetzt in dem seltsamen Alter
waren, wo ihre Zähne in dem Obst stecken blieben, das sie mittags
aßen. Aber die Schüler hatten sie mindestens genauso vermisst. Der
Junge, der seine Abschiedstränen damit gerechtfertigt hatte, dass
er sagte, er sei schließlich kein Roboter, schlug vor, den Tag
ihrer Rückkehr zu feiern, indem er ihn zum Daniela-Tag ausrief,
einem besonderen Feiertag, der jedes Jahr mit schulfrei begangen
werden sollte. Aus dem cleveren Zehnjährigen wurde bestimmt noch
mal ein guter Vermieter.
Danielas Job war
gesichert, aber meine Berufsaussichten waren ziemlich prekär. Aber
dank Mary aus dem Adria-Express, deren Freundin ich leichter hatte
finden können als sie ihren Galeristenfreund, bekam ich ein
Vorstellungsgespräch für eine Teilzeitstelle als Englischlehrer an
einer Sprachenschule. Daniela begleitete mich zu dem Gespräch, das
an einem Samstagabend in der Wohnung der Besitzerin der
Sprachenschule in der Altstadt von Lecce stattfand.
Claire war
Engländerin, lebte aber seit fünfzehn Jahren in Italien, wo sie
einen Italiener geheiratete hatte, von dem sie mittlerweile
geschieden war. Die kleine fröhliche Frau hatte zwei Kinder, drei
Vögel, zwei Hunde und eine Schildkröte, die alle beim
Vorstellungsgespräch dabei waren – eine wirklich seltsame Jury. Wir
saßen in ihrer Küche mit einer niedrigen Gewölbedecke, während die
Kinder auf der angrenzenden Terrasse spielten und eine Schnur
herabließen wie Fischer, die ihre Leinen auswerfen. Der
barista benutzte die mitgelieferten
Klammern und befestigte mehrere Leckereien wie Kartoffelchips und
Schokoriegel daran, woraufhin die Kinder die Schnur mit
hysterischem Kichern einholten. »Grazie«, riefen sie hinunter, wobei sie
Schalltrichter mit den Händen bildeten. »Prego«, kam eine schwache Antwort aus der
Tiefe.
Die Fragen, die mir
während des Vorstellungsgesprächs gestellt wurden, waren ganz
andere, als ich es erwartet hatte. »Magst du Italien?«, fragte
Claire und holte mir noch ein Bier. Das war eine Frage, die mir oft
gestellt wurde und um die ich mich möglichst herumdrückte. Nicht
weil ich nicht gewusst hätte, was ich darauf antworten sollte,
sondern weil die meisten Frager Italiener waren und eine positive
Antwort erwarteten. Aber Claire saß mit mir im selben Boot, was
bedeutete, dass ich ehrlich sein konnte, ohne zu riskieren,
irgendeinen Nationalstolz zu verletzen. »Ich finde das Leben in
Italien fantastisch frustrierend«, entgegnete ich. Es tat gut,
jemanden zu treffen, der genau wusste, was das bedeutet, ja sogar
meiner Meinung war. Ich hätte ihr den ganzen Abend lang erklären
können, was mich – neben Daniela – in einem Land hielt, das ebenso
frustrierend wie fantastisch war. Aber allein schon dieser Abend
sprach für Italien und seine unerwarteten Freuden, die unter
anderem darin bestehen, dass ein Mann auf der Suche nach einer
Teilzeitstelle eine Vollzeit-Freundin findet.
Ich erzählte Claire,
wie fehl am Platze ich mich plötzlich in England und Australien
gefühlt hatte. Ich erzählte ihr von dem schwierigen Privileg, zwei
Welten zu kennen, sich aber in keiner ganz zu Hause zu fühlen.
Claire lächelte. »Es wird nur noch schlimmer«, sagte sie. »Wenn ich
hier bin, vermisse ich mein Zuhause, und wenn ich zu Hause bin,
vermisse ich Italien. Ich glaube nicht, dass ich wieder von hier
weggehen werde. Trotz seiner Fehler hält mich Italien jung und
flexibel.« Ich fand es interessant, dass Claire England selbst noch
nach fünfzehn Jahren als »Zuhause« bezeichnete und nicht Italien.
Wenn Zuhause dort ist, wo das Herz wohnt, ließ das vermuten, dass
ihres woanders wohnte. Trotzdem war sie nach ihrer Scheidung in
Lecce geblieben. Ich konnte mir nicht vorstellen, in Andrano zu
bleiben, falls sich die Wege von Daniela und mir einmal trennen
sollten.
Wie in den meisten
Gesprächen über Italien kamen wir schon bald auf das Essen zu
sprechen. Und so fragte mich Claire als Nächstes nach meinen
kulinarischen und nicht nach meinen beruflichen Erfahrungen. Aus
irgendeinem Grund wollte sie wissen, was ich von der italienischen
Küche hielt. Vielleicht gab es eine Kantine in der Schule, die mir
gefallen sollte. Ich sagte, ich liebe das italienische Essen,
vermisse aber manchmal die kulinarische Vielfalt, vor allem die
asiatische Küche. Claire ging es ganz genauso, und so lud sie uns
für das kommende Wochenende zum Abendessen ein und versprach uns,
Sushi zu machen und ihre englische Freundin einzuladen. Sie nannte
mir die Adresse eines Geschäfts in Lecce, das Sojasauce und
Erdnussbutter verkauft. Sie wusste nicht, ob es dort auch
Vegemite gab, aber bestimmt
Marmite – was laut Claire dasselbe war.
Ich glaube, das war das erste Mal, dass wir an diesem Abend nicht
einer Meinung waren.
Mein Lebenslauf lag
ungelesen in Danielas Handtasche, während Claire fragte, ob ich am
folgenden Dienstag bereits unterrichten könne. Allein dass ich
Englisch sprach, schien ihr als Qualifikation völlig auszureichen.
Ich würde einen ihrer Kurse übernehmen, da sie ihren Kindern
versprochen hatte, nach Bari zu fahren, um die Ankunft eines
berühmten Kriegsschiffes anzuschauen. Ich bekam die Adresse der
Schule und ein Lehrbuch, mit dem ich unterrichten sollte. Italien
hatte auf Claire abgefärbt, die es vorzog, die Dinge erst mal
auszuprobieren, um zu sehen, ob sie funktionierten, anstatt sie
bereits im Vorfeld zu planen. Wir trafen nicht einmal eine
mündliche Vereinbarung – trotzdem wusste ich, dass ich den Job in
der Tasche hatte. Wie sollte ich jemals wieder jene formellen
Vorstellungsgespräche aus der mir vorher bekannten Welt
überstehen?
Je weiter der Winter
voranschritt, desto öfter traf ich Claire als Freundin statt als
Chefin. Nicht weil sie keine Arbeit für mich gehabt hätte, sondern
weil ich zu beschäftigt war, um sie anzunehmen. Die
Sportzeitschrift, für die ich gearbeitet hatte, bevor ich nach
Italien zog, beauftragte mich mit verschiedenen Geschichten aus
Europa. Und dank des Internets konnte ich sie von Andrano aus
recherchieren und schreiben – dem globalen Fischerdorf. Vor einem
Jahr waren wir widerwillig nach Mailand gezogen, damit ich Arbeit
fand. Dabei hätte ich die ganze Zeit über genauso gut vom Salento
aus arbeiten können.
Als begeisterter
Zeitungsleser hatte ich mir Sorgen gemacht, wie sich das Internet
wohl auf die Printmedien auswirken würde. Gleichzeitig half das
Internet den Printmedien und erlaubte es mir, Geschichten zu
schreiben, die ich sonst nie hätte verfassen können. Durch die
Vermittlung einer Londoner Medienagentur vereinbarte ich im Auftrag
einer australischen Zeitschrift ein Interview mit dem schwedischen
Motorradfahrer eines bevorstehenden Rennens in der Tschechischen
Republik – und das alles von einem italienischen Dorf aus, in dem
nicht mal Einheimische Arbeit finden. Ein anderes Mal schickte mir
der Chefredakteur von Inside Sport eine
Mail, in der er dringend um Fotos zu einem Artikel von mir bat. In
weniger als einer Stunde recherchierte ich in einem Strandhaus im
Absatz des italienischen Stiefels mit einer Decke über und einem
Laptop auf meinen Knien einen Fotografen in London, der mir eine
Bildauswahl zukommen ließ, die ich mit einem einzigen Tastendruck
nach Sydney schickte.
Das Internet ließ
aber nur virtuelle Grenzen schrumpfen, die ich dann noch körperlich
überwinden musste, um an meine Geschichte zu kommen. Aber genau das
war ja das Schöne. Im Laufe des Winters reiste ich nach Schweden,
Russland, in die Tschechische Republik und nach Österreich, um über
Speedway, Akrobatik und die Olympischen Spiele zu berichten. Eines
Morgens verließ ich wegen eines Auftrags Andrano und hielt an der
»California«-Tankstelle. Dort erklärte ich einem Mann, der noch nie
in seinem Leben eine E-Mail gesehen hatte, wie mir das Internet
half, von einem Zuhause aus zu arbeiten, das nicht mal vom
Postboten beliefert wurde. Ich war auf dem Weg nach Brindisi, um
einen frühen Flug nach Rom zu erwischen, wo mich Sandro Donati, der
Vorsitzende der Forschungsabteilung des Italienischen Olympischen
Komitees, für ein Nachmittagsinterview erwartete. Signor Api hörte
mir aufmerksam zu, während ich ihm erzählte, dass ich nach Rom
fliegen, das Interview machen, zurück nach Andrano fliegen, die
Geschichte schreiben und sie dann schneller nach Australien
schicken würde, als er brauchte, um meinen Wagen zu betanken. »Das
ist die Technik«, sagte Signor Api. »Die größte Zeitverschwendung
der Menschheit.« Ich hätte mir denken können, dass er eine ganz
eigene Sicht der Dinge haben würde.
Es war noch zu früh
am Tag, als dass sein selbst gemachter Fusel sein Urteilsvermögen
hätte trüben können. Deshalb glaubte er, bei diesem Thema mitreden
zu können.
»Die Technik bringt
uns den Fortschritt, Signor Api«, protestierte ich.
»Quatsch«, sagte er.
»Sie wirft uns zurück.«
Und schon ging es
los: »Ich kann verstehen, dass Sie das Internet gut finden, aber
wenn ich sehe, wie hier Autos mit eingebauten Fernsehern ankommen,
frage ich mich, wo das eines Tages noch mal enden
wird.«
Der Sprecher hatte
sich entfernt, erhob seine Stimme und gestikulierte in Richtung
Straße.
»Der Mensch macht
sich lächerlich, wenn er glaubt, dass ihm die Technik Glück bringt.
Die Technik hat kein Gewissen. Sie verzerrt alle Maßstäbe. Ein
Fernseher im Auto! Wozu denn das, verdammt? Alle wollen alles, und
zwar sofort, dabei gibt es nur noch wenig, was man wirklich sofort
haben müsste.«
»Und was ist mit
medizinischer Versorgung?«
»Wer vorsichtig
fährt, braucht keine medizinische Versorgung.«
Signor Api schloss
meinen Tankdeckel und winkte mir nach.
Eine der wenigen
technischen Errungenschaften, die Signor Api besaß, war der
Tankwagen in seiner Auffahrt, der ihm sein Auskommen und ein
einfaches Leben sicherte. Wieso nahm er sich da das Recht heraus,
hochtrabende Reden über die Technik zu halten, und das in einem
Ort, der mehr Geld für religiöse Feste ausgab als für seine
Infrastruktur? Und wieso traf er den Nagel gleichzeitig dermaßen
auf den Kopf? Ich gehörte einer modernen Welt an, Signor Api einer
alten. Ich betrachtete die Technik als etwas Unvermeidliches,
Signor Api als bloße Option. Hatte ich die Andranesi etwa unterschätzt? War es kurzsichtig von
mir gewesen, sie für kurzsichtig zu halten? Sie konnten sich
durchaus anständige Straßen leisten, wenn sie nur wollten. Sie
konnten sogar Linien darauf malen. Aber sie wollten einfach nicht,
weil sie andere Prioritäten hatten, die in der Vergangenheit lagen
statt in der Zukunft. Das war zwar nicht besonders aufgeklärt, aber
dafür unkompliziert und erfrischend.
Als ich nach Italien
zog, hätte ich nie gedacht, mich mit Leuten wie Signor Api wirklich
unterhalten zu können – geschweige denn, den Vorsitzenden des
Italienischen Olympischen Komitees vier Stunden lang auf
Italienisch zu interviewen. Schließlich hatte ich vor Kurzem noch
einen Kilometer Wurst bestellt. Sandro Donati hatte seine Karriere
der Aufklärung der im internationalen Sport weitverbreiteten
Korruption gewidmet. Bei der Leichtathletikweltmeisterschaft pfiff
er Schiedsrichter zurecht, die das Weitsprungergebnis eines
Teilnehmers bereits notierten, bevor er überhaupt gesprungen war,
um sicherzustelllen, dass der von ihnen unterstützte Sportler eine
Medaille gewann. In den Augen meines Chefredakteurs war Donati der
wahre Champion.
Als ich am selben
Abend spät aus Rom zurück- und auf dem Weg zu unserem Idyll am Meer
an der »California«-Tankstelle vorbeikam, hupte ich laut. Nach
diesem langen Tag sehnte ich mich nach einer Dusche, und Daniela
stand schon in der Küche und machte spaghetti
alle melanzane.
»Ich hab dir ganz
vergessen zu erzählen«, schrie sie über den Boiler hinweg, während
ich mich im Bad auszog, »dass der Vermieter die Wasserpumpe
reparieren ließ, während du weg warst.«
Ich drehte
erwartungsvoll den Hahn auf, woraufhin direkt unter dem Haus etwas
explodierte, der Boiler seine Arbeit einstellte und die Lampen zu
flackern begannen.
»Dieses geizige
Arschloch hat die Pumpe selbst repariert, stimmt’s,
Daniela?«
»Äh, nein«,
entgegnete sie schüchtern, eine weitere Notlüge, die mich
beziehungsweise den Vermieter vor mir schützen sollte.
Technik kann
durchaus glücklich machen, Signor Api. Vielleicht brauchen wir
zugegebenermaßen keine Fernseher in Autos, aber es gibt Dinge, die
man wirklich gern sofort hätte – heißes Wasser zum Beispiel. Als
ich sagte, das einfache Leben sei »erfrischend«, meinte ich damit
auf keinen Fall kalte Duschen im Winter.
Es war ein
Winternachmittag am Tag meiner Rückkehr aus Rom. Ich saß im
Strandhaus und arbeitete an meinem Artikel, als ein Wagen vorfuhr.
Für das Liebespaar war es noch zu früh, also ging ich zum Fenster,
um zu sehen, wer sich bei diesem Sauwetter sonst bis zum Hafen
vorwagte. Ich identifizierte den Fahrer des silbernen Audi als
Carlo, ein Freund von Danielas Familie. Ich bat ihn herein und bot
ihm ein Glas Whiskey an, damit er sich aufwärmen konnte. Das
Thermometer vor der Tür zeigte drei Grad Celsius, und ich hatte das
Kaminfeuer ausgemacht, da ein Sturm vom Meer den Rauch zurück ins
Zimmer blies.
Der große Mann mit
dem dicken Schnurrbart und dem immer dünner werdenden schwarzen
Haar leerte sein Whiskeyglas – ein ehemaliges Marmeladenglas – auf
einen Schluck. Entweder er wollte so schnell wie möglich sagen,
weshalb er gekommen war, oder meiner simplen Behausung entfliehen.
Er war gekommen, um Daniela und mich zum Abendessen einzuladen, ein
Nein ließ er nicht gelten. Wegen seiner Zentralheizung und weniger
wegen seiner Gesellschaft sagte ich zu, vermutete jedoch
gleichzeitig irgendeine Falle. Wahrscheinlich mal wieder eine
dringende Übersetzung, weshalb sich Carlo, der nichts mehr liebte
als seinen Ledersessel, mitten im Winter an den Hafen hinausgewagt
hatte.
Das Essen war
köstlich: pasta al pomodoro, gefolgt
von einem einheimischen Fisch in Salzkruste. Carlo hatte den ganzen
Nachmittag in der Küche verbracht. Nachdem er sich im reifen Alter
von siebenunddreißig Jahren mit einer Beamtenpension ins
Privatleben zurückgezogen hatte, war er so etwas wie ein Hausmann
geworden, während seine Frau Rosaria in Lecce in einem Büro
arbeitete. Nachdem Rosaria den Tisch abgeräumt, aber unsere Gläser
stehen gelassen hatte, flüsterte Carlo seinem Sohn Roberto etwas
zu. Daraufhin verließ dieser kurz den Raum, bevor er mit einem
Stapel Papier zurückkehrte – es wurde also höchste Zeit, mir mein
Essen zu verdienen. Diesmal handelte es sich um keine Übersetzung,
sondern um ein Bewerbungsschreiben auf eine Stelle in Rom, bei
einer Firma, die angeblich die Positionen von Weltraumsatelliten
kontrolliert. Das Bewerbungsformular musste auf Englisch ausgefüllt
werden, eine Sprache, die weder Roberto noch seine Eltern – noch
sonst irgendjemand in Andrano – beherrschte.
Obwohl Roberto
relativ ausgefüllt damit war, den ganzen Tag mit seiner Vespa durch
den Ort zu düsen, wollte ihn Carlo unbedingt loswerden, damit er
ihm nicht länger auf der Tasche lag. Er war dermaßen verzweifelt,
dass ihn die absolute Unqualifiziertheit seines Sohnes für diesen
Job kein bisschen zu stören schien. Nachdem ich mir das Formular
durchgelesen hatte, bekundete ich meinen Widerwillen fortzufahren
und erklärte möglichst höflich, dass Roberto keinerlei Chancen
habe. Carlo, dessen Schnurrbart mit Tomatensauce bekleckert war,
befahl mir jedoch, jede Frage bestmöglich zu beantworten und seinen
Sohn notfalls zum Doktor zu machen, wenn es das war, was die Firma
hören wollte. Ich nahm einen großen Schluck grappa und bemühte mich, Carlo und seinem
Prachtstück von Sohn zu erklären, dass die Firma, wenn ich seinen
Sohn zum fließend Englisch sprechenden Ingenieur erklärte, auf
jeden Fall erwarten würde, dass er die Lügen auf dem Formular
vorlesen könne, wenn es zum Bewerbungsgespräch käme.
Carlo, der merkte,
dass ich nicht lügen wollte, versicherte mir schnell, dass Roberto
vor dem Vorstellungsgespräch durchaus noch Englisch lernen würde.
»Schau nur, wie gut du Italienisch gelernt hast«, sagte er. »Wie
schwer kann das sein?« Als ich das als höchst unwahrscheinlich
abtat, wurde Carlo ungeduldig, holte ein Stück Papier aus seiner
Brusttasche und hielt es mit so einer dramatischen Geste hoch wie
ein Fußballschiedsrichter die rote Karte. »Siehst du das, Crris?«,
fuhr er fort, ließ das Stück Papier auf den Tisch fallen und
klopfte zweimal darauf wie bei einem Zaubertrick. »Mit diesen
Kontakten zum Vatikan ist das Formular, das du ausfüllst, reine
Formalität. Wahrscheinlich wird es sowieso nie jemand lesen.« Sein
Gelächter wich einem Husten, als er sich eine weitere Zigarette
anzündete. »Und warum füllt es dann Roberto nicht aus?«, fragte ich
trotzig und überraschte alle am Tisch, vor allem aber Daniela, die
um die harmonische Stimmung fürchtete.
Meritismo sagte diesem Faulenzer nicht das
Geringste. Wenn man einen Job bekam, dann, weil man jemanden
kannte, und zwar unabhängig davon, was man alles nicht konnte. An
Carlos Abendbrottisch prallten zwei Welten aufeinander. Er hatte
mir Essen gekocht, mir grappa
eingeflößt und mir Komplimente über mein Italienisch gemacht. Was
musste er noch alles tun, um mich ins Boot zu holen? Statt seinen
Sohn zu erziehen, versuchte Carlo, mich zu erziehen: »Wir sind hier
in Italien, Crris«, sagte er. »Was ich vorhabe, ist gar nichts. Es
gibt Leute, die dafür bezahlen, einen Job zu bekommen.« Na, dann
zück mal lieber dein Scheckbuch, Carlo.
Carlos Situation
erinnerte mich an einen Cartoon, den ich in einer italienischen
Zeitung gesehen hatte. Die »Davor«und »Danach«-Bilder kommentierten
die Nachricht von der Abschaffung der Wehrpflicht und die Absicht,
die Zwangssoldaten durch gut bezahlte Berufssoldaten zu ersetzen.
Der »Davor«-Cartoon, der sich auf die Wehrpflicht bezog, zeigte den
Vater eines dämlich aussehenden Jungen, der einen General bestach
und ihn bat, er solle dafür sorgen, dass sein Sohn nicht eingezogen
würde. Der »Danach«-Cartoon zeigte dieselbe Szene, nur dass der
Vater den General diesmal bat, dafür zu sorgen, dass sein Sohn
eingezogen würde.
In Süditalien, wo
Jobs extrem dünn gesät sind, tun besorgte Väter wie Carlo alles, um
ihren Kindern eine Stelle zu verschaffen. Das rief mir wieder vor
Augen, was für ein Glück ich hatte, in Lecce unterrichten und in
Andrano schreiben zu können. Der Stiefelabsatz ist für die
italienische Regierung seit Langem so etwas wie eine Achillesferse.
Und wenn die Situation in Apulien kritisch war, dann war sie in
Kalabrien katastrophal – die Spitze des Stiefels hat die
zweifelhafte Ehre, die höchste Arbeitslosenquote in ganz Europa zu
besitzen. Unfruchtbare Felder säen Verzweiflung. In einem
abgelegenen sizilianischen Dorf ermordete ein Arbeiter, der
manchmal vom municipio beschäftigt
wurde, den Bürgermeister und vier Verwaltungsbeamte, als man ihm
die Bitte um einen Vollzeitjob abschlug.
Ironischerweise war
es Carlos Generation, die der von Roberto das Leben schwermachte.
Die Christdemokraten, die seit Gründung der italienischen Republik
beinahe vierzig Jahre lang regiert hatten, konnten trotz einer
schwachen Koalition nach der anderen auf eine treue süditalienische
Wählerschaft zählen, und zwar überwiegend wegen einer clientelismo genannten Praxis, nämlich dem Tausch
von Jobs im öffentlichen Dienst gegen Stimmen. Im Jahr 1976 hatte
Palermo mehr als 2500 Müllmänner!
Um Beamtenstellen
freizumachen, die gegen politische Loyalität eingetauscht worden
waren, schickte die Regierung die Leute extrem früh in Pension,
indem sie die Lebensarbeitszeit von fünfunddreißig auf neunzehn
Jahre, sechs Monate und einen Tag herabsetzte – auch wenn die
meisten diesen letzten Tag freinahmen. Das half zwar den
Christdemokraten, ihre Macht im Süden zu festigen, ruinierte aber
gleichzeitig den Staatshaushalt, da siebenunddreißigjährige,
arbeitsfähige Menschen großzügige Pensionen bezogen.
Roberto hatte unter
den Konsequenzen zu leiden und musste für die Frühpensionierung
seines Vaters bezahlen. Ihm bleibt ein Job im öffentlichen Dienst
verwehrt, da diese Stellen seit der Heraufsetzung der
Lebensarbeitszeit mittlerweile rar sind. Und jeder Job, den er mit
viel Glück und mit oder ohne Vatikankontakte in der freien
Wirtschaft bekommen kann, unterwirft ihn Italiens lähmenden
Steuersätzen, die ein Jurastudent, den ich in Mailand
unterrichtete, einmal als obszön bezeichnet hat. Aber irgendjemand
muss ja für Carlo zahlen: Er, der schon als grüner Junge in Rente
geschickt wurde, Tomatensauce im Bart und eine Zigarrette zwischen
den Lippen hat, darf sich jetzt von seinem Lieblingslehnsessel aus
Sorgen um die Zukunft seines Sohnes machen.
Daniela gab mir
unter dem Tisch einen Tritt und warf mir einen Blick zu, der mich
anflehte zu kollaborieren, in erster Linie wegen der Freundschaft
ihrer Familie zu Rosaria und weniger wegen Carlo. Aber wie konnte
ich schreiben, dass ihr Sohn einen Universitätsabschluss besaß,
wenn er die Schule in Wahrheit weit vor dem Läuten der Schulglocke
verlassen hatte? Ich sah mir das Feld an, in dem Details der
jetzigen Lebenssituation des Bewerbers abgefragt wurden. Roberto
fand es nicht sehr klug zu schreiben, dass er zweimal die Woche in
örtlichen Bars Cappucinos ausschenkte, weil das eine Firma, die
sich auf Satellitensteuerungssysteme spezialisiert hatte,
wahrscheinlich nicht interessieren würde. Das war die erste
intelligente Bemerkung, die ich bisher von ihm hörte. Zu dumm, dass
er sie nicht auf Englisch gemacht hatte. Carlo schlug vor, ich
solle schreiben, dass Roberto zwei Kurse besuche, einen in
Multimedia und einen in Französisch. Als ich protestierte,
erinnerte er mich erneut an die Irrelevanz dieses Formulars, hielt
seine Trumpfkarte hoch und drängte mich, das Feld auszufüllen, in
dem nach Referenzen gefragt wurde. Dort musste ich alle sieben
Vatikankontakte hinschreiben, obwohl nur Platz für zwei vorgesehen
war. Der Glückspilz Carlo war ein religiöser Mann, denn sonst hätte
seinem Sohn nicht einmal mehr das Beten geholfen.
Ich ließ den Stift
sinken und sah Carlo an, der wie aus Scham hinter einer dicken
Wolke Zigarettenrauch verschwunden war. Wenn ich nicht gehört
hätte, dass er hustete, hätte ich schwören können, er habe sich in
Luft aufgelöst. Trotz der Kälte war ich entzückt, in die Einsamkeit
und zu den Sternen über unserem Strandhaus zurückzukehren. Dort
schenkte ich mir einen Gutenachttrunk ein und nahm meine Arbeit an
dem Artikel über Korruption im Sport wieder auf, während ein
ausgesetzter Hund auf meinem Schoß lag und der Architekt mit seiner
Geliebten über uns die Fundamente des Gebäudes austestete. Gab es
irgendwo auch noch ehrliche Leute?
Roberto bekam den
Job in Rom. Ich kann immer noch nicht glauben, dass ihn die Firma,
von der Carlo getönt hatte, tatsächlich genommen hat. Ich kann
Ihnen nur empfehlen, sich vor abstürzenden Satelliten zu
hüten!
Die Nächte wurden
kürzer und die Tage länger, das Meer beruhigte sich, und der Himmel
klarte auf, Zweige knospten, Kamine hörten auf zu rauchen, und
Signor Api tauchte wieder hinter seiner Wollmütze auf, obwohl er
den Overall noch ein, zwei Monate länger tragen würde. Andrano
erwachte mit den Geräuschen und Gerüchen des Frühlings zu neuem
Leben: mit Mohnblumen, Rotkehlchen und dem Pfeifen eines
vorbeifahrenden Radlers.
Das Ende des Winters
läuteten zwei Festivals ein, ein religiöses und, Gott sei Dank, ein
heidnisches. San Martino hatte den
Beginn der Kälte angekündigt, jetzt feierte man mit carnevale ihr Verschwinden. Ende Februar versammeln
sich die Andranesi auf der Piazza
Castello für ein Fest, mit dem die Italiener »den Sieg des
Frühlings über die Dunkelheit des Winters« feiern. Viele Einwohner
hatten sich seit dem Weinfest nicht mehr gesehen. Doch obwohl sie
sich trafen, blieb ihre Identität geheim, denn auf dieser anonymen
Feier war Verkleidung Pflicht.
Das Motto der
Veranstaltung war simpel: »A carnevale ogni
scherzo vale« – »Im Karneval ist alles erlaubt.« Eine
gruselig aussehende Truppe von Teufeln, Trollen und Hexen, die alle
aussahen wie unser Vermieter, hüpften auf der Piazza herum und
spritzten sich mit Rasierschaum und Wasserpistolen voll. Vor der
Party war eine Parade durch den Ort gekurvt. Auf den Wagen waren
satirische Pappmascheefiguren zu sehen gewesen wie Berlusconi, der
an einen Lügendetektor gekettet war, und Michael Schumacher, der
auf einem Ferrari stand und eine Trophäe schwenkte.
Andrano feiert nur
einen Abend lang, aber der carnevale
dauert eine Woche, ein Zeitraum, in dem sich Freunde in ganz
Italien einen Streich spielen. Francesco schickte einen gefälschten
Brief vom Standesamt an Antonio und Adele und informierte sie, dass
es illegal sei, ein Kind nach einem geographischen Ort zu benennen.
Er gab ihnen zehn Tage Zeit, den Vornamen ihrer Tochter zu ändern.
Antonio gab zu, einen Moment verunsichert gewesen zu sein, bis ihm
auffiel, dass erst ein Jahr seit Asias Geburt verstrichen war – und
so schnell hätte eine italienische Behörde niemals
reagiert.
Daniela hatte schöne
Erinnerungen an carnevale, und dafür
waren vor allem die Streiche ihrer Mutter verantwortlich. Vor
einigen Jahren hatte sich Valeria mit einem befreundeten Lehrer als
dicker Mann verkleidet, war über die Piazza gelaufen und hatte
ihren Schülern gesagt, sie sollten »andare a
fare in culo«, also »sich selbst ficken« – kein besonders
schöner Satz für Kinderohren, der allerdings auf Italienisch
wesentlich netter klingt als in der Übersetzung. Das vulgäre Duo
stahl allen die Schau, und noch Wochen nach carnevale rätselte der ganze Ort, wer das wohl
gewesen war. Valeria hatte sich bei einer Freundin in Marittima
verkleidet, und nicht einmal Franco wusste, dass seine Frau das
Gesprächsthema im ganzen Ort war. Als es ihm Valeria einen Monat
später gestand, regte er sich furchtbar auf. Aber sie verteidigte
ihre Posse, indem sie sagte: »Meine Schüler behandeln mich jeden
Tag wie den letzten Dreck. Da wurde es höchste Zeit, es ihnen
endlich mal heimzuzahlen.«
Über zehn Jahre
später holten Daniela und ich Franco, der mittlerweile unfähig war,
sich aufzuregen, ans Fenster, um die am Haus vorbeiziehende Parade
anzuschauen. Die Straße war vollkommen für den Verkehr gesperrt
worden, und zwar vom vigile, dem
einzigen Festbesucher, der normal angezogen war, auch wenn
irgendein Witzbold Hörner an seinem Helm befestigt hatte. In einem
Ort, in dem jeder jeden kennt, ist es bizarr, plötzlich niemanden
mehr zu kennen. Aber die Andranesi
amüsierten sich prächtig darüber, nicht sie selbst zu sein, und
maskierten sich als eine Menagerie aus Monstern und Kobolden.
Hulk schwang sich aus einem Baum, und
ein Teufel drohte einer Nonne mit einer Forke aus Pappmaschee. Ein
kaum bekleidetes Nymphchen mit einer Monstermaske rannte schreiend
die Straße hinunter und wurde von einem lüsternen Priester
verfolgt, der nach ihrem Busen griff.
Ich sah der Frau in
dem engen Rock und dem knappen Oberteil gerne zu, nicht weil sie –
wer immer das auch sein mochte – attraktiv war, sondern weil der
Sommer bei diesem kurzen Kostüm bestimmt nicht mehr lange auf sich
warten ließ. Und das war wirklich ein Grund zum
Feiern.