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Der Adria-Express
 
Wer mit dem Morgenzug von Mailand nach Lecce fährt, braucht erst gar nicht auf die Anzeigetafel zu sehen, von welchem Gleis der Zug abfährt. Es reicht, den Blick über die Züge in Mussolinis wuchtiger Stazione Centrale schweifen zu lassen, über die glänzenden Eurostars, deren Nasen mit dem Blut kontinentaler Insekten bespritzt sind. Zwischen diesen schlanken Hochgeschwindigkeitszügen entdeckt man dann irgendwann ein altes klappriges Gefährt, das nicht so aussieht, als könne es den Bahnhof überhaupt noch verlassen, geschweige denn die tausend Kilometer lange Strecke nach Süden bewältigen. Das ist der Adria-Express: zu langsam, um eine Mücke zu morden, und auch seine Graffiti hätten ebenso gut bei voller Fahrt aufgesprüht werden können.
Danielas Bruder hatte mir einen Platz in der Bummelbahn gebucht, nachdem ich ihn von London aus angerufen und angekündigt hatte, dass ich meine Sachen abholen, eine Nacht bleiben und am nächsten Tag nach Lecce fahren würde. Francesco war sehr hilfsbereit gewesen und hatte mich sogar vom Flughafen abgeholt. Jedes ungute Gefühl hinsichtlich unserer gescheiterten beruflichen Zusammenarbeit war wie weggeblasen. Er freue sich, mich wiederzusehen, sagte er, bevor er sich für den Zustand seiner Wohnung entschuldigte, die er nach unserer Abschiedsparty immer noch nicht aufgeräumt hatte.
Es war früher Abend, als ich in Francescos Wohnung ankam, und kurz darauf klopfte es an der Tür. Seine neugierige Nachbarin hatte irgendwie von meiner Irrfahrt erfahren, wahrscheinlich hatte sie gelauscht, denn die Wand war so dünn wie eine Tapete. Sie fragte, ob ich nicht vielleicht ein Fresspaket für ihren Sohn mitnehmen könne – ein Soldat, der unweit von Lecce stationiert war. Ich sagte, gern, ohne zu ahnen, dass sie damit einen ganzen Koffer meinte, der genauso groß war wie meiner. Sie kochte die ganze Nacht und passte mich an der Haustür ab, als ich Francescos Wohnung am nächsten Morgen verließ. »Attenzione«, sagte sie und hielt den Koffer waagrecht. »Könnten Sie ihn bitte so tragen? Ich möchte nicht, dass die Saucen auslaufen.«
Es war ziemlich viel Verkehr in der Stadt, und ich war trotz der Zeitsparstrategien meines Taxifahrers spät dran. Der fuhr mit seinem Fiat durch Seitenstraßen und benutzte das Lenkrad einerseits, um damit zu lenken, und andererseits, um sich daran festzuhalten. »Wann geht Ihr Zug?«, fragte er und sah sich nach mir um.
»Um neun«, sagte ich und klammerte mich an den Türgriff.
»So ist das mit den italienischen Zügen. Man weiß, wann man losfährt, aber nie, wann man ankommt.«
Hauptsache, man kommt überhaupt an, dachte ich.
Weniger als eine Minute vor der Abfahrt schleifte ich mein eigenes Gepäck und das Abendessen eines unbekannten Soldaten zu meinem Waggon am Anfang des Zugs. Der war so lang, dass er über den Bahnsteig hinausging. Ich stieg ein, als schon zur Abfahrt gepfiffen wurde und die Türen sich schlossen – ein atemloser, aber angebrachter Abschied von einer Stadt, die ich stets als hektisch in Erinnerung behalten werde. So, als wolle er Anlauf nehmen, rollte der Zug ein paar Sekunden lang rückwärts, bevor er einen Satz in die richtige Richtung machte und aus dem Bahnhofsgebäude in die helle Julisonne rumpelte. Zum zweiten Mal innerhalb von drei Tagen verabschiedete ich mich von Mailand und hoffte, diesmal nicht mehr so schnell zurückzukehren.
 
 
Milano – Bologna
 
Der Intercity schlingerte über ein Gewirr an Gleisen, bevor er den Bahnhof hinter sich ließ. Als wir Kurs gen Süden nahmen, wichen die Wohnblocks allmählich Fabriken und schließlich Feldern. Der Waggon hatte einen Gang zur Linken, zur Rechten befanden sich Abteile mit je sechs Sitzplätzen. Die Wände meines Abteils schmückten Fotos von den vier Jahreszeiten, aber wir hielten aus unerfindlichen Gründen so oft, dass ich schon befürchtete, mindestens zwei davon vor meinem Fenster verstreichen zu sehen. Zwischen den Bildern hing ein kaputter Spiegel, ein Schild am Fenster warnte in vier Sprachen davor, sich hinauszulehnen, und an der Tür stand »Rauchen verboten«. Das hielt allerdings auch niemanden davon ab, sich eine Zigarette anzuzünden. Doch nur wenige beschwerten sich darüber, dass der Zigaretten- den Uringestank der Toilette am Anfang des Waggons überdeckte. Und dafür hatte ich mich so beeilt? Ich hatte eine lange Reise vor mir.
Die lahme Lokomotive zog Waggons, die allesamt unbequem und überfüllt waren. Passagiere ohne Platzreservierung saßen im Gang und wurden von jenen fast zertrampelt, die auf dem Weg in ihre klaustrophobischen Abteile waren. Trenitalia verkauft mehr Plätze, als eigentlich vorhanden sind. Wer keine Reservierung kaufen will, steht ebenfalls im Gang. Und da es Anfang Juli war und die Schulferien soeben begonnen hatten, gab es viele, denen das nichts ausmachte – Hauptsache, sie kamen schnellstmöglich ans Meer. Mensch und Tier konnten es kaum erwarten, Mailand zu verlassen. Ein Passagier versorgte seine Schildkröte mit ein paar Tropfen Wasser, bis sie selbst einige Tröpfchen ließ. Die Schildkrötenpisse stank faulig, und ich vergaß schnell die anderen Gerüche, die unseren Zirkuswaggon füllten.
Hier wurde offensichtlich, warum der Süden verachtet wird. Ich war mit Zügen durch ganz Norditalien gefahren, die schnell, sauber und zuverlässig waren, auch wenn Pünktlichkeit bedeutete, dass sie mindestens eine Viertelstunde Verspätung hatten. Aber diese antike Waggonsammlung sollte mit Sicherheit auf Nimmerwiedersehen ganz unten in den italienischen Stiefel verbannt werden. Der Schriftsteller Guido Ceronetti muss einen ganz ähnlichen Zug benutzt haben, denn er schrieb, diese italienischen Züge verlangten einem Reisenden eine Engelsgeduld ab! Diese dreckigen Blechkisten ohne jeden Fahrplan erinnerten einen eher an Züge aus den Anden oder aus Kalkutta. Das Einzige, was noch fehlte, war Vieh, obwohl die Passagiere eingesperrt waren wie Sardinen in eine Dose. Und dann war da natürlich noch die Schildkröte, dieses inkontinente Mistvieh.
Wenn Italien die Form eines Stiefels hat, ist dieser gleichzeitig eine perfekte Metapher. So gesehen war der Adria-Express sein kaputter Reißverschluss, der auf seinem Weg durch den auf Hochglanz polierten Stiefelschaft – Norditalien – zur kaputten, abgelaufenen Sohle – Süditalien – regelmäßig hängen blieb. Während dieser Reißverschluss langsam nach unten glitt, Zähnchen für Zähnchen, Bahnhof für Bahnhof, öffnete er den Stiefel ein wenig mehr und erlaubte mir zum ersten Mal, seine Passform zu überprüfen und die Unannehmlichkeiten seines plumpen Absatzes zu spüren, der einem eine gehörige Portion Stoizismus und Anpassungsfähigkeit abverlangt, wenn man die Blasen überleben will.
Unser langer Weg war wie eine Reise in die Vergangenheit, und die Warnungen meiner Schüler hallten mir in den Ohren wieder. Während unserer Zeit in Mailand hatte ich Daniela gegenüber höflichkeitshalber so getan, als sei der Unterschied zwischen Nord- und Süditalien gar nicht so groß. Doch jetzt bekam ich Bedenken und befürchtete, den Unterschied drastisch unterschätzt zu haben. Das, was ich als blinden Rassismus abgetan hatte, war in Wahrheit hellsichtige Kritik. Als ich überlegt hatte, Daniela in den Süden zu folgen, hätte ich dem Mann in den Abendnachrichten vielleicht doch etwas besser zuhören sollen: Dieser hatte eine Wasserflasche in die Kamera gehalten und verkündet: »Das ist mein Urin. Ich hatte keine andere Wahl. Sechs Stunden in einem Zug ohne Toilette. Warum passiert so etwas immer nur hinter Rom?« Eine gute Frage, genau wie die, was ich da unten eigentlich zu suchen hatte. Aber ich biss die Zähne zusammen und hielt mir die Nase zu. »Hinter Rom«, genau dort fuhr ich hin. Im Schneckentempo.
Eine Durchsage hieß die Passagiere auf der Fahrt mit Trenitalia nach Lecce willkommen und informierte uns, dass der »Chef Express – das Restaurant auf Rädern« – uns jetzt in Waggon Nummer fünf erwarte. Es folgte eine Aufzählung von Snacks, und im Anschluss wurden die Reisenden sofort daran erinnert, ihre Quittungen bis nach dem Verlassen des Zuges zu behalten. Die Fangarme der Guardia di Finanza reichen überallhin.
Den Großteil der Strecke nach Bologna verbrachte ich damit, dass ich mich mit einer Frau am Fenster unterhielt. Ich identifizierte sie schnell als Engländerin, als ich sie bat, ihre Tasche in das Gepäcknetz zu legen, damit ich ein weiteres Restaurant auf Rädern – den Koffer des Soldaten – waagrecht unterbringen konnte. Als ich den englischen Akzent hinter dem ungerollten R in ihrer höflichen Antwort – »certo« – wahrnahm, fragte ich, woher sie sei.
»Aus London. Und Sie?«
»Aus Sydney.«
»Ah ja.«
Mary war gewiss einmal sehr schön gewesen und wild entschlossen, ihr wahres Alter mithilfe der Garderobe ihrer Tochter, einem Kilo Make-up und einem Liter Parfüm zu verschleiern – wobei Letzteres angesichts des Uringestanks im Zug eine ziemliche Verschwendung darstellte. Die Fünfundfünfzigjährige, die versuchte, als Dreißigjährige durchzugehen, war ebenso selbstbewusst wie bezaubernd – die Art Frau, die man sich als Mutter seiner Freundin wünscht. Sie berührte mich am Arm, während sie sprach, und beugte sich vor, wenn sie mir Fragen stellte – etwa die, was ich in diesem »Höllenzug« überhaupt zu suchen hätte.
Als ich ihr erzählte, dass ich in ein Fischerdorf am Stiefelabsatz zöge, gab sie mir die Telefonnummer einer englischen Freundin, die für eine Kette von Sprachschulen in Italien arbeitete und von der es, wenn sie sich richtig erinnerte, auch eine Filiale in Lecce gab. »Rufen Sie sie an«, sagte sie. »Sie wird begeistert sein, in dieser entlegenen Gegend auf einen englischen Muttersprachler zu stoßen.« Ich war entzückt. Danielas Hauptsorge hinsichtlich meines Umzugs nach Süditalien waren die miserablen Jobaussichten – ein Problem, das ich unter Umständen schon vor meiner Ankunft gelöst hatte.
Wie um das Ende meiner Geschichte zu markieren, blieb der Zug stehen und fuhr wieder an, als Mary mit ihrer begann. Vor fünfzehn Jahren hatte sie einen italienischen Millionär geheiratet, von dem sie inzwischen geschieden war, »allerdings nicht ohne richtig viel Geld mitzunehmen«. Derzeit lebte sie mit ihrem »neuen Mann« in Como, der »nur halb so alt ist wie ich, mit dem ich aber doppelt so viel Spaß habe«. Ihr geliebter »Robbie«, wahrscheinlich ein englischer Kosename für Roberto, war ein Galerist, der überall auf der Welt ausstellte, während Mary »an den Wochenenden zu ihm stieß«. Vielleicht fühlte sie sich in Anwesenheit der alten Ölschinken jünger. An diesem Wochenende war ihr Robbie auf einer Messe in Bologna. Oder vielleicht doch nicht?
Als der Zug die Hauptstadt der Region Emilia Romagna erreichte, wählte Mary wiederholt Robbies Nummer und wurde zunehmend frustrierter, als er nicht dranging. Ich überließ sie ihren Anrufen und sah, wie die Felder am Fenster vorüberglitten. Wie die meisten Mitreisenden tat ich so, als interessiere ich mich nicht für ihre Männerjagd. Schließlich gab sie es auf und rief Robbie stattdessen in seinem Hotel an. »Aber er muss doch da sein«, protestierte sie, »Ich habe ihm das Zimmer doch selbst reserviert.«
Während der nächsten zwanzig Minuten versuchte Mary ihren Ehemann bestimmt ein Dutzend Mal zu erreichen. Als er endlich dranging, drehte sie sich auf der vergeblichen Suche nach etwas Privatsphäre zum Fenster. Die einzige Alternative wäre die Toilette gewesen, und das kam für eine Frau in Armani nun wirklich nicht infrage. »Was soll das heißen, du bist gerade erst aufgestanden?«, fragte sie auf Englisch, womit sie die Anzahl der Mithörer in unserem Abteil auf einen reduzierte. »Du musst doch in zehn Minuten auf deiner Messe sein. Und warum übernachtest du nicht in dem Hotel, das ich für dich gebucht habe?« Mary hielt sich das andere Ohr zu, als ein vorbeifahrender Zug unser Fenster zum Zittern brachte – bestimmt war es Jahre her, dass sie so eine unelegante Pose eingenommen hatte. »Hör zu, lass uns später darüber reden«, rief sie. »Ich treffe dich in einer Stunde in der Galerie.« Dann klappte sie ihr Handy zu und richtete sich die Haare, für den Fall, dass das Geschrei ihre Frisur ruiniert haben sollte. Als sie sich wieder gefasst hatte, beugte sie sich zu mir. »Er hat das Hotel gewechselt«, flüsterte sie. »Ach ja, sie sind doch alle gleich.« Ob sich das auf Hotels oder italienische Galeristen bezog, war schwer zu sagen. Wie dem auch sei, ich lächelte ihr zustimmend zu.
Nach diesem Vorfall hörte Mary auf, sich mit mir zu unterhalten, ihre selbstbewusste Aura hatte sich der ranzigen Luft im Abteil ergeben. Während der restlichen Fahrt versuchte sie, ihr Misstrauen mit einem Kreuzworträtsel im Zaum zu halten, schaffte es jedoch nur, jene Buchstaben nachzumalen, die sie bereits hingeschrieben hatte, als Robbie noch da gewesen war, wo sie ihn vermutet hatte.
Wie ein humpelnder Hund rumpelte der Zug mit hechelnder Zunge in den Bahnhof von Bologna. Er war schon erschöpft, bevor die Reise richtig angefangen hatte. Ich trug Marys Tasche über den Hindernisparcours im Gang und reichte sie ihr, als sie wohlbehalten auf dem Bahnsteig stand. »Auf Wiedersehen und alles Gute«, sagte sie leise, bevor sie mich auf beide Wangen küsste wie eine Italienerin und sich zum Ausgang wandte.
 
 
Bologna – Rimini
 
Im Jahr 1980 wurde der Bahnhof von Bologna durch einen Terroranschlag erschüttert. Damals explodierte eine Bombe im Wartesaal und tötete fünfundachtzig Menschen. Das Mittsommer-Massaker, das bis dahin das schlimmste Terrorattentat in ganz Europa war, wurde von der Nuclei Armati Rivoluzionari, einer Gruppe Neofaschisten verübt, die Verbündete bis in höchste Regierungskreise besaßen. Die 1970er und frühen 1980er Jahre waren eine höchst blutige Epoche der italienischen Geschichte, die sowohl durch rechts- als auch durch linksextremistische Attentate gekennzeichnet ist. Während die Neofaschisten den Kommunismus um jeden Preis bekämpfen wollten, heimlich einen Staatsstreich planten und bei Bombenattentaten in Mailand und Brescia Hunderte von Menschen töteten, verübten die linksextremen Brigate Rosse oder Rote Brigaden mehrere Attentate auf Vertreter der Staatsmacht, die in der Entführung und Ermordung von Aldo Moro gipfelten, dem einflussreichen Führer der Christdemokraten. Dieser wurde ausgerechnet in Maglie geboren, das nur einen Katzensprung von Andrano entfernt ist.
Ansonsten wusste ich nur sehr wenig von Bologna, hatte die Stadt allerdings immer schon besichtigen wollen, seit ich Charles Richards Buch The New Italians gelesen hatte, in dem er Bologna als »das Italien, das funktioniert« beschreibt.
Dieses Lob schien jedoch nicht für durchfahrende Züge zu gelten – zumindest nicht für den, in dem ich saß.
Ohne irgendeine Erklärung standen wir eine halbe Stunde im Bahnhof. Hätte ich das vorher gewusst, wäre ich gern kurz ausgestiegen, um einen Blick auf »das Italien, das funktioniert« zu werfen, dem Gestank zu entgehen und zuzusehen, wie jeder andere Zug bis auf unseren den Bahnhof verließ. Die Zeit zog sich endlos hin, und ich begann schon zu bereuen, zu geizig für einen Flug nach Süditalien gewesen zu sein.
»Mio Dio!«, rief eine dicke Frau, die unser kleines Abteil betrat. »Dieser Zug stinkt.«
»È disgustoso«, pflichtete ihr die Frau, die ihr gegenübersaß, bei.
»Offensivo«, fügte das Mädchen neben ihr hinzu, das ich für ihre Tochter hielt.
»Das wird besser, sobald wir wieder fahren«, versicherte ich der neu Hinzugestiegenen, die ihren breiten Bologneser Hintern in den Sitz sinken ließ, den Mary soeben frei gemacht hatte.
»Falls wir überhaupt jemals weiterfahren«, sagte das Mädchen schnippisch.
»Ich hab mir schon beim letzten Mal geschworen, nie mehr diesen Zug zu nehmen«, sagte die dicke Frau, die sich uns später als Patrizia vorstellte.
»Ich kann den Qualm nicht ausstehen«, sagte der Mann zu meiner Linken, knallte die Tür zum Abteil zu und warf seine Zeitung auf den Boden. »Ich kann Leute nicht ausstehen, die im Nichtraucherabteil rauchen.«
Aber anderen den eigenen Müll hinterlassen, war anscheinend in Ordnung.
»Das Problem ist nur, dass der Waggon zur Hälfte aus Raucher- und zur Hälfte aus Nichtraucherabteilen besteht«, verkündete die Frau, die ihm gegenübersaß. »Aber wozu das Ganze? Natürlich zieht der Rauch auch in den Nichtraucherbereich.«
»Darum geht es nicht«, stellte ihre Tochter fest. »Es sind die Leute auf dem Gang, die rauchen, und zwar unabhängig davon, ob sie sich im Nichtraucher- oder Raucherbereich befinden.«
»Aber wenn jeder Reisende gezwungen wäre, einen Sitzplatz zu haben«, warf Patrizia ein, »wäre der Gang frei und wir hätten dieses Problem gar nicht erst.«
Und in diesem Ton ging es weiter: Italiener, die sich über Italien beschwerten wie eine kaputte Schallplatte, die ständig dieselbe alte Leier spielt, während der Zug mühsam aus dem Bahnhofsgebäude fuhr.
Bei Unannehmlichkeiten reden Italiener stets über das Eine – über Italien. Als Gesprächseinstieg eignen sich Verspätungen, Gestank, Rauch. Doch bald darauf gerät ihr Ärger wieder in Vergessenheit, und es geht um Essen, Städte, Ferien, ein neues Gesetz und eine alte Methode, es zu umgehen. Nachdem wir unserem Ärger Luft gemacht hatten, tauschten wir Adressen aus. Schon bald sollte ich zweimal die Woche Tennis mit meinem Nebenmann Renato spielen, der, wie sich herausstellte, aus Tricase stammte, einem kleinen Ort südlich von Andrano. Hätten die Raucher Italiens dort geraucht, wo sie es dürfen, hätten Renato und ich uns nie unterhalten, und ich hätte den Mann, der in Süditalien zu meinem engsten Freund werden sollte, nie kennengelernt – obwohl er sich als genauso unzuverlässig erwies wie der Zug, in dem wir uns begegneten.
Während wir den Stiefelschaft durchquerten und nach Osten in Richtung Küste fuhren, begriff ich, warum ich nach Italien zurückgekehrt war. Im Leid vereint erzählten mir meine neuen Freunde Geschichten vom Glück im Unglück, von den Vorteilen der Nachteile, von Paaren, die sich kennengelernt hatten, weil er sie auf seinem doppelt vergebenen Sitzplatz vorfand. Wenn die Winterzeit vorbei ist und die Uhren wieder zurückgedreht werden, bleiben die italienischen Züge eine Stunde lang stehen, um schließlich doch noch pünktlich zu sein. »So hat mein Bruder seine Frau kennengelernt«, sagte Patrizia. »Er hat in einem Zug gewartet, der auf die Uhrzeit wartete.« Nichts bricht schneller das Eis und ist ein besserer Anmachspruch als das Thema Ineffizienz. Ich weiß nur nicht, was Trenitalia tut, wenn die Uhren vorgestellt werden. Und was passiert eigentlich bei der Alitalia …?
Nur sehr nachsichtige Menschen können die Widersprüche Italiens genießen. Jeder Perfektionist muss das Land als vollkommen entgleist empfinden. Aber wenn es ums Zugfahren geht – wer ist dann besser dran? Pünktliche Fremde oder sich verspätende Freunde? Wollen Sie einen sauberen Zug oder die Freunde, die Sie in einem dreckigen kennengelernt haben? Ich hatte noch nie so ein primitives öffentliches Verkehrsmittel benutzt. Unsere bemitleidenswerte Waggon-Karawane bewegte sich im Zeitlupentempo durch die Landschaft wie eine kranke Raupe. Nach drei Stunden Fahrt hatten wir bereits eine Stunde Verspätung. Aber in diesem Zug bekam ich einen Job, einen Freund und kurz darauf noch ein Dutzend Pasta-Rezepte. Solche Vorteile können die Nachteile nicht entschuldigen, sondern sind höchstens eine Art Pflaster, das einem die Blasen vom Stiefel ein wenig erträglicher macht.
Waren wir vor einer Stunde noch vollkommen Fremde gewesen, witzelten und lachten wir bereits gemeinsam, als sich der Zug der Küste näherte. Salz lag in der himmelblauen Luft. Zirruswolken ließen mich an den australischen Himmel denken, eine Erinnerung, die ich mit meinen neu gewonnenen Freunden teilte. »Warum leben Sie in Italien, wenn Sie in Australien leben können?«, fragte Patrizia. Ob sie mir wohl glauben würde, wenn ich ihr erzählte, dass solche Erfahrungen wie in diesem heruntergekommenen Zug dafür verantwortlich waren?
 
 
Rimini – Pescara
 
Billig-Babes im – und ohne – Bikini waren die Mitwirkenden in dem vulgären italienischen Streifen Rimini Rimini, ein Bombardement von Brüsten und Italiens Antwort auf Surfer’s Paradise, nur ohne die Wolkenkratzer, aber dafür mit vielen anderen Erektionen. Für Italiens junge Singles liefern Riminis Discos und Deckchairs die Voraussetzungen für sommerliche Erholung: Hier gibt es Sonne und Meer, unverhüllte Körperteile und Unzucht im Überfluss. Selbst wer keinen Partner findet, kommt sich zwangsläufig näher und muss mit seinem Nachbarn hautnahen, wenn nicht sogar intimen Kontakt aufnehmen. Und ich rede hier nur vom Strand! Zusammen mit Tausenden von anderen Feriengästen mietet man sich zwei Quadratmeter Sand, eine Sonnenliege und einen Strandschirm – ein Urlaub, den ich mir in etwa so entspannend vorstelle wie eine Massenflucht. Aber viele Mitreisende sahen das anders, sodass sich der Zug oder zumindest der Gang etwas leerte. Aber die Schildkröte blieb. Wie die anderen Touristen, die an Bord blieben, bevorzugte auch sie die weiter südlich gelegenen pittoreskeren Buchten und Strände.
Ein schrilles Pfeifen war zu hören, es hupte, und das Wort Rimini glitt am Fenster vorbei, zunächst ganz langsam und dann so schnell, dass man es kaum noch lesen konnte, bis es abrupt verschwand. Meeresluft füllte den Waggon, während wir die Halbinsel weiter hinunterfuhren und zur Linken die Adria bewunderten. Rechts lag die autostrada, die Daniela vor zwei Tagen in dieselbe Richtung gefahren war. Dahinter bildeten die Bauern einen starken Kontrast zu dem Strandvolk auf der anderen Seite des Zuges. Sie arbeiteten auf den Feldern, die von Zypressen überwachte und überschattete Landhäuser umgaben. Zur Linken Urlaub, zur Rechten harte Arbeit, und in der Mitte ein Museum, von dem aus ich beides beobachtete.
Jetzt, wo der Gang frei war, gingen Schaffner in koboldgrünen Uniformen durch die Waggons. Genauso lethargisch wie der Zug drückten sie Löcher in Fahrkarten und rieten Mitreisenden mit dem Ziel Ancona, vier Wagen weiter nach vorn zu gehen, wenn sie auf einem Bahnsteig aussteigen wollten. Der Zug mit den zwölf Waggons war für die meisten Bahnhöfe zu lang. Als ich zum Gangfenster ging, um mir die Füße zu vertreten und den Sandburgen bauenden Kindern zuzuwinken, sah ich, wie sich der Zug, während wir Bucht um Bucht umrundeten, gewissermaßen selbst in den Schwanz biss wie ein von Flöhen geplagter Hund.
Während meines kleinen Spaziergangs bemerkte ich einen Feuerlöscher in einem Glasgehäuse. »Rompere in caso d’incendio« stand auf einem Schild. Darüber riet mir die englische Übersetzung, das Glas im Fall eines Feuerwerks einzuschlagen. Ich habe nie verstanden, warum sich Italiener die Mühe machen, etwas zu übersetzen, ohne vorher jemanden zu befragen, der beide Sprachen beherrscht. Während meines ersten Sommers in Andrano hatte ich überlegt, ein Kajak zu kaufen. Nichts Aufregendes, nur ein kleines Kanu, mit dem ich an einem sonnigen Nachmittag nach Albanien und wieder zurück paddeln könnte. Die zweisprachige Broschüre, die ich mitnahm, verkündete stolz, die Boote seien »optimal für Witzsportarten geeignet«. Und die Kopfhörer, die ich in Mailand kaufte, waren laut Verpackungsaufdruck gut für Schüler geeignet, die sich auf »lärmende Bücher« konzentrieren wollen. Nachdem ich mir die Beine vertreten hatte, kehrte ich in meine Zelle zurück und hoffte, es ohne »Feuerwerk« bis Lecce zu schaffen.
Als ich mein Abteil betrat, redeten die anderen gerade über Australien und wie es sich wohl anfühlen muss, von einer solch endlosen Weite umgeben zu sein. Mir wurden alle möglichen Fragen gestellt, von denen einige leichter zu beantworten waren als andere: Wie groß ist die Bevölkerung? Wie lange fliegt man von Italien dorthin? Sind Ihre Politiker ehrlich? Wie viel kostet dort Fleisch? Was ist das beliebteste Gericht? Stimmt es, dass Australier Kannibalen sind, oder sind das die Neuseeländer? Kann man Kängurus reiten?
Die letzte Frage kam von Silvia, der attraktiven jungen Frau, die mit ihrer Mutter reiste. Ich nahm an, dass Silvia noch nicht sehr viel von der Welt gesehen hatte. Nicht nur, weil ihre Frage so naiv war, sondern auch – wie Renato vermutete, als wir den Zug verließen -, weil sie ihr ganzes Taschengeld für eine Brustvergrößerung ausgegeben hatte. Renatos Theorie war kein Schuss ins Dunkle, sondern beruhte auf »handfesten Beweisen«, die seit Rimini aus Silvias Bluse hervorsahen. Ihre oberen Blusenknöpfe mussten wegen der ruckeligen Fahrt in dem stark vibrierenden Zug aufgesprungen sein. Wären wir mit einem sanften Eurostar gereist, wären diese sinnlichen blinden Passagiere bestimmt nie entdeckt worden.
Da wir ihr direkt gegenübersaßen, entdeckten Renato und ich auf Anhieb den sicherlich bequemsten Platz im ganzen Zug. Aber Renatos penetrantes Starren alarmierte schon bald die Mutter des Mädchens, die ihrer Tochter heimlich ein Zeichen gab und sie auf das Malheur aufmerksam machte. Ich kannte das Foto, das Ruth Orkin von einer jungen Amerikanerin gemacht hat, die auf einer italienischen Straße von Männern beäugt wird, die keinerlei Hehl aus ihrer Begierde machen. Mit den Händen in den Hosentaschen starren sie das Mädchen grinsend an, das sich seinen Schal enger um die Schultern zieht und die Flucht ergreift. Zunächst gefiel mir das Foto nicht, weil die Frau so verzweifelt wirkt. Aber nachdem ich in Italien lebte, muss ich zugeben, dass diese Vulgarität an der Tagesordnung ist.
Wie mehreren Reisenden, die beinahe vor die Wand liefen, als sie Silvia entdeckten, war es auch Renato unmöglich, eine schöne Frau nicht anzustarren. Oder wie in seinem Fall, sich von den Körperteilen einer schönen Frau anstarren zu lassen. Die als Pokneifer berüchtigten Italiener machen keinen Hehl aus ihren Sehnsüchten und weigern sich zu akzeptieren, dass so ein natürlicher Drang auch als Vergehen interpretiert werden kann. Im Gegensatz dazu finden viele Ausländer ihre Unverblümtheit respektlos, so wie ich anfangs auch, angesichts des Orkin-Fotos. Sie begehren Respekt, während die Italiener die Begierde respektieren. Wer von beiden ist ehrlicher? Ich gab vor, nicht auf Silvias Brüste zu starren, während Renato sein Ziel fest ins Visier nahm. Wir beide begehrten genau dasselbe, nur dass Renato kein Hehl daraus machte.
Italienische Männer und Frauen sind erfreulich unverklemmt, wenn es um Sex geht. Für sie ist sesso kein schmutziges Wort, sondern ein menschliches Grundbedürfnis, das vielleicht noch wichtiger ist als Nahrung. Als Roberto Benigni die Bühne des San-Remo-Festivals betrat und die umwerfende Moderatorin um »ein paar Sekunden unter Ihrem Rock« anflehte, wurde ihm von männlichen und weiblichen Zuschauern applaudiert. Ich brauchte eine Weile, um mich an eine Gesellschaft zu gewöhnen, die so ein Benehmen in Ordnung findet. Ich hatte mich nämlich ein wenig unwohl gefühlt, als ich in Tricase ins Kino ging, um mir den Film Der Zauber von Malèna anzusehen, in dem die schöne, vollbusige Monica Bellucci eine sexuell unbefriedigte Kriegswitwe spielt, die sich an schwülen sizilianischen Abenden Zitronensaft über die Brüste träufelt. Nicht wegen dem, was ich sah, sondern wegen denen, mit denen ich das sah. Der zehnjährige Junge neben mir leckte gleichgültig an seinem Eis, während sich die Bellucci mehr oder weniger masturbierte. So ein Film wäre in Australien erst ab sechzehn oder sogar achtzehn Jahren freigegeben worden. In Tricase war er für alle Altersstufen freigegeben. Warum hätten die Eltern des Jungen extra einen Babysitter zahlen sollen, nur weil die Bellucci ihre tägliche Dosis Vitamin C auf andere Weise zu sich nahm als die meisten anderen Leute?
In Italien betet man die Frauen lieber an, statt sie zu respektieren. Am achten März, dem internationalen Frauentag, überschütten die Verehrer sie mit Mimosen, um La festa della donna zu feiern. Sträuße der gelben Blumen werden an jeder Straßenecke feilgeboten. Das ist der Tag des Jahres, an dem die Bettler etwas vorrätig haben, das die Autofahrer tatsächlich kaufen wollen, und das Fensterputzen kann warten.
Solche Feiertage sind wohltuend, aber unzählige Filme wie Rimini Rimini und das italienische Fernsehen im Allgemeinen haben nur wenig zur Emanzipation der Frau beigetragen. Aber warum regen sich die italienischen Frauen nicht mehr darüber auf? Wenn Daniela und ich fernsehen, echauffiere ich mich über die vielen Nackten. Wir essen mit ihrer Mutter zu Abend, während zwei Frauen im Schlamm ringen, und Valeria – eine pensionierte Lehrerin und regelmäßige Kirchgängerin – hält einer davon sogar noch die Daumen! Das ist alles eine Frage der Kultur. Daniela ist mit der Vorstellung aufgewachsen, dass Frauen aus Torten kommen. Meine australische Exfreundin fand, Frauen sollten nicht mal welche backen.
Renato hatte nur wenige Gemeinsamkeiten mit meiner damaligen Freundin. Italien wäre für ihren Geschmack viel zu sexistisch gewesen. Aber viele Frauen, ja sogar eine berühmte Feministin, finden die Einstellung des Landes zum Thema Sex eher befreiend als unzüchtig. »Was finden wir in Italien, das wir sonst nirgendwo bekommen?«, fragte Erica Jong in My Italy. »Ich glaube, es ist eine bestimmte Erlaubnis, menschlich zu sein, die in anderen Ländern längst verloren gegangen ist.« Renato hätte ihr zugestimmt, obwohl er mit Sicherheit lieber ihre Schenkel als ihre Theorien inspiziert hätte. Nachdem Silvia ihre Bluse wieder zugeknöpft hatte, schlief er ein. Das Einzige, was ihn interessierte, war seinen Blicken entzogen worden.
Pescara – Bari
 
Ein Eurostar mit seinen abgedichteten Fenstern und der Klimaanlage ist für romantische Bahnhofsszenen vollkommen ungeeignet. Wie Soldaten, die sich auf dem Weg an die Front von ihren Lieben verabschieden, hängten sich die Reisenden weit aus den Fenstern, sobald der Adria-Express an einem Bahnhof hielt. Die Bahnsteige waren überfüllt. Auf jeden, der abfuhr, kamen fünf, die ihn verabschiedeten. Jungen entließen ihre Freundinnen mit leidenschaftlichen Küssen. Männer entließen ihre Frauen mit flüchtigen Küssen. »Ciao Giovanni!«, rief jemand. »Buon viaggio!«, schrie ein anderer. »Salutami la nonna!«, rief eine Mutter ihrer Tochter zu. »Stammi bene«, sagte ein Vater zu seinem halbwüchsigen Sohn. Ein Baby wurde zum Fenster hochgereicht, um geküsst zu werden, eine Frau bekam ein Abschiedsständchen von einer Gruppe junger Männer, und ein alter Mann stolperte und stürzte auf einer Treppe. Jeder Halt war ein großes Ereignis und wenn man sich den Zug so ansah: jede Weiterfahrt ein kleines Wunder.
Solche Zeremonien waren nicht nur für die Abreisenden reserviert: Sechs Carabinieri warteten vor dem Waggon hinter mir, dem ein Mann im Nadelstreifenanzug entstieg. Er gab einem Beamten seinen Koffer und einem anderen einen Vogelkäfig. Die bewaffneten Männer begleiteten die Neuankömmlinge zum Ausgang, zwei gingen vorneweg, zwei dahinter und je einer an ihrer Seite. Ob diese Eskorte zu dem Mann oder dem Vogel gehörte, kann ich nicht sagen.
Knapp oberhalb der Menschenmenge schwenkte ein Bahnbeamter einen roten Lumpen. Mit einer Zigarette zwischen den Lippen und einer Kappe unter dem Arm verrenkte er sich das Genick und sah in Richtung Zuganfang, in der Hoffnung, der Lokführer könne ihn sehen. Zehn Minuten später hielt derselbe, immer noch rauchende Beamte einen grünen Lumpen hoch. Wahrscheinlich hatte der Mann wegen des vielen Rauchens einfach nicht mehr genug Puste, um in seine Trillerpfeife zu blasen. Fenster klapperten, als wir wieder loszuckelten und uns Daniela und Lecce im Schneckentempo näherten. Kurz bevor wir die Höchstgeschwindigkeit erreichten, verlangsamte der Zug wieder, um an einem weiteren Bahnhof zu halten, während ein anderer vorübersauste. Für ein System, das mithilfe von Lumpen in Gang gehalten wird, funktionierte es ziemlich gut, auch wenn wir mittlerweile zwei Stunden Verspätung hatten.
Patrizia hatte uns in Pescara verlassen und schwor, nie mehr diesen Zug zu nehmen – bis zum nächsten Mal. Ihr Platz wurde von einer Frau mittleren Alters eingenommen, die nach Bari fuhr, um ihre Schwester zu besuchen. Rita war zunächst eher schweigsam, bis ich ein Sandwich auspackte. Dann wurde während der nächsten drei Stunden nur über Essen geredet.
»Mit was ist es belegt?«, fragte sie.
»Mit Schinken und Käse«, erwiderte ich.
»Was für eine Sorte?«
»In Scheiben.«
Ich wollte nicht unhöflich sein, aber ich esse lieber, als übers Essen zu reden. Damit war ich jedoch hoffnungslos in der Minderheit. Die italienische Flagge ist ein dreifarbiges Tischtuch, dem die Bürger ewige Treue geschworen haben. Das Essen ist Italiens nationales Gesprächsthema. Übers Essen wird noch mehr geredet als über Fußball, sodass es auch bei zufälligen Begegnungen von Fremden zuverlässig zum Thema wird: Das kann in einem Aufzug sein, an einer Straßenabsperrung mit einem Carabiniere – und jetzt geschah es eben in diesem langsam dahinkriechenden Zug. Wenn ausländische Würdenträger Italien einen Besuch abstatten, achten die Zeitungen mehr darauf, was sie essen, als wen sie treffen. Ich sah einmal, wie ein Journalist live von vor dem Parlamentsgebäude berichtete und die Zuschauer wissen ließ, dass Bush und Berlusconi darin seien und gerade Lammkoteletts und Zitroneneis äßen. Das Schlimmste, das einem an einem italienischen Diplomatentisch passieren kann, ist ein Streit übers Essen.
Auch Fragen in italienischen Quizshows sind oft kulinarischer Natur. Neben anderen pikanten Dingen will man beispielsweise von den Kandidaten wissen, wer der Schutzheilige der Weinbauern ist. Oder aber sie müssen bestimmte Gerichte ihrer Herkunft nach von Norden nach Süden sortieren. Und wenn es ausnahmsweise einmal nicht ums Essen geht, dann um seinen Preis. In einer sizilianischen Bar sah ich folgenden Zettel an einem Spielautomaten: »Le vincite si pagano con buoni consumazione« – »Die Gewinne werden in Essensgutscheinen ausbezahlt«. Nur in Italien gewinnt man bei fünf Zitronen am Einarmigen Banditen tatsächlich auch fünf Zitronen.
Als rundlicher Hausfrau verlieh Rita ihr kulinarisches Wissen fast schon so etwas wie Kultstatus. Meine Mitreisenden hingen an ihren Lippen und notierten jedes ihrer Rezepte. Aber es war Renato, der mich neugierig machte, nicht Rita. Der 32-jährige Bankangestellte mit den Hobbys Tennis und Titten schien aufrichtig daran interessiert zu sein, von einer völlig Fremden zu erfahren, dass er sich mit seiner Zubereitungsart von Cannelloni schon seit Jahren schwer versündige. Was war nur mit dem sexistischen Italien passiert? Sollte Renatos Frau nicht eigentlich in der Küche schuften, während er in der Bar saß und Karten spielte? Aber dieser »neue Mann« fragte doch tatsächlich nach Tipps, wie er seine Lieblingsrezepte verfeinern könne. Silvia und ihre Mutter waren ebenfalls begeistert, widersprachen Rita aber in puncto Artischocken und sagten, es sei nicht das Beste, sie im Ganzen zu kochen, sondern sie in Würfel zu schneiden und in Olivenöl zu frittieren. »Extra vergine?«, hakte Renato nach. Einen kurzen Moment lang schien er wieder ganz der Alte zu sein.
Renato, der meine Langeweile zu spüren schien, versuchte mich einzubeziehen, indem er mich fragte, was mein italienisches Lieblingsgericht sei.
»Risotto«, entgegnete ich.
»Oh signore«, rief Rita aus. »Dann fahren Sie in die falsche Richtung. Mailand ist die Stadt für Risotto.«
»Crris ist Australier«, informierte sie Renato.
»Davvero? Dann muss Italien ja das reinste Paradies für Sie sein. Ich habe in einem Artikel gelesen, wie man in Australien Steaks zubereitet. Entschuldigen Sie, aber Ihre Barbecues klingen so was von langweilig!«
»Ein Barbecue ist bloß ein Vorwand, um Bier zu trinken«, sagte ich. »Das Essen ist zweitrangig.«
Renato und Silvia lachten, aber Rita wirkte enttäuscht, so als hätte ich ihr soeben gesagt, dass ich nicht an Gott glaube. Rita und ich hatten nur wenig gemeinsam, außer vielleicht, dass sie Danielas Mutter hätte sein können.
Während sich die anderen auf der restlichen Fahrt nach Bari weiterhin über Fleisch unterhielten, versteckte ich mich hinter meiner Zeitung. Die internationale Ausgabe der Herald Tribune bringt eine tägliche, vierseitige Beilage italienischer Nachrichten auf Englisch. Ich hatte die Zeitung am Flughafen entdeckt, als ich aus England zurückkam, und war seitdem ein großer Fan. Vor allem die »In Kürze«-Kolumne begeisterte mich, deren Überschrift zwar häufig tragisch ist, die sich aber trotzdem liest wie der Stoff für eine Komödie. Hier nur ein paar Beispiele:
Neues Hemd krempelt bei Hitze automatisch die Ärmel hoch. Das Hemd ist nur in Grau erhältlich und kostet 7000 US-Dollar. Ob die Firma wohl als Nächstes eine Hose erfindet, bei der sich automatisch die Hosenbeine umkrempeln?
Foggia-Hexe nach unbefriedigendem Sex verhaftet. Die Zauberin aus Foggia, einer Stadt, an der wir mit dem Zug vorbeigekommen waren, hatte sich mit ihren vermeintlichen Künsten an einer Frau versucht. Diese hatte sich allerdings geweigert, 500 Euro zu bezahlen, weil der Zauberspruch, der dazu hätte führen sollen, dass ihr Mann sie wieder genauso begehrt wie vor der Ehe, unwirksam geblieben war.
Kurde im Koffer seiner Geliebten entdeckt. Ein Zollbeamter schöpfte Verdacht, als er sah, dass eine Frau schwer mit dem Gewicht ihres Koffers zu kämpfen hatte. Der Mann wurde auf die nächste Fähre nach Griechenland gesetzt, wenn auch wahrscheinlich nicht mehr im Koffer. Sie wurde der illegalen Immigration angeklagt.
 
 
Bari – Lecce
 
Ich hatte nichts Gutes über Bari gehört. Der Mann in der Schlange vor der Italienischen Botschaft in Sydney hatte mir geraten, gut auf meinen Geldbeutel aufzupassen, wenn ich je dort hinführe – »denn dort lauern überall Taschendiebe und Kleinkriminelle«. Sie hätten allerdings außerordentliche Meister ihres Fachs sein müssen, um mich zu bestehlen, da ich, während wir die Stadt passierten, die ganze Zeit auf meinem Besitz saß. Wir klammerten uns daran, verloren dafür aber diverse andere Dinge in der apulischen Hauptstadt, einschließlich zwanzig Minuten, die letzten vier Waggons unseres Zuges (an die eine Lokomotive gehängt wurde, um sie nach Taranto zu ziehen), Rita, Silvia mit der großen Oberweite, ihre Mutter, die Schildkröte und zum Schluss auch noch die Farbe Grün.
Satellitenbilder von Italien zeigen einen grünen Stiefel, aber der Absatz ist braun und hat die Farbe von Terrakotta – daher auch der Name terroni für die Menschen, die hier zu Hause sind. Diese Veränderung vollzieht sich ganz plötzlich, während man in den sonnenverbrannten Salento hineinfährt. Aus Gras wird Fels, aus Zypressen werden Olivenhaine und aus Steinhäusern geweißelte Behausungen – das Erkennungsmerkmal Süditaliens. Ackerbau in industriellem Maßstab schrumpft zu Subsistenzwirtschaft. Die Felder wirken weniger fruchtbar und die auf ihnen arbeitenden Bauern ungekämmter. Nach einem Leben in der prallen Sonne sehen viele ihren Vogelscheuchen immer ähnlicher. Das ist der Süden des Südens, jener Mittelmeerraum, in dem sich der Teil von mir, der Daniela liebt, immer zu Hause fühlen wird.
Mit einem Mal befindet man sich in einer komplett anderen Ära. Die Traktoren sind alt und verrostet, sie machen mehr Lärm und verströmen mehr Abgase. Ein Pflug wird von Hand gezogen und weigert sich zu funktionieren, wenn der Bauer, der ihn bedient, keine Zigarette zwischen den Lippen klemmen hat. Kaputtes Werkzeug wird repariert und nicht ersetzt. Fischernetze werden von der Oma geflickt. Schwarz gekleidete Witwen ziehen Chicorée aus der Erde. Männer mit ledriger Haut schichten Kartoffeln in Jutesäcke. Hunde werden an Ketten gelegt und bekommen einmal am Tag etwas zu fressen, wenn sie Glück haben. Die Straßen sind müllübersät. Steinmauern stürzen ein. Auf dem Hügel steht ein Kruzifix, am Strand ein Olivenbaum, und auf dem Dach eines verlassenen Hauses wachsen Kaktusfeigen, während in einem ausgetrockneten Flussbett eine ausrangierte Waschmaschine steht. Apuliens bäuerlicher Charme ist bezaubernd, wettergegerbt und rau, aber seine pockenvernarbte Landschaft ist eine Zumutung für jeden ordnungsgewohnten Betrachter.
Es war dunkel, als wir an Brindisi vorbeifuhren. Der Rauch aus den Industrieschloten schwärzte den Himmel wie Tinte. Ich sah die Lichter eines Flugzeugs, das den Flughafen verließ, auf dem ich anfangs in Italien gelandet war. Damals hatte Daniela auf mich gewartet, genau wie heute, aber diesmal war ich noch aufgeregter, sie zu sehen. Nach einem gemeinsam verbrachten Jahr hatte sich meine Liebe zu ihr geändert. Wir besaßen eine gemeinsame Geschichte, wenn nicht sogar eine gemeinsame Zukunft.
In unserem Abteil waren nur noch Renato und ich übrig geblieben, und wir waren geschlagene elf Stunden unterwegs. Andere waren gekommen und wieder gegangen, aber wir hatten von Anfang an da gesessen. Jetzt genossen wir den Endspurt wie bei einem Marathonlauf. Die Schönheit des Adria-Express besteht darin, dass sie ein durchschnittliches Reiseziel in ein Paradies verwandelt. Die Verspätung machte aus unserer Ankunft einen Grund zum Feiern, so als sei der Krieg, in den wir gezogen waren, während unserer Reise gewonnen worden.
Aber in dem Moment, in dem wir dachten, unsere Strapazen wären endgültig vorbei, gingen die Lichter aus, und wir legten die letzten Kilometer bei vollkommener Dunkelheit zurück. Der Blackout schien auf unseren Waggon beschränkt zu sein, was Renato zu der Bemerkung veranlasste, wir hätten einen Tunnel mitgenommen. Als wir endlich mit zweistündiger Verspätung in den Bahnhof von Lecce krochen, wimmelte es am Bahnsteig nur so von kurzärmeligen T-Shirts und strahlenden Gesichtern. Und mitten in der Menge und mit einer sommerlichen Kurzhaarfrisur stand das sonnengebräunte Mädchen, das mich bleich in Mailand zurückgelassen hatte. Drei Tage waren seitdem vergangen. Einer davon im Zug. Allein ihr Blick war es wert, die Reise angetreten zu haben.
Wir küssten uns im Auto, als mein Handy klingelte. »Pronto. Ich heiße Giovanni. Ich glaube, Sie haben ein Paket für mich dabei.« Unsere Lust musste warten, bis wir einem Soldaten das Essen seiner Mutter gebracht hatten. Ich hoffe, er hat nicht bemerkt, dass ein paar von den Keksen gefehlt haben.