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Der Adria-Express
Wer mit dem Morgenzug von
Mailand nach Lecce fährt, braucht erst gar nicht auf die
Anzeigetafel zu sehen, von welchem Gleis der Zug abfährt. Es
reicht, den Blick über die Züge in Mussolinis wuchtiger
Stazione Centrale schweifen zu lassen,
über die glänzenden Eurostars, deren Nasen mit dem Blut
kontinentaler Insekten bespritzt sind. Zwischen diesen schlanken
Hochgeschwindigkeitszügen entdeckt man dann irgendwann ein altes
klappriges Gefährt, das nicht so aussieht, als könne es den Bahnhof
überhaupt noch verlassen, geschweige denn die tausend Kilometer
lange Strecke nach Süden bewältigen. Das ist der Adria-Express: zu
langsam, um eine Mücke zu morden, und auch seine Graffiti hätten
ebenso gut bei voller Fahrt aufgesprüht werden können.
Danielas Bruder
hatte mir einen Platz in der Bummelbahn gebucht, nachdem ich ihn
von London aus angerufen und angekündigt hatte, dass ich meine
Sachen abholen, eine Nacht bleiben und am nächsten Tag nach Lecce
fahren würde. Francesco war sehr hilfsbereit gewesen und hatte mich
sogar vom Flughafen abgeholt. Jedes ungute Gefühl hinsichtlich
unserer gescheiterten beruflichen Zusammenarbeit war wie
weggeblasen. Er freue sich, mich wiederzusehen, sagte er, bevor er
sich für den Zustand seiner Wohnung entschuldigte, die er nach
unserer Abschiedsparty immer noch nicht aufgeräumt
hatte.
Es war früher Abend,
als ich in Francescos Wohnung ankam, und kurz darauf klopfte es an
der Tür. Seine neugierige Nachbarin hatte irgendwie von meiner
Irrfahrt erfahren, wahrscheinlich hatte sie gelauscht, denn die
Wand war so dünn wie eine Tapete. Sie fragte, ob ich nicht
vielleicht ein Fresspaket für ihren Sohn mitnehmen könne – ein
Soldat, der unweit von Lecce stationiert war. Ich sagte, gern, ohne
zu ahnen, dass sie damit einen ganzen Koffer meinte, der genauso
groß war wie meiner. Sie kochte die ganze Nacht und passte mich an
der Haustür ab, als ich Francescos Wohnung am nächsten Morgen
verließ. »Attenzione«, sagte sie und
hielt den Koffer waagrecht. »Könnten Sie ihn bitte so tragen? Ich
möchte nicht, dass die Saucen auslaufen.«
Es war ziemlich viel
Verkehr in der Stadt, und ich war trotz der Zeitsparstrategien
meines Taxifahrers spät dran. Der fuhr mit seinem Fiat durch
Seitenstraßen und benutzte das Lenkrad einerseits, um damit zu
lenken, und andererseits, um sich daran festzuhalten. »Wann geht
Ihr Zug?«, fragte er und sah sich nach mir um.
»Um neun«, sagte ich
und klammerte mich an den Türgriff.
»So ist das mit den
italienischen Zügen. Man weiß, wann man losfährt, aber nie, wann
man ankommt.«
Hauptsache, man
kommt überhaupt an, dachte ich.
Weniger als eine
Minute vor der Abfahrt schleifte ich mein eigenes Gepäck und das
Abendessen eines unbekannten Soldaten zu meinem Waggon am Anfang
des Zugs. Der war so lang, dass er über den Bahnsteig hinausging.
Ich stieg ein, als schon zur Abfahrt gepfiffen wurde und die Türen
sich schlossen – ein atemloser, aber angebrachter Abschied von
einer Stadt, die ich stets als hektisch in Erinnerung behalten
werde. So, als wolle er Anlauf nehmen, rollte der Zug ein paar
Sekunden lang rückwärts, bevor er einen Satz in die richtige
Richtung machte und aus dem Bahnhofsgebäude in die helle Julisonne
rumpelte. Zum zweiten Mal innerhalb von drei Tagen verabschiedete
ich mich von Mailand und hoffte, diesmal nicht mehr so schnell
zurückzukehren.
Milano – Bologna
Der Intercity
schlingerte über ein Gewirr an Gleisen, bevor er den Bahnhof hinter
sich ließ. Als wir Kurs gen Süden nahmen, wichen die Wohnblocks
allmählich Fabriken und schließlich Feldern. Der Waggon hatte einen
Gang zur Linken, zur Rechten befanden sich Abteile mit je sechs
Sitzplätzen. Die Wände meines Abteils schmückten Fotos von den vier
Jahreszeiten, aber wir hielten aus unerfindlichen Gründen so oft,
dass ich schon befürchtete, mindestens zwei davon vor meinem
Fenster verstreichen zu sehen. Zwischen den Bildern hing ein
kaputter Spiegel, ein Schild am Fenster warnte in vier Sprachen
davor, sich hinauszulehnen, und an der Tür stand »Rauchen
verboten«. Das hielt allerdings auch niemanden davon ab, sich eine
Zigarette anzuzünden. Doch nur wenige beschwerten sich darüber,
dass der Zigaretten- den Uringestank der Toilette am Anfang des
Waggons überdeckte. Und dafür hatte ich mich so beeilt? Ich hatte
eine lange Reise vor mir.
Die lahme Lokomotive
zog Waggons, die allesamt unbequem und überfüllt waren. Passagiere
ohne Platzreservierung saßen im Gang und wurden von jenen fast
zertrampelt, die auf dem Weg in ihre klaustrophobischen Abteile
waren. Trenitalia verkauft mehr Plätze,
als eigentlich vorhanden sind. Wer keine Reservierung kaufen will,
steht ebenfalls im Gang. Und da es Anfang Juli war und die
Schulferien soeben begonnen hatten, gab es viele, denen das nichts
ausmachte – Hauptsache, sie kamen schnellstmöglich ans Meer. Mensch
und Tier konnten es kaum erwarten, Mailand zu verlassen. Ein
Passagier versorgte seine Schildkröte mit ein paar Tropfen Wasser,
bis sie selbst einige Tröpfchen ließ. Die Schildkrötenpisse stank
faulig, und ich vergaß schnell die anderen Gerüche, die unseren
Zirkuswaggon füllten.
Hier wurde
offensichtlich, warum der Süden verachtet wird. Ich war mit Zügen
durch ganz Norditalien gefahren, die schnell, sauber und
zuverlässig waren, auch wenn Pünktlichkeit bedeutete, dass sie
mindestens eine Viertelstunde Verspätung hatten. Aber diese antike
Waggonsammlung sollte mit Sicherheit auf Nimmerwiedersehen ganz
unten in den italienischen Stiefel verbannt werden. Der
Schriftsteller Guido Ceronetti muss einen ganz ähnlichen Zug
benutzt haben, denn er schrieb, diese italienischen Züge verlangten
einem Reisenden eine Engelsgeduld ab! Diese dreckigen Blechkisten
ohne jeden Fahrplan erinnerten einen eher an Züge aus den Anden
oder aus Kalkutta. Das Einzige, was noch fehlte, war Vieh, obwohl
die Passagiere eingesperrt waren wie Sardinen in eine Dose. Und
dann war da natürlich noch die Schildkröte, dieses inkontinente
Mistvieh.
Wenn Italien die
Form eines Stiefels hat, ist dieser gleichzeitig eine perfekte
Metapher. So gesehen war der Adria-Express sein kaputter
Reißverschluss, der auf seinem Weg durch den auf Hochglanz
polierten Stiefelschaft – Norditalien – zur kaputten, abgelaufenen
Sohle – Süditalien – regelmäßig hängen blieb. Während dieser
Reißverschluss langsam nach unten glitt, Zähnchen für Zähnchen,
Bahnhof für Bahnhof, öffnete er den Stiefel ein wenig mehr und
erlaubte mir zum ersten Mal, seine Passform zu überprüfen und die
Unannehmlichkeiten seines plumpen Absatzes zu spüren, der einem
eine gehörige Portion Stoizismus und Anpassungsfähigkeit
abverlangt, wenn man die Blasen überleben will.
Unser langer Weg war
wie eine Reise in die Vergangenheit, und die Warnungen meiner
Schüler hallten mir in den Ohren wieder. Während unserer Zeit in
Mailand hatte ich Daniela gegenüber höflichkeitshalber so getan,
als sei der Unterschied zwischen Nord- und Süditalien gar nicht so
groß. Doch jetzt bekam ich Bedenken und befürchtete, den
Unterschied drastisch unterschätzt zu haben. Das, was ich als
blinden Rassismus abgetan hatte, war in Wahrheit hellsichtige
Kritik. Als ich überlegt hatte, Daniela in den Süden zu folgen,
hätte ich dem Mann in den Abendnachrichten vielleicht doch etwas
besser zuhören sollen: Dieser hatte eine Wasserflasche in die
Kamera gehalten und verkündet: »Das ist mein Urin. Ich hatte keine
andere Wahl. Sechs Stunden in einem Zug ohne Toilette. Warum
passiert so etwas immer nur hinter Rom?« Eine gute Frage, genau wie
die, was ich da unten eigentlich zu suchen hatte. Aber ich biss die
Zähne zusammen und hielt mir die Nase zu. »Hinter Rom«, genau dort
fuhr ich hin. Im Schneckentempo.
Eine Durchsage hieß
die Passagiere auf der Fahrt mit Trenitalia nach Lecce willkommen und informierte
uns, dass der »Chef Express – das Restaurant auf Rädern« – uns
jetzt in Waggon Nummer fünf erwarte. Es folgte eine Aufzählung von
Snacks, und im Anschluss wurden die Reisenden sofort daran
erinnert, ihre Quittungen bis nach dem Verlassen des Zuges zu
behalten. Die Fangarme der Guardia di
Finanza reichen überallhin.
Den Großteil der
Strecke nach Bologna verbrachte ich damit, dass ich mich mit einer
Frau am Fenster unterhielt. Ich identifizierte sie schnell als
Engländerin, als ich sie bat, ihre Tasche in das Gepäcknetz zu
legen, damit ich ein weiteres Restaurant auf Rädern – den Koffer
des Soldaten – waagrecht unterbringen konnte. Als ich den
englischen Akzent hinter dem ungerollten R in ihrer höflichen
Antwort – »certo« – wahrnahm, fragte
ich, woher sie sei.
»Aus London. Und
Sie?«
»Aus
Sydney.«
»Ah
ja.«
Mary war gewiss
einmal sehr schön gewesen und wild entschlossen, ihr wahres Alter
mithilfe der Garderobe ihrer Tochter, einem Kilo Make-up und einem
Liter Parfüm zu verschleiern – wobei Letzteres angesichts des
Uringestanks im Zug eine ziemliche Verschwendung darstellte. Die
Fünfundfünfzigjährige, die versuchte, als Dreißigjährige
durchzugehen, war ebenso selbstbewusst wie bezaubernd – die Art
Frau, die man sich als Mutter seiner Freundin wünscht. Sie berührte
mich am Arm, während sie sprach, und beugte sich vor, wenn sie mir
Fragen stellte – etwa die, was ich in diesem »Höllenzug« überhaupt
zu suchen hätte.
Als ich ihr
erzählte, dass ich in ein Fischerdorf am Stiefelabsatz zöge, gab
sie mir die Telefonnummer einer englischen Freundin, die für eine
Kette von Sprachschulen in Italien arbeitete und von der es, wenn
sie sich richtig erinnerte, auch eine Filiale in Lecce gab. »Rufen
Sie sie an«, sagte sie. »Sie wird begeistert sein, in dieser
entlegenen Gegend auf einen englischen Muttersprachler zu stoßen.«
Ich war entzückt. Danielas Hauptsorge hinsichtlich meines Umzugs
nach Süditalien waren die miserablen Jobaussichten – ein Problem,
das ich unter Umständen schon vor meiner Ankunft gelöst
hatte.
Wie um das Ende
meiner Geschichte zu markieren, blieb der Zug stehen und fuhr
wieder an, als Mary mit ihrer begann. Vor fünfzehn Jahren hatte sie
einen italienischen Millionär geheiratet, von dem sie inzwischen
geschieden war, »allerdings nicht ohne richtig viel Geld
mitzunehmen«. Derzeit lebte sie mit ihrem »neuen Mann« in Como, der
»nur halb so alt ist wie ich, mit dem ich aber doppelt so viel Spaß
habe«. Ihr geliebter »Robbie«, wahrscheinlich ein englischer
Kosename für Roberto, war ein Galerist, der überall auf der Welt
ausstellte, während Mary »an den Wochenenden zu ihm stieß«.
Vielleicht fühlte sie sich in Anwesenheit der alten Ölschinken
jünger. An diesem Wochenende war ihr Robbie auf einer Messe in
Bologna. Oder vielleicht doch nicht?
Als der Zug die
Hauptstadt der Region Emilia Romagna erreichte, wählte Mary
wiederholt Robbies Nummer und wurde zunehmend frustrierter, als er
nicht dranging. Ich überließ sie ihren Anrufen und sah, wie die
Felder am Fenster vorüberglitten. Wie die meisten Mitreisenden tat
ich so, als interessiere ich mich nicht für ihre Männerjagd.
Schließlich gab sie es auf und rief Robbie stattdessen in seinem
Hotel an. »Aber er muss doch da sein«, protestierte sie, »Ich habe
ihm das Zimmer doch selbst reserviert.«
Während der nächsten
zwanzig Minuten versuchte Mary ihren Ehemann bestimmt ein Dutzend
Mal zu erreichen. Als er endlich dranging, drehte sie sich auf der
vergeblichen Suche nach etwas Privatsphäre zum Fenster. Die einzige
Alternative wäre die Toilette gewesen, und das kam für eine Frau in
Armani nun wirklich nicht infrage. »Was soll das heißen, du bist
gerade erst aufgestanden?«, fragte sie auf Englisch, womit sie die
Anzahl der Mithörer in unserem Abteil auf einen reduzierte. »Du
musst doch in zehn Minuten auf deiner Messe sein. Und warum
übernachtest du nicht in dem Hotel, das ich für dich gebucht habe?«
Mary hielt sich das andere Ohr zu, als ein vorbeifahrender Zug
unser Fenster zum Zittern brachte – bestimmt war es Jahre her, dass
sie so eine unelegante Pose eingenommen hatte. »Hör zu, lass uns
später darüber reden«, rief sie. »Ich treffe dich in einer Stunde
in der Galerie.« Dann klappte sie ihr Handy zu und richtete sich
die Haare, für den Fall, dass das Geschrei ihre Frisur ruiniert
haben sollte. Als sie sich wieder gefasst hatte, beugte sie sich zu
mir. »Er hat das Hotel gewechselt«, flüsterte sie. »Ach ja, sie
sind doch alle gleich.« Ob sich das auf Hotels oder italienische
Galeristen bezog, war schwer zu sagen. Wie dem auch sei, ich
lächelte ihr zustimmend zu.
Nach diesem Vorfall
hörte Mary auf, sich mit mir zu unterhalten, ihre selbstbewusste
Aura hatte sich der ranzigen Luft im Abteil ergeben. Während der
restlichen Fahrt versuchte sie, ihr Misstrauen mit einem
Kreuzworträtsel im Zaum zu halten, schaffte es jedoch nur, jene
Buchstaben nachzumalen, die sie bereits hingeschrieben hatte, als
Robbie noch da gewesen war, wo sie ihn vermutet hatte.
Wie ein humpelnder
Hund rumpelte der Zug mit hechelnder Zunge in den Bahnhof von
Bologna. Er war schon erschöpft, bevor die Reise richtig angefangen
hatte. Ich trug Marys Tasche über den Hindernisparcours im Gang und
reichte sie ihr, als sie wohlbehalten auf dem Bahnsteig stand. »Auf
Wiedersehen und alles Gute«, sagte sie leise, bevor sie mich auf
beide Wangen küsste wie eine Italienerin und sich zum Ausgang
wandte.
Bologna – Rimini
Im Jahr 1980 wurde
der Bahnhof von Bologna durch einen Terroranschlag erschüttert.
Damals explodierte eine Bombe im Wartesaal und tötete
fünfundachtzig Menschen. Das Mittsommer-Massaker, das bis dahin das
schlimmste Terrorattentat in ganz Europa war, wurde von der Nuclei
Armati Rivoluzionari, einer Gruppe Neofaschisten verübt, die
Verbündete bis in höchste Regierungskreise besaßen. Die 1970er und
frühen 1980er Jahre waren eine höchst blutige Epoche der
italienischen Geschichte, die sowohl durch rechts- als auch durch
linksextremistische Attentate gekennzeichnet ist. Während die
Neofaschisten den Kommunismus um jeden Preis bekämpfen wollten,
heimlich einen Staatsstreich planten und bei Bombenattentaten in
Mailand und Brescia Hunderte von Menschen töteten, verübten die
linksextremen Brigate Rosse oder Rote
Brigaden mehrere Attentate auf Vertreter der Staatsmacht, die in
der Entführung und Ermordung von Aldo Moro gipfelten, dem
einflussreichen Führer der Christdemokraten. Dieser wurde
ausgerechnet in Maglie geboren, das nur einen Katzensprung von
Andrano entfernt ist.
Ansonsten wusste ich
nur sehr wenig von Bologna, hatte die Stadt allerdings immer schon
besichtigen wollen, seit ich Charles Richards Buch The New Italians gelesen hatte, in dem er Bologna
als »das Italien, das funktioniert« beschreibt.
Dieses Lob schien
jedoch nicht für durchfahrende Züge zu gelten – zumindest nicht für
den, in dem ich saß.
Ohne irgendeine
Erklärung standen wir eine halbe Stunde im Bahnhof. Hätte ich das
vorher gewusst, wäre ich gern kurz ausgestiegen, um einen Blick auf
»das Italien, das funktioniert« zu werfen, dem Gestank zu entgehen
und zuzusehen, wie jeder andere Zug bis auf unseren den Bahnhof
verließ. Die Zeit zog sich endlos hin, und ich begann schon zu
bereuen, zu geizig für einen Flug nach Süditalien gewesen zu
sein.
»Mio Dio!«, rief eine dicke Frau, die unser kleines
Abteil betrat. »Dieser Zug stinkt.«
»È disgustoso«, pflichtete ihr die Frau, die ihr
gegenübersaß, bei.
»Offensivo«, fügte das Mädchen neben ihr hinzu, das
ich für ihre Tochter hielt.
»Das wird besser,
sobald wir wieder fahren«, versicherte ich der neu
Hinzugestiegenen, die ihren breiten Bologneser Hintern in den Sitz
sinken ließ, den Mary soeben frei gemacht hatte.
»Falls wir überhaupt
jemals weiterfahren«, sagte das Mädchen schnippisch.
»Ich hab mir schon
beim letzten Mal geschworen, nie mehr diesen Zug zu nehmen«, sagte
die dicke Frau, die sich uns später als Patrizia
vorstellte.
»Ich kann den Qualm
nicht ausstehen«, sagte der Mann zu meiner Linken, knallte die Tür
zum Abteil zu und warf seine Zeitung auf den Boden. »Ich kann Leute
nicht ausstehen, die im Nichtraucherabteil rauchen.«
Aber anderen den
eigenen Müll hinterlassen, war anscheinend in Ordnung.
»Das Problem ist
nur, dass der Waggon zur Hälfte aus Raucher- und zur Hälfte aus
Nichtraucherabteilen besteht«, verkündete die Frau, die ihm
gegenübersaß. »Aber wozu das Ganze? Natürlich zieht der Rauch auch
in den Nichtraucherbereich.«
»Darum geht es
nicht«, stellte ihre Tochter fest. »Es sind die Leute auf dem Gang,
die rauchen, und zwar unabhängig davon, ob sie sich im
Nichtraucher- oder Raucherbereich befinden.«
»Aber wenn jeder
Reisende gezwungen wäre, einen Sitzplatz zu haben«, warf Patrizia
ein, »wäre der Gang frei und wir hätten dieses Problem gar nicht
erst.«
Und in diesem Ton
ging es weiter: Italiener, die sich über Italien beschwerten wie
eine kaputte Schallplatte, die ständig dieselbe alte Leier spielt,
während der Zug mühsam aus dem Bahnhofsgebäude fuhr.
Bei
Unannehmlichkeiten reden Italiener stets über das Eine – über
Italien. Als Gesprächseinstieg eignen sich Verspätungen, Gestank,
Rauch. Doch bald darauf gerät ihr Ärger wieder in Vergessenheit,
und es geht um Essen, Städte, Ferien, ein neues Gesetz und eine
alte Methode, es zu umgehen. Nachdem wir unserem Ärger Luft gemacht
hatten, tauschten wir Adressen aus. Schon bald sollte ich zweimal
die Woche Tennis mit meinem Nebenmann Renato spielen, der, wie sich
herausstellte, aus Tricase stammte, einem kleinen Ort südlich von
Andrano. Hätten die Raucher Italiens dort geraucht, wo sie es
dürfen, hätten Renato und ich uns nie unterhalten, und ich hätte
den Mann, der in Süditalien zu meinem engsten Freund werden sollte,
nie kennengelernt – obwohl er sich als genauso unzuverlässig erwies
wie der Zug, in dem wir uns begegneten.
Während wir den
Stiefelschaft durchquerten und nach Osten in Richtung Küste fuhren,
begriff ich, warum ich nach Italien zurückgekehrt war. Im Leid
vereint erzählten mir meine neuen Freunde Geschichten vom Glück im
Unglück, von den Vorteilen der Nachteile, von Paaren, die sich
kennengelernt hatten, weil er sie auf seinem doppelt vergebenen
Sitzplatz vorfand. Wenn die Winterzeit vorbei ist und die Uhren
wieder zurückgedreht werden, bleiben die italienischen Züge eine
Stunde lang stehen, um schließlich doch noch pünktlich zu sein. »So
hat mein Bruder seine Frau kennengelernt«, sagte Patrizia. »Er hat
in einem Zug gewartet, der auf die Uhrzeit wartete.« Nichts bricht
schneller das Eis und ist ein besserer Anmachspruch als das Thema
Ineffizienz. Ich weiß nur nicht, was Trenitalia tut, wenn die Uhren
vorgestellt werden. Und was passiert eigentlich bei der Alitalia
…?
Nur sehr
nachsichtige Menschen können die Widersprüche Italiens genießen.
Jeder Perfektionist muss das Land als vollkommen entgleist
empfinden. Aber wenn es ums Zugfahren geht – wer ist dann besser
dran? Pünktliche Fremde oder sich verspätende Freunde? Wollen Sie
einen sauberen Zug oder die Freunde, die Sie in einem dreckigen
kennengelernt haben? Ich hatte noch nie so ein primitives
öffentliches Verkehrsmittel benutzt. Unsere bemitleidenswerte
Waggon-Karawane bewegte sich im Zeitlupentempo durch die Landschaft
wie eine kranke Raupe. Nach drei Stunden Fahrt hatten wir bereits
eine Stunde Verspätung. Aber in diesem Zug bekam ich einen Job,
einen Freund und kurz darauf noch ein Dutzend Pasta-Rezepte. Solche
Vorteile können die Nachteile nicht entschuldigen, sondern sind
höchstens eine Art Pflaster, das einem die Blasen vom Stiefel ein
wenig erträglicher macht.
Waren wir vor einer
Stunde noch vollkommen Fremde gewesen, witzelten und lachten wir
bereits gemeinsam, als sich der Zug der Küste näherte. Salz lag in
der himmelblauen Luft. Zirruswolken ließen mich an den
australischen Himmel denken, eine Erinnerung, die ich mit meinen
neu gewonnenen Freunden teilte. »Warum leben Sie in Italien, wenn
Sie in Australien leben können?«, fragte Patrizia. Ob sie mir wohl
glauben würde, wenn ich ihr erzählte, dass solche Erfahrungen wie
in diesem heruntergekommenen Zug dafür verantwortlich
waren?
Rimini – Pescara
Billig-Babes im –
und ohne – Bikini waren die Mitwirkenden in dem vulgären
italienischen Streifen Rimini Rimini,
ein Bombardement von Brüsten und Italiens Antwort auf Surfer’s Paradise, nur ohne die Wolkenkratzer, aber
dafür mit vielen anderen Erektionen. Für Italiens junge Singles
liefern Riminis Discos und Deckchairs die Voraussetzungen für
sommerliche Erholung: Hier gibt es Sonne und Meer, unverhüllte
Körperteile und Unzucht im Überfluss. Selbst wer keinen Partner
findet, kommt sich zwangsläufig näher und muss mit seinem Nachbarn
hautnahen, wenn nicht sogar intimen Kontakt aufnehmen. Und ich rede
hier nur vom Strand! Zusammen mit Tausenden von anderen
Feriengästen mietet man sich zwei Quadratmeter Sand, eine
Sonnenliege und einen Strandschirm – ein Urlaub, den ich mir in
etwa so entspannend vorstelle wie eine Massenflucht. Aber viele
Mitreisende sahen das anders, sodass sich der Zug oder zumindest
der Gang etwas leerte. Aber die Schildkröte blieb. Wie die anderen
Touristen, die an Bord blieben, bevorzugte auch sie die weiter
südlich gelegenen pittoreskeren Buchten und Strände.
Ein schrilles
Pfeifen war zu hören, es hupte, und das Wort Rimini glitt am
Fenster vorbei, zunächst ganz langsam und dann so schnell, dass man
es kaum noch lesen konnte, bis es abrupt verschwand. Meeresluft
füllte den Waggon, während wir die Halbinsel weiter hinunterfuhren
und zur Linken die Adria bewunderten. Rechts lag die autostrada, die Daniela vor zwei Tagen in dieselbe
Richtung gefahren war. Dahinter bildeten die Bauern einen starken
Kontrast zu dem Strandvolk auf der anderen Seite des Zuges. Sie
arbeiteten auf den Feldern, die von Zypressen überwachte und
überschattete Landhäuser umgaben. Zur Linken Urlaub, zur Rechten
harte Arbeit, und in der Mitte ein Museum, von dem aus ich beides
beobachtete.
Jetzt, wo der Gang
frei war, gingen Schaffner in koboldgrünen Uniformen durch die
Waggons. Genauso lethargisch wie der Zug drückten sie Löcher in
Fahrkarten und rieten Mitreisenden mit dem Ziel Ancona, vier Wagen
weiter nach vorn zu gehen, wenn sie auf einem Bahnsteig aussteigen
wollten. Der Zug mit den zwölf Waggons war für die meisten Bahnhöfe
zu lang. Als ich zum Gangfenster ging, um mir die Füße zu vertreten
und den Sandburgen bauenden Kindern zuzuwinken, sah ich, wie sich
der Zug, während wir Bucht um Bucht umrundeten, gewissermaßen
selbst in den Schwanz biss wie ein von Flöhen geplagter
Hund.
Während meines
kleinen Spaziergangs bemerkte ich einen Feuerlöscher in einem
Glasgehäuse. »Rompere in caso
d’incendio« stand auf einem Schild. Darüber riet mir die
englische Übersetzung, das Glas im Fall eines Feuerwerks
einzuschlagen. Ich habe nie verstanden, warum sich Italiener die
Mühe machen, etwas zu übersetzen, ohne vorher jemanden zu befragen,
der beide Sprachen beherrscht. Während meines ersten Sommers in
Andrano hatte ich überlegt, ein Kajak zu kaufen. Nichts
Aufregendes, nur ein kleines Kanu, mit dem ich an einem sonnigen
Nachmittag nach Albanien und wieder zurück paddeln könnte. Die
zweisprachige Broschüre, die ich mitnahm, verkündete stolz, die
Boote seien »optimal für Witzsportarten geeignet«. Und die
Kopfhörer, die ich in Mailand kaufte, waren laut
Verpackungsaufdruck gut für Schüler geeignet, die sich auf
»lärmende Bücher« konzentrieren wollen. Nachdem ich mir die Beine
vertreten hatte, kehrte ich in meine Zelle zurück und hoffte, es
ohne »Feuerwerk« bis Lecce zu schaffen.
Als ich mein Abteil
betrat, redeten die anderen gerade über Australien und wie es sich
wohl anfühlen muss, von einer solch endlosen Weite umgeben zu sein.
Mir wurden alle möglichen Fragen gestellt, von denen einige
leichter zu beantworten waren als andere: Wie groß ist die
Bevölkerung? Wie lange fliegt man von Italien dorthin? Sind Ihre
Politiker ehrlich? Wie viel kostet dort Fleisch? Was ist das
beliebteste Gericht? Stimmt es, dass Australier Kannibalen sind,
oder sind das die Neuseeländer? Kann man Kängurus
reiten?
Die letzte Frage kam
von Silvia, der attraktiven jungen Frau, die mit ihrer Mutter
reiste. Ich nahm an, dass Silvia noch nicht sehr viel von der Welt
gesehen hatte. Nicht nur, weil ihre Frage so naiv war, sondern auch
– wie Renato vermutete, als wir den Zug verließen -, weil sie ihr
ganzes Taschengeld für eine Brustvergrößerung ausgegeben hatte.
Renatos Theorie war kein Schuss ins Dunkle, sondern beruhte auf
»handfesten Beweisen«, die seit Rimini aus Silvias Bluse
hervorsahen. Ihre oberen Blusenknöpfe mussten wegen der ruckeligen
Fahrt in dem stark vibrierenden Zug aufgesprungen sein. Wären wir
mit einem sanften Eurostar gereist, wären diese sinnlichen blinden
Passagiere bestimmt nie entdeckt worden.
Da wir ihr direkt
gegenübersaßen, entdeckten Renato und ich auf Anhieb den sicherlich
bequemsten Platz im ganzen Zug. Aber Renatos penetrantes Starren
alarmierte schon bald die Mutter des Mädchens, die ihrer Tochter
heimlich ein Zeichen gab und sie auf das Malheur aufmerksam machte.
Ich kannte das Foto, das Ruth Orkin von einer jungen Amerikanerin
gemacht hat, die auf einer italienischen Straße von Männern beäugt
wird, die keinerlei Hehl aus ihrer Begierde machen. Mit den Händen
in den Hosentaschen starren sie das Mädchen grinsend an, das sich
seinen Schal enger um die Schultern zieht und die Flucht ergreift.
Zunächst gefiel mir das Foto nicht, weil die Frau so verzweifelt
wirkt. Aber nachdem ich in Italien lebte, muss ich zugeben, dass
diese Vulgarität an der Tagesordnung ist.
Wie mehreren
Reisenden, die beinahe vor die Wand liefen, als sie Silvia
entdeckten, war es auch Renato unmöglich, eine schöne Frau nicht
anzustarren. Oder wie in seinem Fall, sich von den Körperteilen
einer schönen Frau anstarren zu lassen. Die als Pokneifer
berüchtigten Italiener machen keinen Hehl aus ihren Sehnsüchten und
weigern sich zu akzeptieren, dass so ein natürlicher Drang auch als
Vergehen interpretiert werden kann. Im Gegensatz dazu finden viele
Ausländer ihre Unverblümtheit respektlos, so wie ich anfangs auch,
angesichts des Orkin-Fotos. Sie begehren Respekt, während die
Italiener die Begierde respektieren. Wer von beiden ist ehrlicher?
Ich gab vor, nicht auf Silvias Brüste zu starren, während Renato
sein Ziel fest ins Visier nahm. Wir beide begehrten genau dasselbe,
nur dass Renato kein Hehl daraus machte.
Italienische Männer
und Frauen sind erfreulich unverklemmt, wenn es um Sex geht. Für
sie ist sesso kein schmutziges Wort,
sondern ein menschliches Grundbedürfnis, das vielleicht noch
wichtiger ist als Nahrung. Als Roberto Benigni die Bühne des
San-Remo-Festivals betrat und die umwerfende Moderatorin um »ein
paar Sekunden unter Ihrem Rock« anflehte, wurde ihm von männlichen
und weiblichen Zuschauern applaudiert. Ich brauchte eine Weile, um
mich an eine Gesellschaft zu gewöhnen, die so ein Benehmen in
Ordnung findet. Ich hatte mich nämlich ein wenig unwohl gefühlt,
als ich in Tricase ins Kino ging, um mir den Film Der Zauber von Malèna anzusehen, in dem die schöne,
vollbusige Monica Bellucci eine sexuell unbefriedigte Kriegswitwe
spielt, die sich an schwülen sizilianischen Abenden Zitronensaft
über die Brüste träufelt. Nicht wegen dem, was ich sah, sondern
wegen denen, mit denen ich das sah. Der zehnjährige Junge neben mir
leckte gleichgültig an seinem Eis, während sich die Bellucci mehr
oder weniger masturbierte. So ein Film wäre in Australien erst ab
sechzehn oder sogar achtzehn Jahren freigegeben worden. In Tricase
war er für alle Altersstufen freigegeben. Warum hätten die Eltern
des Jungen extra einen Babysitter zahlen sollen, nur weil die
Bellucci ihre tägliche Dosis Vitamin C auf andere Weise zu sich
nahm als die meisten anderen Leute?
In Italien betet man
die Frauen lieber an, statt sie zu respektieren. Am achten März,
dem internationalen Frauentag, überschütten die Verehrer sie mit
Mimosen, um La festa della donna zu
feiern. Sträuße der gelben Blumen werden an jeder Straßenecke
feilgeboten. Das ist der Tag des Jahres, an dem die Bettler etwas
vorrätig haben, das die Autofahrer tatsächlich kaufen wollen, und
das Fensterputzen kann warten.
Solche Feiertage
sind wohltuend, aber unzählige Filme wie Rimini Rimini und das italienische Fernsehen im
Allgemeinen haben nur wenig zur Emanzipation der Frau beigetragen.
Aber warum regen sich die italienischen Frauen nicht mehr darüber
auf? Wenn Daniela und ich fernsehen, echauffiere ich mich über die
vielen Nackten. Wir essen mit ihrer Mutter zu Abend, während zwei
Frauen im Schlamm ringen, und Valeria – eine pensionierte Lehrerin
und regelmäßige Kirchgängerin – hält einer davon sogar noch die
Daumen! Das ist alles eine Frage der Kultur. Daniela ist mit der
Vorstellung aufgewachsen, dass Frauen aus Torten kommen. Meine
australische Exfreundin fand, Frauen sollten nicht mal welche
backen.
Renato hatte nur
wenige Gemeinsamkeiten mit meiner damaligen Freundin. Italien wäre
für ihren Geschmack viel zu sexistisch gewesen. Aber viele Frauen,
ja sogar eine berühmte Feministin, finden die Einstellung des
Landes zum Thema Sex eher befreiend als unzüchtig. »Was finden wir
in Italien, das wir sonst nirgendwo bekommen?«, fragte Erica Jong
in My Italy. »Ich glaube, es ist eine
bestimmte Erlaubnis, menschlich zu sein, die in anderen Ländern
längst verloren gegangen ist.« Renato hätte ihr zugestimmt, obwohl
er mit Sicherheit lieber ihre Schenkel als ihre Theorien inspiziert
hätte. Nachdem Silvia ihre Bluse wieder zugeknöpft hatte, schlief
er ein. Das Einzige, was ihn interessierte, war seinen Blicken
entzogen worden.
Pescara – Bari
Ein Eurostar mit
seinen abgedichteten Fenstern und der Klimaanlage ist für
romantische Bahnhofsszenen vollkommen ungeeignet. Wie Soldaten, die
sich auf dem Weg an die Front von ihren Lieben verabschieden,
hängten sich die Reisenden weit aus den Fenstern, sobald der
Adria-Express an einem Bahnhof hielt. Die Bahnsteige waren
überfüllt. Auf jeden, der abfuhr, kamen fünf, die ihn
verabschiedeten. Jungen entließen ihre Freundinnen mit
leidenschaftlichen Küssen. Männer entließen ihre Frauen mit
flüchtigen Küssen. »Ciao Giovanni!«,
rief jemand. »Buon viaggio!«, schrie
ein anderer. »Salutami la nonna!«, rief
eine Mutter ihrer Tochter zu. »Stammi
bene«, sagte ein Vater zu seinem halbwüchsigen Sohn. Ein
Baby wurde zum Fenster hochgereicht, um geküsst zu werden, eine
Frau bekam ein Abschiedsständchen von einer Gruppe junger Männer,
und ein alter Mann stolperte und stürzte auf einer Treppe. Jeder
Halt war ein großes Ereignis und wenn man sich den Zug so ansah:
jede Weiterfahrt ein kleines Wunder.
Solche Zeremonien
waren nicht nur für die Abreisenden reserviert: Sechs Carabinieri warteten vor dem Waggon hinter mir, dem
ein Mann im Nadelstreifenanzug entstieg. Er gab einem Beamten
seinen Koffer und einem anderen einen Vogelkäfig. Die bewaffneten
Männer begleiteten die Neuankömmlinge zum Ausgang, zwei gingen
vorneweg, zwei dahinter und je einer an ihrer Seite. Ob diese
Eskorte zu dem Mann oder dem Vogel gehörte, kann ich nicht
sagen.
Knapp oberhalb der
Menschenmenge schwenkte ein Bahnbeamter einen roten Lumpen. Mit
einer Zigarette zwischen den Lippen und einer Kappe unter dem Arm
verrenkte er sich das Genick und sah in Richtung Zuganfang, in der
Hoffnung, der Lokführer könne ihn sehen. Zehn Minuten später hielt
derselbe, immer noch rauchende Beamte einen grünen Lumpen hoch.
Wahrscheinlich hatte der Mann wegen des vielen Rauchens einfach
nicht mehr genug Puste, um in seine Trillerpfeife zu blasen.
Fenster klapperten, als wir wieder loszuckelten und uns Daniela und
Lecce im Schneckentempo näherten. Kurz bevor wir die
Höchstgeschwindigkeit erreichten, verlangsamte der Zug wieder, um
an einem weiteren Bahnhof zu halten, während ein anderer
vorübersauste. Für ein System, das mithilfe von Lumpen in Gang
gehalten wird, funktionierte es ziemlich gut, auch wenn wir
mittlerweile zwei Stunden Verspätung hatten.
Patrizia hatte uns
in Pescara verlassen und schwor, nie mehr diesen Zug zu nehmen –
bis zum nächsten Mal. Ihr Platz wurde von einer Frau mittleren
Alters eingenommen, die nach Bari fuhr, um ihre Schwester zu
besuchen. Rita war zunächst eher schweigsam, bis ich ein Sandwich
auspackte. Dann wurde während der nächsten drei Stunden nur über
Essen geredet.
»Mit was ist es
belegt?«, fragte sie.
»Mit Schinken und
Käse«, erwiderte ich.
»Was für eine
Sorte?«
»In
Scheiben.«
Ich wollte nicht
unhöflich sein, aber ich esse lieber, als übers Essen zu reden.
Damit war ich jedoch hoffnungslos in der Minderheit. Die
italienische Flagge ist ein dreifarbiges Tischtuch, dem die Bürger
ewige Treue geschworen haben. Das Essen ist Italiens nationales
Gesprächsthema. Übers Essen wird noch mehr geredet als über
Fußball, sodass es auch bei zufälligen Begegnungen von Fremden
zuverlässig zum Thema wird: Das kann in einem Aufzug sein, an einer
Straßenabsperrung mit einem Carabiniere
– und jetzt geschah es eben in diesem langsam dahinkriechenden Zug.
Wenn ausländische Würdenträger Italien einen Besuch abstatten,
achten die Zeitungen mehr darauf, was sie essen, als wen sie
treffen. Ich sah einmal, wie ein Journalist live von vor dem
Parlamentsgebäude berichtete und die Zuschauer wissen ließ, dass
Bush und Berlusconi darin seien und gerade Lammkoteletts und
Zitroneneis äßen. Das Schlimmste, das einem an einem italienischen
Diplomatentisch passieren kann, ist ein Streit übers
Essen.
Auch Fragen in
italienischen Quizshows sind oft kulinarischer Natur. Neben anderen
pikanten Dingen will man beispielsweise von den Kandidaten wissen,
wer der Schutzheilige der Weinbauern ist. Oder aber sie müssen
bestimmte Gerichte ihrer Herkunft nach von Norden nach Süden
sortieren. Und wenn es ausnahmsweise einmal nicht ums Essen geht,
dann um seinen Preis. In einer sizilianischen Bar sah ich folgenden
Zettel an einem Spielautomaten: »Le vincite si
pagano con buoni consumazione« – »Die Gewinne werden in
Essensgutscheinen ausbezahlt«. Nur in Italien gewinnt man bei fünf
Zitronen am Einarmigen Banditen tatsächlich auch fünf
Zitronen.
Als rundlicher
Hausfrau verlieh Rita ihr kulinarisches Wissen fast schon so etwas
wie Kultstatus. Meine Mitreisenden hingen an ihren Lippen und
notierten jedes ihrer Rezepte. Aber es war Renato, der mich
neugierig machte, nicht Rita. Der 32-jährige Bankangestellte mit
den Hobbys Tennis und Titten schien aufrichtig daran interessiert
zu sein, von einer völlig Fremden zu erfahren, dass er sich mit
seiner Zubereitungsart von Cannelloni schon seit Jahren schwer
versündige. Was war nur mit dem sexistischen Italien passiert?
Sollte Renatos Frau nicht eigentlich in der Küche schuften, während
er in der Bar saß und Karten spielte? Aber dieser »neue Mann«
fragte doch tatsächlich nach Tipps, wie er seine Lieblingsrezepte
verfeinern könne. Silvia und ihre Mutter waren ebenfalls
begeistert, widersprachen Rita aber in puncto Artischocken und
sagten, es sei nicht das Beste, sie im Ganzen zu kochen, sondern
sie in Würfel zu schneiden und in Olivenöl zu frittieren.
»Extra vergine?«, hakte Renato nach.
Einen kurzen Moment lang schien er wieder ganz der Alte zu
sein.
Renato, der meine
Langeweile zu spüren schien, versuchte mich einzubeziehen, indem er
mich fragte, was mein italienisches Lieblingsgericht
sei.
»Risotto«, entgegnete ich.
»Oh signore«, rief Rita aus. »Dann fahren Sie in die
falsche Richtung. Mailand ist die Stadt für Risotto.«
»Crris ist
Australier«, informierte sie Renato.
»Davvero? Dann muss Italien ja das reinste Paradies
für Sie sein. Ich habe in einem Artikel gelesen, wie man in
Australien Steaks zubereitet. Entschuldigen Sie, aber Ihre
Barbecues klingen so was von langweilig!«
»Ein Barbecue ist
bloß ein Vorwand, um Bier zu trinken«, sagte ich. »Das Essen ist
zweitrangig.«
Renato und Silvia
lachten, aber Rita wirkte enttäuscht, so als hätte ich ihr soeben
gesagt, dass ich nicht an Gott glaube. Rita und ich hatten nur
wenig gemeinsam, außer vielleicht, dass sie Danielas Mutter hätte
sein können.
Während sich die
anderen auf der restlichen Fahrt nach Bari weiterhin über Fleisch
unterhielten, versteckte ich mich hinter meiner Zeitung. Die
internationale Ausgabe der Herald
Tribune bringt eine tägliche, vierseitige Beilage
italienischer Nachrichten auf Englisch. Ich hatte die Zeitung am
Flughafen entdeckt, als ich aus England zurückkam, und war seitdem
ein großer Fan. Vor allem die »In Kürze«-Kolumne begeisterte mich,
deren Überschrift zwar häufig tragisch ist, die sich aber trotzdem
liest wie der Stoff für eine Komödie. Hier nur ein paar
Beispiele:
Neues Hemd krempelt bei Hitze automatisch die Ärmel hoch.
Das Hemd ist nur in Grau erhältlich und kostet 7000
US-Dollar. Ob die Firma wohl als Nächstes eine Hose
erfindet, bei der sich automatisch die Hosenbeine
umkrempeln?
Foggia-Hexe nach unbefriedigendem Sex verhaftet.
Die Zauberin aus Foggia, einer Stadt, an der wir mit dem Zug
vorbeigekommen waren, hatte sich mit ihren vermeintlichen Künsten
an einer Frau versucht. Diese hatte sich allerdings geweigert, 500
Euro zu bezahlen, weil der Zauberspruch, der dazu hätte führen
sollen, dass ihr Mann sie wieder genauso begehrt wie vor der Ehe,
unwirksam geblieben war.
Kurde im Koffer seiner Geliebten entdeckt. Ein
Zollbeamter schöpfte Verdacht, als er sah, dass eine Frau schwer
mit dem Gewicht ihres Koffers zu kämpfen hatte. Der Mann wurde auf
die nächste Fähre nach Griechenland gesetzt, wenn auch
wahrscheinlich nicht mehr im Koffer. Sie wurde der illegalen
Immigration angeklagt.
Bari – Lecce
Ich hatte nichts
Gutes über Bari gehört. Der Mann in der Schlange vor der
Italienischen Botschaft in Sydney hatte mir geraten, gut auf meinen
Geldbeutel aufzupassen, wenn ich je dort hinführe – »denn dort
lauern überall Taschendiebe und Kleinkriminelle«. Sie hätten
allerdings außerordentliche Meister ihres Fachs sein müssen, um
mich zu bestehlen, da ich, während wir die Stadt passierten, die
ganze Zeit auf meinem Besitz saß. Wir klammerten uns daran,
verloren dafür aber diverse andere Dinge in der apulischen
Hauptstadt, einschließlich zwanzig Minuten, die letzten vier
Waggons unseres Zuges (an die eine Lokomotive gehängt wurde, um sie
nach Taranto zu ziehen), Rita, Silvia mit der großen Oberweite,
ihre Mutter, die Schildkröte und zum Schluss auch noch die Farbe
Grün.
Satellitenbilder von
Italien zeigen einen grünen Stiefel, aber der Absatz ist braun und
hat die Farbe von Terrakotta – daher auch der Name terroni für die Menschen, die hier zu Hause sind.
Diese Veränderung vollzieht sich ganz plötzlich, während man in den
sonnenverbrannten Salento hineinfährt. Aus Gras wird Fels, aus
Zypressen werden Olivenhaine und aus Steinhäusern geweißelte
Behausungen – das Erkennungsmerkmal Süditaliens. Ackerbau in
industriellem Maßstab schrumpft zu Subsistenzwirtschaft. Die Felder
wirken weniger fruchtbar und die auf ihnen arbeitenden Bauern
ungekämmter. Nach einem Leben in der prallen Sonne sehen viele
ihren Vogelscheuchen immer ähnlicher. Das ist der Süden des Südens,
jener Mittelmeerraum, in dem sich der Teil von mir, der Daniela
liebt, immer zu Hause fühlen wird.
Mit einem Mal
befindet man sich in einer komplett anderen Ära. Die Traktoren sind
alt und verrostet, sie machen mehr Lärm und verströmen mehr Abgase.
Ein Pflug wird von Hand gezogen und weigert sich zu funktionieren,
wenn der Bauer, der ihn bedient, keine Zigarette zwischen den
Lippen klemmen hat. Kaputtes Werkzeug wird repariert und nicht
ersetzt. Fischernetze werden von der Oma geflickt. Schwarz
gekleidete Witwen ziehen Chicorée aus der Erde. Männer mit ledriger
Haut schichten Kartoffeln in Jutesäcke. Hunde werden an Ketten
gelegt und bekommen einmal am Tag etwas zu fressen, wenn sie Glück
haben. Die Straßen sind müllübersät. Steinmauern stürzen ein. Auf
dem Hügel steht ein Kruzifix, am Strand ein Olivenbaum, und auf dem
Dach eines verlassenen Hauses wachsen Kaktusfeigen, während in
einem ausgetrockneten Flussbett eine ausrangierte Waschmaschine
steht. Apuliens bäuerlicher Charme ist bezaubernd, wettergegerbt
und rau, aber seine pockenvernarbte Landschaft ist eine Zumutung
für jeden ordnungsgewohnten Betrachter.
Es war dunkel, als
wir an Brindisi vorbeifuhren. Der Rauch aus den Industrieschloten
schwärzte den Himmel wie Tinte. Ich sah die Lichter eines
Flugzeugs, das den Flughafen verließ, auf dem ich anfangs in
Italien gelandet war. Damals hatte Daniela auf mich gewartet, genau
wie heute, aber diesmal war ich noch aufgeregter, sie zu sehen.
Nach einem gemeinsam verbrachten Jahr hatte sich meine Liebe zu ihr
geändert. Wir besaßen eine gemeinsame Geschichte, wenn nicht sogar
eine gemeinsame Zukunft.
In unserem Abteil
waren nur noch Renato und ich übrig geblieben, und wir waren
geschlagene elf Stunden unterwegs. Andere waren gekommen und wieder
gegangen, aber wir hatten von Anfang an da gesessen. Jetzt genossen
wir den Endspurt wie bei einem Marathonlauf. Die Schönheit des
Adria-Express besteht darin, dass sie ein durchschnittliches
Reiseziel in ein Paradies verwandelt. Die Verspätung machte aus
unserer Ankunft einen Grund zum Feiern, so als sei der Krieg, in
den wir gezogen waren, während unserer Reise gewonnen
worden.
Aber in dem Moment,
in dem wir dachten, unsere Strapazen wären endgültig vorbei, gingen
die Lichter aus, und wir legten die letzten Kilometer bei
vollkommener Dunkelheit zurück. Der Blackout schien auf unseren
Waggon beschränkt zu sein, was Renato zu der Bemerkung veranlasste,
wir hätten einen Tunnel mitgenommen. Als wir endlich mit
zweistündiger Verspätung in den Bahnhof von Lecce krochen, wimmelte
es am Bahnsteig nur so von kurzärmeligen T-Shirts und strahlenden
Gesichtern. Und mitten in der Menge und mit einer sommerlichen
Kurzhaarfrisur stand das sonnengebräunte Mädchen, das mich bleich
in Mailand zurückgelassen hatte. Drei Tage waren seitdem vergangen.
Einer davon im Zug. Allein ihr Blick war es wert, die Reise
angetreten zu haben.
Wir küssten uns im
Auto, als mein Handy klingelte. »Pronto. Ich heiße Giovanni. Ich glaube, Sie haben
ein Paket für mich dabei.« Unsere Lust musste warten, bis wir einem
Soldaten das Essen seiner Mutter gebracht hatten. Ich hoffe, er hat
nicht bemerkt, dass ein paar von den Keksen gefehlt
haben.