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Il professore – ein untypischer Italiener
 
Valeria hatte drei Monate auf Sizilien verbracht, und wenn sie noch einen Tag länger geblieben wäre, wäre sie da gewesen, als ihre neunzigjährige Mutter im Schlaf starb. Aber so hatte sie ihren Koffer in Andrano gerade ausgepackt, als sie ihn auch schon wieder packen und den ersten Bus zurück nach Alcamo nehmen musste. Dort nahm sie an der Beerdigung teil und behielt ihre Schwestern im Auge, damit der Grundbesitz gemäß dem letzten Willen seiner Eigentümerin gerecht aufgeteilt wurde. Sie war zehn Tage weg, in denen ich für Franco sorgte, da Daniela wieder arbeiten musste. So erlebte ich, wie sich ein Mann die Nase brach, weil er versuchte, in einen Spiegel hineinzugehen, ein Spiegel, der mir ein Stück von Francos Leben widerspiegelte, aber auch das von Andrano. In dieser provinzlerischen Enge hatte Danielas Vater einen Großteil seines gesunden Lebens verbracht und stets versucht, daraus auszubrechen.
Alzheimer stellt die Geduld des Pflegers auf eine harte Probe, eine Charaktereigenschaft, die ich bis zu meinem zehntägigen Crashkurs mit Franco nicht gerade im Übermaß besessen hatte. Oder benötigte man vielmehr Ausdauer – die Fähigkeit, optimistisch zu bleiben, während man den langsamen Weg in den Tod eines alten Mannes so angenehm wie möglich gestaltet? Das Erniedrigende an dieser Krankheit besteht darin, dass sie den Betroffenen nicht umbringt, sondern auf einen schemenhaften, unnützen und unbeherrschbaren Körper reduziert, der nur noch sterben will, aber atmet wie am Tag seiner Geburt. Die mysteriöse Krankheit ist ein schmerzliches Warten auf das Unausweichliche. Das gilt nicht nur für den Patienten, sondern auch für die Pflegenden, die tun, was sie können, um dessen Leid zu lindern, obwohl sie genau wissen, dass sie ihm nichts ersparen können.
Fünf Jahre nach seiner Alzheimer-Diagnose lag Francos Zukunft hinter demselben Nebelschleier wie seine Vergangenheit. Im Gegensatz zu seinem Haaransatz bildeten sich Francos Gehirnzellen immer weiter zurück und ließen seinem ansonsten gesunden Körper keine andere Wahl, als ebenfalls abzuschalten. Sein Verfall war langsam, aber unaufhaltsam. In dem Jahr, in dem ich Danielas Vater mittlerweile kannte, war bei ihm jede Wut verflogen, und er stieß keine Obszönitäten mehr aus wie damals, als er den Besenbaum beschimpft hatte. Seine Stimme war leiser geworden und kaum mehr als ein Murmeln, und sein Gestammel war beinahe stets unverständlich. Seinen Darm und seine Blase konnte er nicht mehr kontrollieren, und sein schönes Gesicht wirkte nicht länger verwirrt. Da er das Fragen vergessen hatte, musste er auch nicht mehr nach Antworten suchen.
Francos Unfähigkeit, sich mitzuteilen, machte seine Pflege zum reinsten Rätselraten. Hatte er Hunger? Hatte er Kopfschmerzen? Brauchte er noch eine Decke? Einen dünneren Schlafanzug? Noch ein Kissen? Hatte er sich etwas gebrochen, als er gestern die Stufen hinuntergefallen war, außer unser Herz und ein paar stümperhaft verlegte Fliesen? Im Grunde brauchte Franco ein Medium und keine Krankenschwester, und Valeria konnte nur hoffen, dass das stumme Leid ihres Mannes von der täglichen Routine etwas gelindert wurde, die sie für seine Palliativpflege etabliert hatte. Eine Routine, die ich und Daniela in Abwesenheit ihrer Mutter strikt befolgten.
Koffein wirkte dem Trommelfeuer an Tranquilizern entgegen, die benötigt wurden, um Franco ruhigzustellen. Wenn ich seine serranda öffnete und ihm seinen Morgenkaffee brachte, lächelte Franco manchmal. Aber normalerweise starrte er ausdruckslos vor sich hin, so als probe er schon mal den Tod. Dann begann der mühsame Prozess, den Patienten aus dem Bett zu kriegen, ihn zu waschen und anzuziehen und, was das Schwierigste war, ihn zu füttern. Das Problem bestand nicht darin, ihn zu überreden, das, was auf dem Löffel war, in den Mund zu nehmen, sondern ihn an das Schlucken zu erinnern. Seine Gedanken verloren sich im Nirgendwo, und nur wenn ich ihm einen weiteren Löffel einflößte, schaffte ich es, dass er Platz für noch einen Happen machte. Danach mussten zwar sowohl sein Lätzchen als auch sein Bart gesäubert werden, aber seine Augen strahlten mehr als vorher, und sein Tag hatte begonnen – derselbe wie gestern und ein Klon desjenigen von morgen.
Nach dem Frühstück überwachte ich Francos Morgenspaziergang im Garten. Graues Haar fiel auf den Kragen seines leichten Herbstjacketts, während er die Veranda entlangschlurfte und seine Schuhsohlen aufrieb. Der dünne Mann kam nie so weit wie seine Gedanken. Er gab Bruchstücke von Unterhaltungen von sich, bevor er abrupt stehen blieb und laut lachte. Selten schwieg er, außer wenn er eine Blume pflückte und sie in den Mund nahm, woraufhin ich mich fragte, ob ich ihm wohl genug zum Frühstück gegeben hatte.
Danielas Haus lag an der Hauptstraße, die zur Piazza führt. Sie war sehr belebt, und die Passanten grüßten Franco, wenn sie ihn im Vorgarten sahen. Radfahrer klingelten und riefen: »Ciao professore!« – Francos Titel, weil er am örtlichen Gymnasium unterrichtet hatte. Motorradfahrer hupten, Fußgänger winkten, und manche fassten sogar zwischen den Gitterstäben hindurch, um seine linke Hand zu wärmen, die wegen ihrer schlechten Durchblutung blau angelaufen war. Er drückte sie zur Faust geballt an seine Brust, so als bereite er sich darauf vor, die Götter für sein Schicksal zu bestrafen.
Die Passanten wussten, dass sie von Franco keine Antwort erwarten durften, da er längst mehr auf die Stimmen in seinem Kopf reagierte als auf die Begrüßungen von Freunden und Familienangehörigen. Er drehte oft den Kopf, um irgendwelche Schatten oder das Nichts zu begrüßen. Ich weiß nicht, was mich mehr verstörte: dass er Menschen ignorierte oder welche erfand. Die meisten riefen ihm einen Gruß zu und gingen weiter wie der Postbote, der uns condoglianze-Telegramme wegen des Todes von Valerias Mutter brachte.
Fast alle Andranesi grüßten Franco, aber manche eilten am Haus vorbei, ohne einen Blick in den Garten zu werfen, aus Angst, was sie dort sehen könnten. Mehrere enge Freunde waren unfähig, mit seinem geistigen Verfall umzugehen, und ignorierten lieber, wie er auf dem Gartenweg stand und an den Sträuchern knabberte. Ich fand das unsensibel, bis einer seiner engsten Freunde, der Vizebürgermeister von Andrano, mir ihr Verhalten erklärte. »Du hast Glück, Crris«, sagte er. »Großes Glück. Du kanntest Franco nicht, als es ihm noch gut ging. Denn sonst hättest du jetzt auch Probleme damit, ihn in diesem Zustand zu sehen. Er war so ein intelligenter Mann. So geistreich und kreativ. Man kann unmöglich akzeptieren, was da gerade mit ihm geschieht. Ich habe sämtliches Vertrauen verloren.«
Als Franco 1938 geboren wurde, wurde die Burg von Andrano noch von ihren letzten Besitzern, der Familie Caracciolo, bewohnt. Francos Tante arbeitete und wohnte als Kindermädchen auf der Burg und kümmerte sich um sämtliche Bedürfnisse ihrer jungen Schutzbefohlenen, der Prinzessin Ippolita. Als Gast seiner Tante verbrachte Franco einen Großteil seiner Kindheit auf der Burg, wo er lernte, eine Reihe von Musikinstrumenten zu spielen, darunter auch Geige und Klavier. In der königlichen Bibliothek gab es Bücher, die ihm von seiner Tante vorgelesen wurden, die sich um ihren Neffen ebenso kümmerte wie um die Prinzessin.
Als Sohn religiöser Eltern wurde Franco im Alter von zwölf Jahren ins Priesterseminar nach Otranto geschickt, eine mittelalterliche Stadt nördlich von Andrano. Anders als bei seiner halbköniglichen Erziehung bekam Franco dort intellektuelle Scheuklappen aufgesetzt und musste eine Tunika tragen, die er erst ausziehen durfte, wenn er schon unter der Bettdecke lag oder das Licht in seinem Schlafsaal gelöscht war. Man las seine Tagebücher und zensierte seine Briefe. Aber um seinen Eltern einen Gefallen zu tun, ertrug Franco seine kirchlichen Diktatoren, bis zu jenem Tag, als er einen Fußball in einen Bach schoss, seine Tunika mit Schlamm bespritzte und sich eine Ohrfeige einfing, die ihn für eine Woche ertauben ließ. Bei seinem nächsten Besuch zu Hause beschwerte sich Franco bei seinen Eltern, die ihren Sohn daraufhin vom Priesterseminar nahmen und ihm eine konventionellere Erziehung angedeihen ließen, bei der die Schüler ihrer eigenen Berufung folgen und nicht der ihrer Lehrer.
Als er achtzehn war und die meisten Ialiener wegzogen, um ihren Familien, aber nicht sich selbst zu helfen, zog Franco nach Lecce, um dort aufs Konservatorium zu gehen. Er wurde für seinen Egoismus und seinen Ehrgeiz kritisiert, aber auch bewundert – Reaktionen, die ihn sein Leben lang begleiten sollten. Nach seinem Universitätsabschluss unterrichtete er Musik in einem süditalienischen Bergdorf unweit von Cosenza, wo er eine italienische signorina kennenlernte und heiratete, die nach ihrem Weggang aus Alcamo an derselben Schule unterrichtete wie er.
Wenn Franco länger als ein Jahr an einem Ort blieb, langweilte er sich, also zogen die Frischverheirateten um, sooft sie konnten. Jahrelang schleifte Franco Valeria quer durch den Absatz des italienischen Stiefels, bis die Geburt von Daniela und Francesco ihrem unsteten Leben ein Ende bereitete. In den nächsten acht Jahren lebte die junge Familie in einem kalabresischen Küstenort, bis Franco eines Morgens aufwachte und verkündete, er habe wieder Hummeln im Hintern.
Zur selben Zeit, als Franco beschloss umzuziehen, erhielt er ein Überraschungsgeschenk von seiner Tante in Andrano. Der Prinz hatte ihr nämlich etwas Land auf dem Burggelände vermacht, das sie wiederum ihrem Lieblingsneffen vererbte. Obwohl Franco eigentlich vorgehabt hatte, nach Florenz, in die Stadt seiner künstlerischen Ambitionen zu ziehen, freute er sich, über seinen Heimatort dorthin zu reisen: Er wollte das Geschenk annehmen, ein Haus auf dem Grundstück bauen und es dann verkaufen, um seinen Umzug nach Norden zu finanzieren. Das war ein höchst unitalienischer, spontaner Plan mit ungewissem Ausgang, der niemanden mehr begeisterte als Franco.
Francos Mutter freute sich auf die Ankunft ihres Sohnes und hoffte, sie sei von Dauer. Sie hatte ihren Mann an Lungenkrebs verloren, als Franco fünfundzwanzig war. Anschließend hatte sie ihren Sohn kaum noch gesehen, denn der hatte nach dem tragischen Verlust seines Vaters nur noch den Wunsch gehabt zu fliehen. Bei seiner Rückkehr nach Andrano drückte Franco seine Gefühle gegenüber seinem Geburtsort und seiner Familie in einem Gedicht aus, das Daniela an ihrer Schlafzimmerwand hängen hat:
Ho perquisito le rughe della mia terra
ed ho scoperto i colori caldi del sud
fra i fiori
che ha seminato mio padre.
 
È qui la mia scuola,
su questi campi di bronzo,
dove il silenzio è colore,
dove un lamento è preghiera …
mentre la »torre spaccata«
attende che scenda qualcuno
dal prossimo treno
e poi lascia andare nel mare
l’ennesima pietra!
 
Un altro treno è passato:
Non è sceso mio padre! …
 
Ho ripercorso le strade della mia terra
ed ho rivissuto l’amore bruciante del sud
fra i fiori
che sta raccogliendo mia madre.
 
Ich suchte in den Falten meiner Heimat
und entdeckte die warmen Farben des Südens
zwischen den Blumen,
die mein Vater gesät hat.
Meine Schule ist hier,
auf diesen Feldern aus Bronze,
wo Schweigen Farbe ist
und die Klage ein Gebet …
während der »zerborstene Turm«1
wartet, dass jemand aussteigt,
wenn der nächste Zug kommt,
und den x-ten Stein
ins Meer fallen lässt.
 
Ein anderer Zug fuhr vorüber,
mein Vater ist nicht ausgestiegen!
 
Ich bin wieder durch die Straßen meiner Heimat gelaufen
und habe erneut die sengende Liebe des Südens gespürt,
zwischen den Blumen,
die meine Mutter pflückt.
 
Franco baute sein Haus neben der Burg, aber anstatt es zu verkaufen und nach Florenz zu ziehen, hat er seitdem hier gewohnt. Daniela und Francesco hatten Freunde in Andrano gefunden und weigerten sich, sich erneut entwurzeln zu lassen. Sie protestierten gegen die Umzugspläne ihres Vaters und trugen mithilfe ihrer Mutter den Sieg davon. Aber Franco fühlte sich wie in der Falle und erzählte Freunden und Kollegen, das Dorf sei nicht die Heimat seiner Familie, sie seien nur auf der Durchreise. Ganz so, als führe die »sengende Liebe«, die er in seinem Gedicht erwähnt, dazu, dass es ihm zu heiß unter den Füßen wird, wenn er zu lange an einem Ort bleibt.
Die nächsten zwanzig Jahre unterrichtete Franco am örtlichen Gymnasium, aber er verachtete das geruhsame Leben in seiner Heimatstadt und war hier nur selten glücklich. Wenn die Musik eine Metapher für Francos Leben ist, war er eher ein freigeistiger Solist und kein Orchestermitglied. Er weigerte sich, dem Taktstock seines Dirigenten zu gehorchen, genauso wie er sich weigerte, sich an den Angelegenheiten, Festivals und Klatschgeschichten seines Dorfes zu beteiligen. Jene, die versuchten, diesen Mann der Kultur für ihre Politik zu begeistern, mussten feststellen, dass ihnen die Tür, an die sie klopften, sogleich vor der Nase zugeschlagen wurde. Er ging auch nie in die Bar an der Piazza – und wer das in der italienischen Provinz nicht tut, wird immer ein Außenseiter bleiben.
Sobald er die Möglichkeit dazu hatte, floh Franco nach Rom oder Florenz, um auf Konzerten zu spielen oder seine Kunst auszustellen. Der kreative Intellektuelle war unzufrieden in Andrano, einem Dorf, dessen einzige Kultur aus Traditionen besteht. Aber Traditionen interessierten Franco nicht. Er sah darin eher eine Überlebensstrategie statt wirklichen Fortschritt. In all den Jahren, die er in Andrano lebte, besuchte er nicht einmal das Festival della Madonna. Franco suchte die Vielfalt, und davon hatte das Dorf nur wenig zu bieten.
Aber am allermeisten frustrierte ihn die Vorhersehbarkeit seines Lebens in Andrano. Nichts als Routine und eine Zukunft ohne jedes Abenteuer. »Wenn wir in zwanzig Jahren wiederkommen, wird Pippos Fiat immer noch in unserer Einfahrt parken«, sagte er einmal, als er seine Familie überzeugen wollte, die Koffer zu packen. Denselben Eindruck hatte ich an meinem ersten Tag in Andrano ebenfalls gewonnen. Jetzt, wo ich zurückgekehrt war, sah ich, dass es stimmte.
Franco glaubte, die Andranesi fänden Trost darin, dass sie ihr bescheidenes Schicksal vorhersehen konnten – etwas, das ihm mehr Angst machte als eine ungewisse Zukunft. Vom Tag seiner Geburt an zahlt jeder Einwohner eine jährliche Steuer an das municipio für ein Grab auf dem Dorffriedhof, ein Arrangement, das Franco verstörte. Denn wenn es nach ihm ging, war jemand, der bereits weiß, wo er begraben sein wird, schon so gut wie tot. Insofern dürfte es kaum verwundern, dass er mit seinen Zahlungen im Rückstand war.
Danielas Vater weigerte sich zu akzeptieren, dass alles, was einem das Leben zu bieten hatte, ein garantiertes Grab war, die Traditionen einer Kleinstadt und der Klatsch über das Leben der anderen. Er sehnte sich nach einem Ort mit einem raffinierteren Herzschlag als dem Puls der Provinz, nach einem Ort, wo es außer Cousins und compari auch noch Fremde gab. Er war zutiefst unglücklich und unzufrieden mit seinem Los, wie ein Goldfisch, der sein Glas leid ist, oder ein Wellensittich, der sich in seinem Käfig langweilt.
Erstaunlicherweise stieß Franco in Andrano nicht auf Ablehnung. Im Gegenteil, seine künstlerische Begabung wurde bewundert, und viele kauften seine Bilder. Aber am liebsten umgab er sich mit seinen Schülern, mit aufnahmefähigen Geistern, die er dazu ermutigte, über die Grenzen ihres Ortes hinauszudenken. Er fand, dass junge Leute eine Verschwendung in Andrano seien, und hoffte, dass seine Kinder einen Beruf ergreifen würden, der sie woanders hinbrachte. Er war sogar dagegen, dass sich Daniela mit einheimischen Jungs traf, aus lauter Angst, sie könnte ihretwegen bleiben. Trotzdem begann und endete die Welt für Franco mit Italien. Hätte Daniela verkündet, sie würde nach Australien fliegen, um einen Mann zu besuchen, den sie in Irland kennengelernt hatte, hätte ihr Vater bestimmt den nächstbesten Nachbarsjungen organisiert, damit er seine Tochter heiratete. Er ermutigte sie herumzustreifen, aber bitte nicht weiter als Rom. Leider war Franco bereits krank, als Daniela und ich uns kennenlernten, und wir werden nie erfahren, ob er unsere Verbindung akzeptiert hätte oder nicht.
Ich habe mich oft gefragt, ob Francos Wunsch, sein Leben selbst zu bestimmen, seine Besessenheit, den Ort verlassen zu wollen, und seine Depression darüber, bleiben zu müssen, eventuell zu seinem labilen Geisteszustand beigetragen haben, der sich schließlich in Alzheimer äußerte. Tatsächlich diagnostizierten ihn die Ärzte zunächst als »depresso«, doch von da an – Franco war gerade neunundfünfzig – ging es rasend schnell mit ihm bergab.
Anfangs schob man eine Reihe kleinerer Aussetzer noch auf harmlosen Stress, aber dann häuften sich seine Irrtümer, und die Alarmsirenen begannen zu schrillen. Er vergaß, welcher Tag gerade war, verlegte seine Sachen und zündete sich die Zigarette am falschen Ende an. Er stand um drei Uhr nachts auf und war fest davon überzeugt, es sei Zeit, zur Arbeit zu gehen. Und wenn er durch Andrano fuhr, verfuhr er sich in Gassen, die für Fremde undurchdringlich sind, die die Einheimischen aber kennen wie ihre Westentasche.
Als Valeria begriff, dass ihr Mann eine Gefahr für sich selbst war, versteckte sie seine Autoschlüssel, überredete ihn, Urlaub zu nehmen, und ging mit ihm zu einer Reihe von Ärzten, die nach anfänglichem Zögern eine dramatische Diagnose stellten. Franco erfuhr von einem Spezialisten in Rom, dass er sowohl sein Gedächtnis als auch seinen Verstand verlieren würde, eine Vorhersage, die er prompt vergaß, wodurch sie unmittelbar bestätigt wurde. Als er am nächsten Abend wieder zu Hause war, erinnerte sich Franco an seinen Besuch beim Spezialisten und bat seine Familie, ehrlich zu sein. »Ich spüre irgendetwas hinter meiner Stirn«, sagte er. »Etwas Schweres, wie ein dumpfes Gewicht. Würdet ihr mir bitteschön erzählen, was da vor sich geht?« Aber niemand sagte es ihm. Daniela hielt ihre Tränen zurück, Francesco ging aus dem Zimmer, und Valeria legte den Kopf gegen die Schulter ihres Mannes. Ihre Unfähigkeit zu helfen machte sie genauso wütend wie Franco, dessen lichte Momente immer seltener wurden, bis ihm sein Leben, seine Sprache und seine Lieben immer mehr entglitten.
Es dauerte nicht lange, bis Franco nicht mehr wusste, wie er hieß, sich in die Hosen machte und schon mit so simplen Aufgaben, wie sich anzuziehen oder sich die Zähne zu putzen, überfordert war. Er war verwirrt, vergaß mitten im Satz, was er sagen wollte, und wusste nicht mehr, wo das Bad war. Mit der Hilfe und Unterstützung ihrer Kinder fand Valeria die Worte, ihren Mann zu überzeugen, nicht mehr Auto zu fahren, sich frühpensionieren zu lassen und ihr alles zu überschreiben, solange er sich noch an seine Unterschrift erinnern könne. Anschließend ließ sich auch Valeria frühpensionieren, und ihre tägliche Routine begann, einschließlich des Morgenspaziergangs im Garten, wo der professore, als ihn vorbeikommende Freunde grüßten, zum ersten Mal nicht mehr darauf reagierte.
 
Nach seinem Morgenspaziergang verbrachte Franco den Rest des Tages damit, durch das Haus zu schlurfen, während ich ihm hinterherschlurfte. Ich gab mein Bestes, damit er weder sich noch dem Haus Schaden zufügte. Er schob sich von Zimmer zu Zimmer, altbekanntes Terrain wurde zu einer völlig neuen Entdeckung. Wenn ich abgelenkt wurde und ihn kurz aus den Augen ließ, fand ich ihn jedes Mal in einer Ecke vor, wie ein kleines Kind, das Verstecken spielt und bis hundert zählt. Ich hätte ihn bis tausend zählen lassen können, und er wäre immer noch da gestanden und hätte sich gewundert, warum seine Welt verschwunden war. Ich drehte ihn um, und schon ging’s wieder los, als Nächstes zum Sofa, wo er nach einem Kissen griff, es eine halbe Stunde mit sich herumtrug, bevor er es auf den Computer in meinem Arbeitszimmer legte. Am Nachmittag lief er jede Fliese im ganzen Haus ab. Valeria hätte ihm den Staubsauger mitgeben sollen.
Überall an den Wänden hingen seine Kunstwerke, Gemälde und Zeichnungen, die wie seine Gedichte eine mehr als zögerliche Liebe zu seiner Heimat preisgaben. Die vertrauten Merkmale der hiesigen Landschaft waren verzerrt und deformiert worden, so als wisse er ihr Vorhandensein zu schätzen, wünsche sich aber, dass sie sich veränderten. Er blieb vor den Bildern stehen und fuhr mit den Fingern über die Pinselstriche, über Fragmente eines Ganzen, das er nicht mehr begriff. Dann schloss er die Augen, wie um sich zu erinnern, bevor er sich von dem Bild abwandte, während seine Hand immer noch weitermalte, bis auch sie ihr Vorhaben vergaß und schlaff an der Seite des Künstlers herabhing.
Ich hätte zu gern mit Franco geredet, ihn nach der Bedeutung bestimmter Bilder gefragt und den Mann dahinter kennengelernt. Ich wünschte, er könnte mir selbst von seiner Vergangenheit erzählen und nicht nur seine Tochter. Dass das alles nicht ging, frustrierte mich, und manchmal hätte ich ihn am liebsten geschüttelt, um ihn aus seiner Trance zu reißen, in die er gefallen zu sein schien. So lange, bis er mich mit der kräftigen Stimme, die er einst besaß, anschreien würde, ich solle aufhören. Solange, bis das Genie vor mir stand und nicht der Idiot. Ich hielt seine Arme fest. »Professore, professore!« Nichts, nur die Tränen in meinen Augen und das Geräusch schlurfender Füße, die in dieselbe Zimmerecke eilten, aus der sie gerade gekommen waren.
Franco, der nicht mehr in der Lage war, ihre Funktion zu erkennen, hortete alle möglichen Gegenstände. Seine Hosen wogen schwer wegen der vielen Gartenkiesel, Gabeln, Haken, Schlüssel, Seifen und anderem Krimskrams. Wenn wir etwas suchten, sahen wir zuerst in Francos Hosentaschen nach. Er sammelte so viel Zeug, dass er am Ende des Tages einen Flohmarkt in seiner Jeans hätte veranstalten können.
Im Sommer hortete Franco seine Schätze in seinen Hosentaschen, aber im Winter warf er sie ins Feuer und erhöhte die Temperatur eines Raums, in dem wir uns anstrengten, cool zu bleiben. Eines Abends las ich gerade auf dem Sofa, als Franco vorbeitrottete, mir mein Buch entriss und es in die Flammen warf. Die Kissen im Wohnzimmer teilten dasselbe lodernde Los, genauso wie ein Paar meiner Schuhe, Valerias Handtasche, verschiedene Telefonrechnungen und Danielas Wintermantel.
Solche Possen verliehen Franco Charakter, auch wenn die Krankheit ihr Bestes tat, ihm jeglichen zu nehmen. Aber sobald er vor dem Spiegel stand, nahm diese schwarze Komödie ein Ende. Wie ein Neugeborenes, das er, wenn man den Ärzten glaubte, mental gesehen auch war, konnte Franco einfach nicht verstehen, dass das, was er sah, nur ein Spiegelbild war. Als er noch wütend sein konnte, wehrte er sich gegen den Eindringling, befahl ihm zu gehen oder hinterfragte die Keuschheit seiner Mutter. Spiegel waren Türen und keine visuellen Echos. Wie schon beim Kaminfeuer bestand Valeria darauf, die Spiegel hängen zu lassen, um dem Haus wenigstens noch den Anschein von Normalität zu geben. Aber als ich für Franco verantwortlich war, drehte ich sie zur Wand.
Wie immer kamen Valerias Freundinnen vorbei, wenn sie weg war, und brachten Gemüse von ihren Feldern oder Fleisch vom Metzger. Das ist die italienische Form von Nachbarschaftshilfe: jemandem etwas zu essen bringen, der ohnehin schwer an etwas zu kauen hat. Beinahe der ganze Ort trug das Seine zum Kampf hinter der Hausnummer 15 bei. Il farmacista brachte Francos Medikamente, der Schuster gab Valerias Schuhe ab, und eine Nonne kam mit einer Plastikmadonna vorbei, die mit heiligem Wasser aus Lourdes gefüllt war. Sie war für Franco und seine Wunderheilung bestimmt, doch sie hätte besser daran getan, sie mit Gin zu füllen und sie Valeria zu schenken.
Eines Morgens gab ich Franco gerade sein Frühstück, als der Bürgermeister von Andrano klingelte. Er war gekommen, um ein Poster zu zeigen, das man im municipio von einer von Francos Burgskizzen angefertigt hatte und das der Bürgermeister als Logo für die Gemeinde verwenden wollte. Francos Name stand unten auf dem Plakat, neben dem Jahr 1992, in dem der Künstler noch nicht ahnen konnte, dass seine Gedanken einmal genauso abstrakt würden wie viele seiner Bilder. Ich dankte dem Bürgermeister und eilte nach drinnen, um Franco weiterzufüttern, der es zweifellos auch als Ironie des Schicksals betrachtet hätte, dass ausgerechnet er, der sich stets von Politik ferngehalten hatte, das Logo für die Regierungspartei seines Ortes kreiert hatte.
Franco zu versorgen war schon zu Hause schwierig genug. Noch schwieriger wurde es, wenn wir mit ihm ausgingen. Ich wartete, bis Daniela von der Schule nach Hause kam, bevor ich es wagte, ihren Vater auf irgendwelche Exkursionen mitzunehmen. Normalerweise fuhren wir an der Küste entlang, um zu sehen, wie die Fischerboote den Hafen verließen oder die Sonne über Castro unterging. Aber wir hatten auch Pflichten zu erledigen. Eines Nachmittags gingen wir zum Friseur, ein fensterloser Raum voller Zigarettenrauch und Jagdzeitschriften. Die alten Männer in der Schlange ließen Franco gerne vor, aber wir schafften es nicht, ihn dazu zu bringen, auf einem Stuhl Platz zu nehmen. Also lief er herum, während ihm der Friseur im Gehen die Haare schnitt.
Trotz ein paar Fransen sah Franco gut aus, als wir ein Foto für seine carta d’identità machen ließen, die erneuert werden musste. Luigi hielt die Kamera höher als gewöhnlich, damit die Hände, die sein Motiv festhielten, nicht mit aufs Bild kamen. Es war rührend, wie der Ort Ausnahmen für jenen Mann machte, der sein Logo gezeichnet hatte.
 
Nach zehn Tagen kehrte Valeria zurück. Ohne sich nach der langen Busreise auszuruhen, begann sie sofort, Francos Bart zu rasieren, den Daniela und ich hatten wachsen lassen, weil er die Ausdruckslosigkeit in seinem Gesicht verbarg und ihn verwegen statt verwirrt aussehen ließ. Dann widmete sie sich seinem Schuppenproblem, indem sie den Staubsauger anwarf, mit der rechten Hand die Saugdüse über seinen Kopf führte und mit der Linken sein Haar kämmte. Zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, schien Franco zu verstehen, was da passierte, so ergeben war sein Gesichtsausdruck. Ich beschwerte mich später bei Daniela, indem ich sagte, egal, wie wenig ihr Vater mitbekäme – aber dass Valeria seinen Kopf staubsauge, müsse doch wirklich nicht sein. »Sie macht das nicht, weil er nichts mehr mitbekommt«, erwiderte Daniela. »Als wir klein waren, hat sie mit uns dasselbe gemacht.«
Stur und resolut wie sie war – Sizilianerin, nicht Italienerin -, fuhr Valeria mit der Pflege ihres sterbenden Mannes fort, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Mit der Zeit erkannte ich, dass Danielas Mutter die eigensinnigste Frau ist, der ich je begegnet bin. Doch was ihre größte Schwäche war, wurde unter diesen Umständen zu ihrer größten Stärke. Sie ließ sich von nichts unterkriegen. So traurig es auch war, dass Franco erkrankt war, so glücklich konnte er sich schätzen, dass ihm Valeria zur Seite stand. Ich hatte ihn gerade mal zehn Tage gepflegt und war vollkommen erschöpft. Valeria pflegte ihn mittlerweile seit fünf Jahren, auf die vielleicht noch einmal so viele folgen würden, und Daniela hatte sie noch kein einziges Mal klagen hören.
Aber ihr Kampf war unfair, sowohl für Franco als auch für Valeria. Wenn man sich ständig darum bemüht, das Leben eines Menschen zu verlängern, der unter Umständen tot besser dran wäre, riskiert man, selbst geisteskrank zu werden. Tatsächlich hatten die Ärzte Daniela und Francesco ermahnt, genauso auf die Krankenschwester zu achten wie auf ihren Patienten. Erstaunlicherweise hatte Valeria noch die Kraft zu singen, während sie sich um ihren Mann kümmerte, »O sole mio« und andere italienische Schlager, die sie bei Laune hielten. Sie erfand sogar eigene Texte, um sich Mut zu machen wie »Dio vuole così« – »Es ist Gottes Wille«. Es war eine Qual, ihr zuzuhören, aber es half Valeria zu funktionieren. Ihre Energie schien unerschöpflich zu sein, aber Daniela wusste es besser und war vor allem wegen ihrer Mutter und weniger wegen ihres Vaters aus Mailand zurückgekehrt. Ich bewunderte sie fast genauso für ihre Entscheidung, wie ich Valeria bewunderte, die sich an das Gelübde hielt, das sie vor fünfunddreißig Jahren vor Gott getan hatte, nämlich ihren zigeunerhaften Mann zu lieben, in guten wie in schlechten Tagen. Francos Gedächtnis mochte gelitten haben, aber das von Valeria war genauso ungebrochen wie ihr Wille.
Das Grausame an Alzheimer ist, dass die Krankheit die Vergangenheit genauso zerstört wie die Zukunft. Wir alle sollten das Recht haben, einen Blick auf jene werfen zu können, die wir geliebt, und auf das, was wir erreicht haben. Auf unsere Freunde und Familienangehörigen, auf unsere Triumphe und Tränen. Ich kann nur hoffen, dass der Tod Francos Erinnerungen wieder frei- und ihm sein altes Leben zurückgibt: seine Hochzeit, seine Musik, seine Kinder, seine Kunst. Und dass der professore, wenn ihn der Tod dann holt, das Paradies findet, das ihm im Leben trotz seiner fortwährenden Suche nie zuteilwurde. Einen Ort, den er nie gekannt hat, aber an den er sich stets erinnern wird. Wo immer dieser Ort auch sein mag, Franco, ich wünsche dir, dass dort die duftendsten Blumen wachsen und dein Vater aus dem Zug steigt.