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Von Besen und Bäumen
 
Signor Api wusste, dass etwas in der Luft lag, als wir seine Frage, ob er volltanken solle, mit Ja beantworteten. Und als er dann noch sah, dass Napoleon bis unters Dach mit Koffern vollgepackt war, fragte er noch eindringlicher als sonst: »Und wo soll’s heute hingehen?«
»Nach Sizilien«, entgegnete Daniela. »Und dann nach Mailand.«
»Lampo!«, rief er aus – »Potzblitz! Das klingt ja so, als ob Sie uns endgültig verlassen.«
»Ich denke schon.«
Ich stieg aus dem Wagen, um Signor Api die Hand zu geben. Daraufhin zog er mich an sich, bis ich seine ledrige Wange an meiner spürte – erst an der linken und dann an der rechten.
»Sie werden wiederkommen«, sagte er und ließ meine Hand gar nicht mehr los. »Sie beide. Und dann wird ein bambino auf dem Rücksitz sein und keine Koffer.«
»Wenn Sie meinen«, sagte Daniela.
»Mit mir hat das gar nichts zu tun. Das ist ein göttliches Naturgesetz.«
Signor Api füllte unseren Tank und leerte Danielas Geldbeutel.
»Alles Gute!«, rief er, als wir das »California« und Andrano verließen.
Und bei den 2000 Kilometern italienischen Asphalts, die noch vor uns lagen, galt sein letzter Gruß – »Buona fortuna« – Napoleon gleichermaßen.
 
Dass Daniela anders war als der durchschnittliche Andranese merkte ich zum ersten Mal daran, dass ihr Ferienhaus auf Sizilien lag. Viele gutbürgerliche Italiener besitzen ein Ferienhaus, häufig sogar am Meer. Aber bei den meisten Andranesi liegt es weniger als einen Kilometer von ihrem Hauptwohnsitz entfernt. Jeden Sommer beladen sie ihre Autos und rollen den Hügel zu ihren Strandhäusern hinab, wo sie die Moskito-Monate am selben Strandabschnitt verbringen wie all die Jahre zuvor. Sie schwimmen vor denselben Felsen, vor denen sie immer geschwommen sind, zwischen Menschen, die sie schon immer gekannt haben. Diesen wenig abenteuerlichen Alltag spiegelt auch der Sommerhit Stessa spiaggia, stesso mare wider – Derselbe Strand, dasselbe Meer. Er ist fast so etwas wie eine Nationalhymne und beschreibt eine Bevölkerung, die in puncto Sommerurlaub höchstens mal die Badehose wechselt.
Der Ferienalltag von Danielas Familie sah anders aus. Auch sie fuhr jedes Jahr an denselben Strand, nur war der ziemlich weit weg von Andrano. Danielas Mutter, Valeria, ist Sizilianerin. Ihr Vater, Franco, wurde in Andrano geboren, hatte aber erstaunlicherweise etwas dagegen, bis ans Ende seines Lebens ganz in der Nähe seines Zuhauses Urlaub zu machen. Er hatte absolut keine Lust, den Sommer damit zu verbringen, zwischen den beiden Häusern hin und her zu hetzen, um vergessene Gegenstände zu holen. Während die übrigen Andranesi also zu ihrem sommerlichen Exodus aufbrachen, ohne je in den zweiten Gang schalten zu müssen, trat Danielas Familie ihre 900 Kilometer weite Reise zu einem Hanggrundstück unweit von Valerias Heimatstadt Alcamo an. Dort wurde sie schon sehnsüchtig von unzähligen Tanten, Onkeln, Cousinen, Freunden und dem malerischen Golf von Castellammare erwartet.
Auf diesem Hang befinden sich mehrere Ferienhäuser, die Valeria und ihre beiden Schwestern benutzen. Letztere wohnen den Rest des Jahres über mit ihren Familien in Wohnungen, die nur wenige Kilometer weit weg liegen. Zu Francos diebischer Freude verbringen sie den größten Teil ihrer Sommerferien damit, zwischen ihren Besitztümern hin und her zu fahren, um das zu holen, was sie vergessen haben.
Eine gute Freundin von Valeria lebt in einer kleinen Ortschaft am Golf von Taranto, die praktischerweise auf dem Weg zwischen Andrano und Alcamo liegt. Dort vorbeizufahren, ohne sie zu besuchen, wäre eine Beleidigung und vollkommen unitalienisch. Als wir von der Hauptstraße abbogen und auf die Hupe drückten, versammelte sich ein Dutzend Leute auf dem Bürgersteig vor einem dreistöckigen Haus. Der Jüngste war fünf und der Älteste 85. Daniela hatte nur eine kurze Erfrischungspause einlegen wollen, aber da vierundzwanzig Wangen, und aufgrund ihres Drängens auch der Mund dazwischen, geküsst werden mussten, blieben wir über Nacht.
Drei Generationen lebten unter einem Dach, auf jedem Stockwerk eine. Die Kinder oben, die Eltern in der Mitte und die Großeltern im Erdgeschoss. Das weiße Gebäude war eine Art Flussdiagramm. Mit der Zeit arbeiteten sich seine Bewohner nach unten vor, bis eine Generation unter die Erde wanderte und die Nächste oben einzog. Der Garten war so fruchtbar wie die Familie, die ihn bestellte. Aprikosen fielen neben dem Haus zu Boden, und dahinter wuchsen Birnen. Zwischen den Bäumen gab es Kinderspielzeug und ein Dutzend frei laufende Hühner. Hier war man glücklich, laut und stets beschäftigt – ein Süditalien wie aus dem Bilderbuch.
Als wir uns am nächsten Morgen Kalabrien und der Spitze des italienischen Stiefels näherten, fuhren wir auf die Autostrada del Sole – jene Sonnenautobahn, die für ihren sommerlichen Verkehr berühmt und für ihre sommerlichen Unfälle berüchtigt ist. Eine Abfolge von langen Tunneln und hohen Brücken durchzieht eine alpine Landschaft, die man eher in Österreich statt in Süditalien erwarten würde und die den Fahrern, die sich mental bereits im Urlaub befinden, einiges an Konzentration abverlangt.
Die 3,6 Kilometer breite Straße von Messina, die Sizilien vom italienischen Festland trennt, wird per Autofähre überwunden. Politiker diskutierten den Bau einer Hängebrücke, aber der Preis in Lire war länger als die Brücke. Wir standen eine Stunde in der Schlange, bevor wir an Bord eines turmhohen Schiffes gingen, das sogar Züge über ein Meer befördert, das bei schlechtem Wetter ziemlich wild werden kann. Der Legende nach sollen zwei Meeresungeheuer, Cariddi auf der sizilianischen Seite und Scilla auf der kalabresischen, für die vielen Ertrunkenen in diesen Fluten verantwortlich sein, darunter auch für einige von Odysseus’ Weggefährten, die hier auf der Odyssee ertranken.
Obwohl Sizilien von Wasser umgeben ist, ist der erste und letzte Eindruck der von verzweifeltem Durst. Näher an Afrika als an Rom gelegen, befindet es sich vor der Spitze eines Stiefels, der es in jenen Wüstenkontinent zurückzukicken scheint, von dem es sich vor Millionen Jahren gelöst hat. Wasser ist knapp auf dieser sonnenverdorrten Insel. Die einzige natürliche Flüssigkeit, die Sizilien – neben Wein und Blutorangensaft – noch in großen Mengen zu produzieren vermag, ist die brennende Lava des Berges Ätna. Vom Hafen Messinas fuhren wir auf dem Weg nach Catania an dem 3000 Meter hohen Vulkan vorbei, bevor wir uns auf den Weg in das Herz der Insel machten.
Alcamo liegt nicht weit von Siziliens Westküste entfernt. Daniela hatte beschlossen, die Insel zu durchqueren und die Inlandsroute zu nehmen, die sie im Vergleich zur Küstenstraße als »stressig, aber sicher« beschrieb. Ohne eine Meeresbrise, die den Motor kühlen könnte, überhitzte sich Napoleon genauso oft wie wir. Fünfundvierzig Grad im Schatten und keine Klimaanlage! Der Asphalt schmolz genauso wie unsere Reifen. Es war Mittagszeit, und die Straße lag verlassen da. Überall durstige Felder mit gelbem Gras, die in der Hitze vor sich hin brutzelten, Kaktusfeigen und Olivenbäume. Dörfer waren hier genauso rar wie Wolken, und das Kreischen der Zikaden erfüllte die heiße Luft. Die Erde stand in Flammen, und trotzdem war es bezaubernd – eine einzige Fata Morgana. Bis Daniela den Ätna imitierte und sich vor lauter Hitze übergeben musste. Also fuhren wir schleunigst nach Palermo und ans Meer.
Wenn man in Italien zum ersten Mal Auto fährt, sollte man das nicht unbedingt in Palermo tun. Jetzt, wo Daniela außer Gefecht gesetzt war, oblag es mir, Napoleon durch die Heimat Garibaldis zu lenken. Man schlängelt sich eher durch Palermo, als dass man hindurchfährt. Wir fuhren zu fünft nebeneinander auf etwas, das eine dreispurige Straße gewesen wäre, wenn sich nur jemand die Mühe gemacht hätte, Linien aufzumalen. Stoppschilder waren eine bloße Möglichkeit und rote Ampeln reine Geschmackssache so wie Milch im Kaffee. Die ebenso verblichenen wie vergessenen Zebrastreifen waren weniger eine Hilfe für Fußgänger, sondern eher für Krankenwagen gedacht, die dort Verletzte einsammelten. Ich schaffte es, Unfälle, aber nicht Zwischenfälle zu vermeiden. Schon bald wurde Daniela wieder schlecht.
Links von der Autobahn standen die trostlosen Mietskasernen von Palermos Außenbezirken, riesige Schandmale grauen Betons voller Wäscheleinen. Rechts davon lag das centro storico mit seiner eleganten, aber verfallenden arabisch-normannischen Architektur, in die der Zweite Weltkrieg hässliche Lücken gerissen hatte. Palermos urbane Verschandelung ist ein Werk der Cosa Nostra, der grausamen sizilianischen Mafia. Sie hat die Stadt in betrügerischer Absprache mit Verwaltungsbeamten aus reiner Profitgier unkontrolliert weiterwuchern lassen.
Die Cosa Nostra ist das organisierte Verbrechen schlechthin. Ihre Blutsbrüder, die allein zwischen 1983 und 1993 10 000 Tote auf dem Gewissen haben, sind berüchtigt dafür, ihre Gegner in Säure aufzulösen oder sie so zu fesseln, dass sie sich bei dem verzweifelten Versuch, sich zu befreien, selbst strangulieren. Incaprettamento oder »Ziegenstrangulieren« heißt diese sehr beliebte Mordmethode, denn wenn die Totenstarre einsetzt, befindet sich der Körper in einer Position, in der er sich problemlos in jedem Kofferraum transportieren lässt. Die unberührbaren, gut vernetzten »Ehrenmänner« der Cosa Nostra haben die völlige Kontrolle über Palermo, eine Stadt, deren Bürgermeister von Leuten gewählt werden, die schon lange tot sind oder am 31. Februar geboren wurden.
Der Mann, der den größten Erfolg im Kampf gegen die Mafia vorweisen konnte, war der Richter Giovanni Falcone. Und als wir Palermo verließen, nahmen wir jene Straße, auf der es ihm die Mafia heimzahlte. Als ich gerade anfing, mich hinter dem Steuer wieder etwas zu entspannen, beugte sich Daniela vor und erzählte mir wie nebenbei, dass in die Straße unter uns einmal ein sieben Meter tiefer Krater gesprengt worden war, mit Sprengstoff, den man in einem unterirdischen Abflussrohr versteckt hatte. Falcone, seine Frau Francesca und ihre drei Leibwächter, deren Auto in einen Olivenhain flog, wurden alle getötet. Angesichts der vielen blutgetränkten Sehenswürdigkeiten braucht man schon einen starken Magen und einen schwach ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, um Palermo wirklich genießen zu können.
Nachdem wir an der Autobahnausfahrt Punta Raisi vorbeigefahren waren, die zu jenem Flughafen führt, von dem aus Falcones vom Unglück verfolgter Autokorso aufgebrochen war, wählte Daniela die Handynummer ihrer Mutter. »Stiamo arrivando mamma.« Es dämmerte, der Himmel war scharlachrot, und die Temperatur war auf erfrischende 35 Grad gesunken. Dass sie vom Beifahrersitz aus Anweisungen geben konnte, hatte in Bezug auf Danielas Übelkeit wahre Wunder bewirkt. Die letzten paar Kilometer unserer Reise verbrachte sie damit, mich auf ihren Vater vorzubereiten, der mit 59 einer vorzeitigen Alzheimererkrankung anheimgefallen war.
Nachdem ich die letzten sechs Wochen in einem Haus verbracht hatte, das mit seinen Kunstwerken geschmückt war, kannte ich Franco in gewisser Weise bereits. Zumindest das, was ihn inspirierte: eine eigenwillige Landschaft, die Innenwelten eines Mannes, weibliche Schönheit und Familienfreuden. Franco war offensichtlich ein sehr vielschichtiger Charakter gewesen, bevor ihn die Krankheit dement gemacht hatte. »Bitte lächle, wenn du das schaffst«, sagte Daniela. »Wenn er merkt, dass jemand unglücklich ist, beunruhigt ihn das.« Ich versprach ihr, mein Bestes zu tun.
»So, da wären wir«, sagte sie und zeigte auf einen unasphaltierten Weg, der einen Hügel hinaufführte. Während Daniela mir ins Lenkrad griff, um auf die Hupe zu drücken, holperten wir den Feldweg entlang, bis wir eine Lichtung erreichten, auf der ungefähr zwanzig schreiende und winkende Personen standen sowie eine Frau, die den Arm eines schweigsamen Mannes hielt.
Der fröhliche Haufen hatte mich schon genauso sehnsüchtig erwartet wie Daniela. Sobald Napoleons Tür quietschend aufging, war ich auch schon in die Familie aufgenommen. Wir küssten uns durch die Menge, während mir Daniela Namen von Verwandten an den Kopf warf, deren Wangen mich Sekunden später erwarteten: »Zia Tina, Zio Tonio, Nonna Lina, Nonno Totò, Antonio, Fabio, Marisa, Sergio, Luisa, Salvatore, Lucia …« Die Gesichter kamen so schnell auf mich zu, dass ich kaum noch wusste, wo links und rechts war, bis ich Danielas 100 Kilo schweren Cousin Antonio in der Mitte entdeckte.
Hinter der Meute wartete Danielas bärtiger Bruder Francesco. Manchmal hat ein fester Händedruck durchaus seine Vorzüge. Ich war schließlich nicht nach Italien gekommen, um Francesco zu küssen, ich war gekommen, um seine Schwester zu küssen.
Valeria, die sich bei Franco eingehakt hatte, schenkte mir ein Lächeln, das ich nur mit Mühe erwidern konnte. Die geistige Abwesenheit ihres Mannes war schlimmer als seine körperliche Anwesenheit, und trotz Danielas Vorwarnungen, fiel es mir schwer, meine Betroffenheit zu verbergen. Daniela küsste die grauen Stoppeln auf den Wangen ihres Vaters. »Ciao papino«, sagte sie übertrieben euphorisch, als versuche sie, einem Baby ein Lächeln zu entlocken. Francesco runzelte die Stirn und murmelte ein unverständliches Wort. Doch obwohl er durch sie hindurchsah, glänzte eine Träne in seinem Auge, als er sich kurz an seine Tochter erinnerte.
Valeria war Francescos Fels in der Brandung. Seine drahtigen Beine traten ständig auf der Stelle, und wenn sie ihn losgelassen hätte, wäre er bis zum Horizont gelaufen. Nachdem mich Daniela dazu ermutigt hatte, gab ich ihm meine Hand, über die er mit zwei Fingern strich. »Er malt«, sagte Valeria.
Nach ein paar Pinselstrichen öffnete er die Augen, wandte abrupt den Kopf ab und sagte »si« zu einem eingebildeten Gesprächspartner. Das brach allen das Herz, bis auf Franco. Aber seine Familie lächelte tapfer.
Bevor die Krankheit zuschlug, war Franco Lehrer, Künstler und Musiker gewesen. Als Künstler hatte er Ausstellungen in ganz Italien gehabt, als Musiker unterrichtete er Geige und Klavier, komponierte für Tischharfe und trat mit Mussolinis Sohn auf Jazzkonzerten in Mailand auf. Als er eines Sommers neben anderen beängstigenden Aussetzern plötzlich den Weg zum Ferienhaus nicht mehr fand, den er normalerweise blind gefunden hätte, merkte seine Familie das erste Mal, dass etwas nicht stimmte. Fünf Jahre nach jener falschen Abzweigung war Valeria nur noch die Krankenschwester ihres Mannes, der nicht mal mehr ihren Namen wusste.
Die untersetzte Frau mit den rötlichen Haaren und rosigen Wangen hatte eine so helle Haut, dass der Sommer eine einzige Strapaze für sie war, aber sie war Strapazen gewohnt. Ihre beiden Kinder hatten ihren olivfarbenen Teint offensichtlich von Franco geerbt.
»Willkommän«, sagte Valeria in vorher einstudiertem Englisch. »Möggesiewastringen?«
Die Umstehenden lachten und applaudierten. »Bravissima! Bravissima!«
Valerias sommersprossiges Gesicht wurde rot. »Andiamo dentro«, sagte sie mit ihrer normalen Stimme und bat mich herein, während sie die Hand hob, um die noch applaudierende Gruppe wieder zu beruhigen. Jetzt, wo Daniela den Arm ihres Vaters hielt, hakte sie sich bei mir unter. »Macht immer die Tür hinter euch zu, sonst läuft Franco weg«, sagte sie und führte mich durch das Tor eines Zementzauns, der Haus und Garten umgab. Die Verwandten kehrten in ihre diversen Häuser zurück, und wir fünf gingen hinein, Valeria zuerst, und dann Daniela mit Franco, während Francesco uns folgte und mit einem lauten Klicken das Tor schloss.
Valeria sprach sehr schnell. Hätte Daniela sie nicht mehrfach gebeten, langsamer zu reden, hätte ich sie kaum verstanden. Doch viele Fragen, die ich ihr gern gestellt hätte – wie die, ob italienische Hausfrauen wirklich vier Besen auf einmal kaufen -, beantwortete sie mir, ohne ein Wort zu sagen. Das tun sie nämlich in der Tat: Einer lehnte an der Küchentür, während drei andere kopfüber an einem einsamen Olivenbaum in der Mitte des Gartens hingen. Wenn sie ausnahmsweise mal langsam sprach, gab Valeria mehr über den Charakter Siziliens preis als über ihren eigenen. Nachdem sie sich unseren Wunsch nach einem Bier und einem Glas Wasser angehört hatte, klapperte sie dermaßen lange und laut in der Küche herum, dass Daniela schließlich rief: »Lass das mit dem Bier, falls du keines finden kannst, mamma
»Es ist nicht das Bier, das ich suche«, sagte mamma. »Es ist das Wasser.«
Francesco verbrachte den Abend damit, sich zu pflegen. Er war drei Jahre jünger als Daniela und stellte – von seiner eng anliegenden Armani-Badehose einmal abgesehen – stolz seinen nackten Körper zur Schau. Sein Bonsai-Ziegenbärchen war mit Präzision gepflegt, und eine Tätowierung auf seiner Schulter buchstabierte irgendwas auf Japanisch. Als er zur Bar fuhr, um Mineralwasser zu holen, verbrachte er mehr Zeit damit, seine Frisur im Rückspiegel zu kontrollieren, als auf die Straße zu achten. Er tat wenig, um das Casanova-Klischee zu entkräften, das ich mit selbstgefälligen italienischen Männern verband. Er neigte dazu, zu schreien statt zu sprechen, und war völlig desinteressiert an allem, was andere zu sagen hatten. Wegen meiner mangelhaften Italienischkenntnisse verlor er schnell die Lust daran, sich mit mir zu unterhalten. In den seltenen Fällen, in denen er mich etwas fragte und ich antwortete, unterbrach er mich regelmäßig. Das machte mich nervös. Ich sprudelte Wörter hervor, die mir noch schwerfielen, und wählte natürlich die falschen. Ich wusste, dass ich Francescos Verhalten mir gegenüber nicht persönlich nehmen durfte – er war hyperaktiv und hatte mit niemandem Geduld. Trotzdem fühlte ich mich ein wenig gehemmt, was eigentlich schade war, wenn man bedenkt, wie sehr sich mein Italienisch mithilfe geduldigerer Zuhörer bereits verbessert hatte. Mein Verhältnis zu Francesco sollte sich noch als sehr komplex erweisen. Als mein Chef, mein Vermieter und selbst ernannter Bewacher seiner Schwester sollte er meine erste Zeit in Mailand sogar noch anstrengender finden als ich selbst.
Und dann war da noch Franco, der liebenswerte Franco, der den ganzen Abend damit verbrachte, das Zimmer abzuschreiten und sich in seinen Ecken zu verlaufen. Daniela pflegte ihren Vater dann einfach umzudrehen, bis er wieder einen freien Fleck entdeckte und weitermarschierte. Hin und wieder stieß er einen Fluch aus oder sagte einem Möbelstück, es solle sich fortscheren. Er suchte nach kleinen Gegenständen, die er entweder woanders hinlegte oder in seine Taschen stopfte. Die Fernbedienung für den Fernseher lag in der Spüle und Danielas Autoschlüssel im Kühlschrank. Er hatte sie in die Butter gedrückt wie Merlin das Schwert Excalibur in den Felsen. Ich gewöhnte mich schnell an sein Hinundhergerenne. Er lief vor und zurück wie ein Pendel und genauso regelmäßig. Die Alzheimer-Erkrankung schwächte seinen Körper und beschämte seinen Geist. Doch immer wieder setzte er ein Lächeln auf, das den ganzen Raum erhellte. Damit teilte er uns, wenn auch nur kurz, mit, dass er noch wusste, was es bedeutet, glücklich zu sein.
Eine wiedervereinte italienische Familie schwatzt bis spät in die Nacht. Es war zwei, als wir ins Bett gingen, oder besser, schwankten. Zio Tonio hatte als »Willkommänsgeschenk« einige Flaschen seines selbst gekelterten Weins mitgebracht.
Unser Zimmer war eine Einliegerwohnung im Erdgeschoss. Der separate Eingang war über mehrere Steinstufen neben dem Haus zu erreichen. Zwischen den Terrakottatöpfen hindurch, die vor dem Fenster standen, konnte ich ins Tal und auf den Golf schauen, wo die Lichter von Frachtschiffen auf dem dunklen Tyrrhenischen Meer blinkten. Trotz geschlossener Türen hörte ich einen Schwarm Vespas am Strand, ihre aufheulenden Motoren und schreienden Fahrer. Aber nach zwei Tagen auf italienischen Straßen hielt mich nichts mehr wach. Ich schlief schon, bevor ich meine Matratze berührte, die vielleicht wie die Besen von einem fliegenden Händler gekauft worden war.
 
Wir verbrachten eine Woche auf dem Hügel und versuchten zu faulenzen. Sieben drückend heiße Tage, die von schlaflosen Nächten getrennt wurden. Sieben Ferientage, die zeitlich genauestens strukturiert waren, obwohl Alcamos campana außer Hörweite war.
Ich öffnete jeden Morgen die Tür, um dieselben beruhigenden Geräusche zu hören. Kies knirschte unter Francos Schuhen, als er in der Auffahrt hin und her lief, irgendetwas in sich hineinbrummte und sich mit den Stimmen in seinem Kopf unterhielt. Auf der anderen Seite des abfallenden Olivenhains, der unser Haus von seinem trennte, sang Nonno Totò auf seinem Balkon. Da er Jahre als Kriegsgefangener verbracht hatte, reichte es, dass ein neuer Morgen anbrach, um ihn ein Liedchen anstimmen zu lassen. »C’è scirocco!«, rief Nonna Lina und gab uns den täglichen Wetterbericht. Noch wehte kein Wind, aber sobald es Siesta-Zeit war, brachte der von ihr angekündigte Wüstenwind alles Leben zum Stillstand, und im Abend-aperitivo schwamm Saharasand. Ein Chor von Zikaden erweckte die Landschaft zum Leben. Ihr hypnotisierendes Konzert ließ mich zu einem Buch greifen, mit dem ich mich unter einem Baum ausstreckte. Aber an diesem Faulenzertag hatten wir noch viel vor. Vormittags stand ein Ausflug zum Strand auf dem Programm, bevor es sogar zum Schwimmen zu heiß wurde.
Die Cousins und Cousinen trafen sich zwischen ihren Häusern, bevor sie mit ihrem Wagenkonvoi aufbrachen. Die Sonne brannte immer erbarmungsloser, und da musste man sich nicht lange mit Nebensächlichkeiten wie Sicherheitsgurten aufhalten. Wir fuhren mit Antonios Fiat Uno. Ich saß auf dem Rücksitz und klammerte mich an Danielas Arm, während sich Francesco und sein Cousin vorne eine Zigarette teilten. Selbst wenn ich mich hätte anschnallen wollen – auf der durchgesessenen Rückbank gab es gar keinen Sicherheitsgurt. Ein Bild der Madonna verdeckte die Benzinanzeige und rechtfertigte jede Form von Blasphemie, wenn das Benzin ausging. Die Straßen waren holprig und voller Schlaglöcher. Jedes Mal, wenn wir eines erwischten, verströmte der Anhänger, der vom Rückspiegel baumelte, seinen Duft. Nach ein paar Kilometern roch es im Wageninnern wie in der Parfümabteilung eines Kaufhauses. Antonio fuhr schnell, seine Sandalen in Schuhgröße 50 malträtierten das Gaspedal und verschmähten die Bremse. Ich entspannte mich ein wenig, nachdem wir eine Vespa mit einer ganzen Familie an Bord überholt hatten. Zu ihr gehörte auch ein Hund, der gefährlich auf dem Lenkrad balancierte. Es gibt immer jemanden, der noch schlechter dran ist als man selbst.
Antonio setzte uns an einem Strand ab, der Guidaloca hieß, bevor er sich auf die Suche nach einem Parkplatz machte. Er blieb den größten Teil des Vormittags verschwunden. Unser Konvoi hatte sich aufgelöst, wir hatten die anderen verloren, und bei einem überfüllten Strand heißt das, dass man sich auf dem Handy anruft, um sich wiederzufinden. Italienische Strände sind in den Sommermonaten völlig überlaufen. In dem Versuch, eine Überbelegung zu vermeiden, werden die Strandregeln Ende Juni übers Radio bekannt gegeben – Regeln, die die carabinieri erst recht zu Witzfiguren machen. In der Region Lazio zum Beispiel müssen die Schirme einen Mindestabstand von vier Metern aufweisen, in der Emilia Romagna sind es nur zwei Meter fünfzig. Für die Schirme von Guidaloca gab es keine Regeln. Sizilianer finden Strandregeln entweder nervig oder überflüssig – vor allem, nachdem sie auf dem Weg zum Strand ohnehin schon zahllose Regeln gebrochen haben.
Guidaloca besaß die Form einer Melonenscheibe, und das Wasser sah ebenfalls sehr erfrischend aus. Nachdem sie ihre Strandtücher ausgebreitet hatten, stürzten sich Daniela und Francesco ins blaue Nass, während ich über die Landzunge zu einem Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg hinauflief. Da er aus den Steinen der Landzunge erbaut worden war, war er perfekt getarnt – und zweifellos die Attraktion für jene verliebten Teenager, die ich darin vorfand. Doch leider hatten sie mich auf diese Weise auch nicht kommen hören. Kein Wunder, dass die Invasion Siziliens durch die Alliierten ein Spaziergang war.
Eltern mit einer strengen Sexualmoral zwingen ihre Kinder, ihre erotische Neugier in der Öffentlichkeit zu befriedigen. Als wir eines Abends auf dem Weg in ein Restaurant waren, kamen wir an einem Parkplatz vorbei. Daniela meinte, er sei später voller Leute, die sich näher kämen, als es die Handbremse normalerweise erlaubt. Ich dachte, sie meinte vielleicht ein, zwei Autos. Aber als wir gegen Mitternacht den Heimweg antraten, befanden sich sowohl die Autos als auch ihre Insassen Stoßstange an Stoßstange. In Neapel machen sich notgeile junge Paare nicht einmal die Mühe, einen Parkplatz aufzusuchen. Sie halten einfach mitten auf der Straße und decken die Scheiben mit Zeitungspapier ab. Um sich der ungeteilten Aufmerksamkeit ihrer Partnerinnen zu versichern, decken manche Männer die Windschutzscheibe lieber mit der Sportzeitung ab. Vielleicht ist das der Grund, warum die Gazzetta dello sport rosa ist – um für die richtige Stimmung zu sorgen.
Im Bunker entschuldigte ich mich und kehrte an den Strand zurück, wo es auf den Steinen ebenfalls ziemlich heiß herging. Ein merkwürdiges Paar saß in einer anzüglichen Pose auf einer Plastikliege. Der Haaransatz des Mannes hatte sich weit nach hinten, sein Bauch aber dafür nach vorn verlagert, und er ergraute ebenso schnell, wie er braun wurde. Seine dreißig Jahre jüngere Gespielin war bis auf einen schwarzen Stringtanga, die Ringe an jedem Finger und ihre lackierten Zehennägel vollkommen nackt. Sie spielte ebenso andächtig wie affektiert mit dem Kreuzanhänger in der Brustbehaarung ihres Geliebten und bedeckte sein Gesicht mit Küssen. Dick und selbstherrlich wie ein Mafioso auf Urlaub ließ er ihre Liebkosungen scheinbar gleichgültig über sich ergehen, aber die Beule in seiner Badehose sprach eine andere Sprache.
Viele Italiener legen sich eine Geliebte zu, vor allem auf Sizilien, wo die ewige Liebe angeblich gerade mal zwei Jahre dauert. Danielas Klasse beschäftigte sich einmal mit dem Familienstammbaum, als ein achtjähriges Kind die Hand hob und fragte: »Maestra, und wo muss ich Papis Freundin einzeichnen?« In der Hölle, würde Mama sagen. Die Sommerhitze muss Untreue begünstigen, denn ein Drittel aller Scheidungen wird im September eingereicht. Eine Zeitung veröffentlichte sogar die besten Orte, an denen man seinen Partner betrügen kann. Laut dem Messaggero machen polygame Menschen vor allem in der Versilia Urlaub, während sich die monogamen auf der Insel Elba oder in Rom sonnen. Wahrscheinlich deshalb, weil der Mindestabstand von Schirm zu Schirm an römischen Stränden vier Meter betragen muss. Je näher der Vatikan liegt, desto weiter liegen die Handtücher auseinander.
Francesco fand, wir sollten ein Tretboot mieten, um zu den Grotten zu gelangen. Obwohl wir dort bestimmt ein weiteres Teenagerpärchen überraschen würden, stimmte ich bereitwillig zu. Daniela fand, ich solle das Reden übernehmen, um mein Italienisch zu verbessern. Als ich bei der Bootsvermietung anstand, wiederholte ich den schlichten Satz in Gedanken immer wieder. Als ich schließlich drankam, sagte ich in fließendem Italienisch ohne die Spur eines Akzents: »Possiamo noleggiare un pedofilo per favore?« Perfektes Italienisch, auch die Grammatik war einwandfrei. Aber warum brach dann Francesco in lautes Gelächter aus? Daniela schlug sich sogar die Hand vor den Mund. Ganz einfach, weil ich einen »Pädophilen« hatte mieten wollen statt ein »Tretboot«. »Pedalò«, verbesserte mich Daniela. »Nicht pedofilo.« Mein Selbstvertrauen war schwer angeschlagen, und Daniela musste mich wieder unter ihre Fittiche nehmen. Ich hatte das Wort für »pädophil« nicht mal gekannt, bevor ich es ausgesprochen hatte. Als wir hinaus aufs Meer strampelten, sah der Mann vom Bootsstand gerade noch einmal auf sein handgeschriebenes Schild, nur um sicherzugehen, dass es wirklich mein Fehler gewesen war.
Daniela und ich schwammen in den Grotten herum, während Francesco Krabben fing, sie auseinanderriss und roh aß. Sowohl auf Sizilien als auch in Apulien genoss ich das ruhige Meer, muss aber zugeben, dass ich das Wasser ohne Wellen nach einiger Zeit ziemlich langweilig fand. Da ich mit Surfen am Bondi Beach aufgewachsen bin, verbinde ich das Wort Strand mit Wellen, die einen vom Brett spülen, und nicht mit Entspannung. In Australien greife ich zum Surfbrett. In Italien zum Buch.
Nach einer Stunde kehrten wir an unseren Strand zurück und stellten fest, dass Antonio und die anderen sich wieder gefunden hatten. Wir sonnten uns, bis uns der Magen knurrte und Daniela meinte, es sei Zeit, aufzubrechen. Als wir Antonios Fiat erreichten, sahen wir, dass der Seitenspiegel kaputt war und nur noch an einem Stück Draht hing. »Va bene«, sagte sein Eigentümer gleichgültig. »Ich benutze ihn sowieso nie.« Wenn Antonio Hunger hat, fährt er noch schneller als sonst, und so waren wir bald wieder auf unserem Hügel, wo Franco immer noch im Garten auf und ab ging und sich Valeria darüber beschwerte, was meine Unterwäsche ihrer Wäsche angetan habe.
Daniela übersetzte das Lamento ihrer Mutter, so gut sie konnte. Valeria hatte ungefragt alle unsere Kleider aus der Einliegerwohnung eingesammelt und sie in die Waschmaschine getan. An der Wäschespinne hing meine burgunderrote Unterhose, die, wie sie behauptete, ihre Laken verfärbt hätte. Ich muss zu meiner großen Schande gestehen, dass meine Unterhose dermaßen alt und ausgeblichen war, dass sie kaum noch Burgunderrot enthielt. Es kam mir sehr unwahrscheinlich vor, dass sie jetzt abfärbte, wo sie es all die Jahre nicht getan hatte. Aber Valeria bestand darauf, dass sie ihre Wäsche ruiniert hätte. Daniela versuchte, eine von vielen trivialen Tragödien in einer italienischen Familie zu entschärfen, indem sie vorschlug, es liege am neuen Waschpulver, dass meine Unterhose abgefärbt habe. Das war der Beginn ihrer Rolle als Vermittlerin. »Das hat rein gar nichts damit zu tun«, verneinte Valeria. »Kauf keine rote Unterwäsche, Chris. Kauf weiße.« Dass ich jetzt mit zur Familie gehörte, hatte auch seine Nachteile.
Ein Thermometer, das am Besenbaum befestigt war, zeigte 40 Grad im Schatten an, und wie Nonna Lina bereits angekündigt hatte, wehte der Schirokko. Alles Leben am Hang kam zum Erliegen. Uns blieb nichts anderes übrig, als im Haus zu bleiben, eine Stunde lang zu essen und uns drei Stunden auszuruhen. Ich war froh, dass wir unseren eigenen Bereich hatten, die kühle Wohnung im Erdgeschoss. Dank der Aufgeschlossenheit Valerias fühlte sich ihre Tochter in der Einliegerwohnung wesentlich wohler, als das in einem mit Zeitungen verhängten Auto der Fall gewesen wäre.
Wie in Andrano begann die zweite Tageshälfte gegen fünf, wenn Daniela in die Rolle der Fremdenführerin schlüpfte und mir die Sehenswürdigkeiten in und um Alcamo zeigte. Zunächst war das die Altstadt von Erice. Der auf einer Bergspitze klebende Ort mit Meerblick soll einer Legende nach vor 3000 Jahren vom Sohn von Venus und Neptun gegründet worden sein. Ich hätte die Stadtmauern aus dem 18. Jahrhundert fotografieren sollen, das Kastell aus dem 12. Jahrhundert und die kopfsteingepflasterten Gassen, die so eng waren, dass wir im Gänsemarsch laufen mussten. Aber das tat ich nicht, obwohl ich es fest vorgehabt hatte. Ich hatte mir sogar extra einen Führer gekauft. Aber neben der Buchhandlung entdeckte ich eine pasticceria, die Obst aus Marzipan verkaufte, eine sizilianische Spezialität. Also setzte ich mich auf eine Bank und stopfte mich mit Minibananen, einer Orange, einer Mandarine und einem Pfirsich voll, während ich 700 Meter tiefer die Sonne über dem Hafen von Trapani untergehen sah.
Unsere nächste Station war die antike Stadt Segesta. Laut meinem Führer ist der 420 v. Chr. errichtete dorische Tempel mit seinen 36 Säulen das »am besten erhaltene griechische Bauwerk weltweit«. Eine ziemlich stolze Behauptung, aber dafür erübrigte sich die archäologische Diskussion, ob die Griechen ihre Gebäude nun mit Dächern bestückten oder nicht. Eine weitere »Oben ohne«-Attraktion ist das Amphitheater von Segesta, eine primitive Arena, die aus dem Fels des Monte Barbaro gehauen wurde. Hier fanden im Sommer keine Olympischen Spiele, sondern Darbietungen von griechischen Tragödien statt.
Weitere Ausflüge hatten das Garibaldi-Denkmal in Calatafimi zum Ziel, das an den berühmten Sieg seiner Rothemden über die Bourbonen erinnert, sowie so viel von Palermo, wie es die Hitze und unser spätes Aufbrechen zuließen. Nach Sonnenuntergang pflegten wir zum Hügel zurückzukehren, wo uns schon in der Auffahrt der Duft des Abendessens begrüßte. Etwas, das mich ehrlich gesagt mehr reizte als alle Leckerbissen aus meinem Reiseführer.
Jeden Abend deckte Valeria im Garten für zwanzig Personen. Die eingeladenen Nachbarn brachten Essen für vierzig mit. Ein typisches Festmahl begann mit Zia Tinas antipasti, zu denen prosciutto mit Honigmelone, Pizzastücke, Bruschette, frittierte Auberginen und in Öl eingelegte Zucchini und Paprika gehörten. Das allein hätte mir schon gereicht. Aber dann kam Luisas primo piatto, eine ungewöhnliche, aber unglaublich leckere Mischung aus Ofenkartoffeln und Muscheln. Anschließend gab es Nonna Linas Pferdefleisch in Tomatensauce. »Iss schnell«, sagte Antonio. »Es war ein Rennpferd.« Das Fleisch war zäh, aber erstaunlich geschmackvoll – obwohl ich die ganze Zeit daran denken musste, dass ich gerade ein Lebewesen verspeiste, das höchstwahrscheinlich intelligenter war als ich selbst. Valeria war normalerweise für den terzo piatto zuständig: Spieße mit Leber und anderen Innereien, über deren Herkunft ich lieber nicht nachdenken wollte. Für diejenigen, deren Arme dann immer noch weiter reichten als der Bauch, gab es Obst: Wassermelone, Aprikosen, Pfirsiche und Feigen.
Und dann kam der coup de grâce, eine Kalorienbombe namens cannoli siciliani – aus Mehl, Zucker, Schokolade und Weißwein wird eine Hohlwaffel gebacken, die wiederum mit Ricotta und Schokolade gefüllt wird. Gäste und Dessert waren also gleichermaßen gefüllt.
Mit flinken und genauestens durchchoreographierten Bewegungen ging Sergio nach jedem Gang mit einem Müllsack um den Tisch, in den wir alles warfen bis auf unsere Gläser. Seine Cousine Luisa folgte ihm und reichte uns die Plastikutensilien für den nächsten Gang. Jeder trug auf seine Weise zum Mahl bei. Zio Tonio brachte seinen selbst gemachten Prosecco mit – ein Weißwein, der so trocken war wie die Landschaft, in der das Marathonmahl stattfand. Und die ganze Zeit über fütterte Valeria Franco am Kopf des Tisches, versuchte, ihn still zu halten, und wischte ihm regelmäßig mit einer Serviette übers Kinn.
Die Unterhaltung bei Tisch drehte sich ausschließlich um das, was darauf stand. Ja, das Reden über das Essen schien für meine Gastgeber fast noch wichtiger zu sein als das Essen selbst.
»Wie kocht man Spaghetti in Australien?«, wollte Nonna Lina von Daniela wissen.
»Sie massakrieren sie«, entgegnete Daniela. »Sie kennen kein al dente. Sie kapieren nicht, dass die Nudeln noch weiterkochen, während man sie probiert und abgießt. Nimmt man sie vom Herd, wenn sie schon weich sind, werden sie zu weich. Eine Spaghetti-Nudel braucht Rückgrat.«
»Allerdings!«, sagte Nonna Lina stolz zu ihrer Enkelin. Nach dem Abendessen ging Sergio mit einem weiteren Müllsack um den Tisch. Alles kam hinein: Teller, Becher, Servietten, Besteck, ja, sogar die Papiertischdecke wurde entsorgt. Der einzige Beweis für das Festmahl waren einige Pfannen und Nonno Totòs Rülpsen, für das sich seine Frau entschuldigte. Totò schämte sich kein bisschen für sein vulgäres Benehmen. Einmal hielt sich der ergraute Herr sogar am Tisch fest, als einer weiteren Körperöffnung donnernd Luft entwich. »Scusate«, sagte er. »Ein Mann, der es unterdrückt hat, soll daran gestorben sein.«
Trotz des Protests meiner Gastgeber bestand ich darauf, den Müll zur Tonne an der Straße zu bringen. Das war das Mindeste, was ich tun konnte. Außerdem würde mir der kurze Bergab-Spaziergang helfen, den Berg, den ich gegessen hatte, zu verdauen. Valeria und ihre Schwestern strengten sich mächtig an, ihren Gast zufriedenzustellen. Also stellte ich sie zufrieden, indem ich alles aß, was sie mir vorsetzten, sogar einen möglichen Nachfahren von Seabiscuit. Wer sich in Sizilien Freunde zulegen will, legt auch deutlich an Gewicht zu.
Eines Abends machte ich jedoch Zio Tonio Kopfzerbrechen, weil ich mich weigerte, seinen Nachmittagsfang zu essen. Er war stolz auf die Muscheln, die er eigenhändig von einer unter Wasser gelegenen Felswand geschnitten hatte. Die meisten gaben ein paar Spritzer Zitrone darauf, bevor sie sie aus ihren Schalen schlürften. Aber sie waren viel größer als die Austern, die ich gewohnt war, und sahen so erbärmlich und kränklich aus wie eine Schnecke mit Hautausschlag. Zio Tonio hielt mir hoffnungsvoll sein Tablett hin.
»No grazie
»Perchè?«
Ich hob abwehrend die Hand, um höflich abzulehnen.
»Ich möchte einfach nicht, danke.«
Er hielt das Tablett noch näher.
»Perchè no?«
»Ich möchte einfach nicht, danke. Ich habe keinen Hunger.«
»Ma perchè?«, beharrte er und sah Daniela fragend an. Sie sagte etwas, das ihn entmutigte, woraufhin er ebenso beleidigt war wie ich bedrückt. Ich konnte nur hoffen, dass das nicht auch das Ende seines selbst gemachten Weins bedeutete. Aber die Sizilianer sind die großzügigsten Menschen, die ich je kennengelernt habe. Und die beharrlichsten.
Die jungen Männer räumten die Tische weg, und die Frauen spülten Töpfe und Pfannen, während sich die älteren Männer eine Pfeife anzündeten und den Gürtel weiter schnallten. Danach kehrten alle in Valerias Garten zurück, um auf Sonnenliegen an Likör zu nippen und die Ereignisse des Tages auszutauschen. Das war der schönste Moment für mich, denn jetzt konnte ich ihren Lebensgeschichten lauschen, ohne zu riskieren, etwas anderes als Alkohol angeboten zu bekommen.
Antonio wurde laut, als er von seinem Nachmittagsausflug ins Krankenhaus erzählte. Dorthin hatte er seine Mutter, Zia Tina, gefahren, die sich den Kopf angeschlagen hatte, nachdem sie auf einer Olive ausgerutscht war. Der Arzt hatte Antonio gebeten, ein Dokument zu unterschreiben, auf dem bei näherem Hinsehen stand, dass man ein CT gemacht habe. Das war jedoch eindeutig nicht der Fall. »Mi sono sciroccato«, sagte Antonio und beschrieb damit treffend, dass ihn diese Unverschämtheit ebenso wild und hitzig gemacht habe wie den afrikanischen Wind.
»Du hättest dem Arzt beinahe den Kopf eingeschlagen, bis er ausgesehen hätte wie meiner«, sagte seine Mutter der Genauigkeit halber.
Als Daniela dann noch meinen Pädophilen-Versprecher zum Besten gab, prustete Zio Tonio eine Whiskeyfontäne hervor. Alle Hangbewohner brüllten vor Lachen. »Bellissimo!«, sagten sie unisono. »Straodinario!« Antonio wand sich beinahe auf dem Boden. Sie hielten sich den Bauch vor Lachen und klopften sich auf die Schenkel. Ohne es darauf anzulegen, hatte ich ihre Herzen gewonnen.
Die Einzige, die nach dem Abendessen nicht wieder in den Garten gekommen war, war die kostbare Tochter von Valerias Schwager, Marisa. Die langbeinige Fünfzehnjährige ging ihrem besitzergreifenden Vater Fabio aus dem Weg. Der war wütend auf sie, weil sie sich weigerte, das Handy zurückzugeben, das sie von ihrem Freund bekommen hatte. Weil Fabio fest davon überzeugt war, dass sie der Freund damit nur kontrollieren wolle, hatte er darauf bestanden, dass sie sich nicht mehr mit ihm traf, und dem Mädchen Hausarrest gegeben. Das zog einen sizilianischen Streit nach sich, den man noch bis Tunesien hörte.
Fabios Sorge und der Hausarrest schienen durchaus berechtigt zu sein, wenn man weiß, dass mehr Italiener von ihren Freunden als von ihren Feinden getötet werden. Am letzten Wochenende waren drei Frauen von ihren verschmähten Liebhabern umgebracht worden, die daraufhin selbst Hand an sich legten, einer angeblich mit einem Bohrer – die italienische Variante von Do it yourself. In den letzten acht Jahren haben so 900 Menschen den Tod gefunden. Italienische Beaus sind sehr besitzergreifend, was ihre Belles angeht. Als die Regierung eine elektronische Fußfessel für Gefangene unter Hausarrest vorschlug, interessierten sich die Gefängnisverwaltungen weniger dafür als eifersüchtige Männer, die sie für ein weitaus besseres Überwachungsinstrument hielten als das Handy, das man bekanntermaßen ausschalten oder ignorieren kann, wenn man »anderweitig beschäftigt« ist.
Valerias Garten war unser Lieblingsplatz. Hier konnte man die Abendbrise genießen, hatte einen herrlichen Blick aufs Meer, und noch dazu war er umzäunt, sodass sich Valeria entspannen konnte, wenn Franco auf Wanderschaft ging. Mit seiner von einer Windel ausgebeulten Hose ging er zwischen den Stühlen umher und blieb immer wieder stehen, um Kiesel in seine Taschen zu stecken, irr zu lachen oder den Besenbaum mit Flüchen zu überziehen. Gegen Mitternacht gab ihm Valeria irgendein Medikament, das ihn bis zum nächsten Tag ruhig stellte. »Buona notte Franco«, sagten wir, als Valeria ihn zum Haus führte. Er tappte hinter ihr her wie ein alter Hund an einer ausgefransten Leine, ein trauriges Ende für einen so heiteren Abend. Kurz darauf gingen auch die Tanten, Onkel und Großeltern nach Hause und ließen die »Kinder« zum Kartenspielen allein. Wir spielten ein Spiel namens Scopa, nicht mit einem normalen Kartenspiel, sondern mit einem sizilianischen. Es gibt vier Farben, bestehend aus Schwertern, Münzen, Kelchen und Keulen – nicht die dreiblättrige Variante, sondern eher eine, die ein Steinzeitmensch dabeihat. Das Ziel des Spiels besteht darin, möglichst viele Karten vom Tisch einzusammeln, die zusammen dieselbe Punktzahl ergeben wie die der Karte, die man in der Hand hat. Scopa ist Italiens beliebtestes Kartenspiel und schnell gelernt. Laut einem berüchtigten Handbuch gibt es nur eine Regel: »Versuch immer, deinem Gegner in die Karten zu schauen.«
Zu einer Uhrzeit, zu der ich in Sydney schon langsam ins Bett ging, fing der Abend auf Sizilien erst an. Gegen ein Uhr nachts befanden wir uns wieder im Konvoi, angelockt vom Strand, der uns frische Luft und ein gelato versprach. Dort liefen jede Menge Schlaflose die Seepromenade auf und ab. Es waren Hunderte, die sich gegenseitig beäugten, ein Hindernislauf von Narzissten, die von Vespas und anfahrenden Autos bedrängt wurden. Bei Sonnenaufgang waren Daniela und ich zurück auf dem Hügel und ließen uns auf ein Bettlaken sinken, das meine Unterwäsche angeblich befleckt hatte.
Nachdem ich viermal hintereinander die Sonne hatte aufgehen sehen, kam der allmorgendliche Ausflug nach Guidaloca nicht mehr für mich infrage. Ich wachte gegen Mittag auf und tat, was ich schon immer hatte tun wollen: Ich nahm einen Liegestuhl und setzte mich mit einem Buch und einem Glas Bier in den Olivenhain. So wollte ich den Tag beenden, bevor er überhaupt angefangen hatte, und vor allem endlich mal wieder allein sein. In Sizilien ist Zeit für sich selbst genauso selten wie Regen. Deshalb ist es auch unmöglich, mit sizilianischen Karten ein Solitaire zu spielen.
Ich nippte langsam an meinem Bier und las schnell. Ich war vollkommen vertieft in Sizilianische Schatten, Peter Robbs Buch über die Cosa Nostra. Die diabolische Saga erzählte mir mehr über Sizilien als mein Reiseführer mit seinen steinernen Sehenswürdigkeiten, die Menschen errichtet hatten, die längst tot waren. Was ich hier vor mir hatte, war eine unvollendete Geschichte offener Rechnungen. Die Wörter auf den Seiten dröhnten mir lauter in den Ohren als die Zikaden in den Bäumen. Die Mafia war unsichtbar und doch zum Greifen nah. Zu nah vielleicht. Im Jahr 1985 entdeckte man die größte Heroinraffinerie Europas. Sie wurde von der Cosa Nostra kontrolliert und war gerade mal ein Kilometer von unserem Besenbaum entfernt. Und 70 Kilometer weiter östlich liegt das bescheidene Städtchen Corleone, die Heimat von Salvatore Riina, dem schlimmsten Mafioso überhaupt. Das hat Hollywood veranlasst, seinen Boss der Bosse Don Corleone zu nennen. Ich machte sozusagen Urlaub im Kernland der Mafia – und zwar ganz unschuldig auf dem Land. Diese über jeden Zweifel erhabene Landschaft brachte geheimbündlerische Männer hervor, die ganze Orte und Städte, ja, die gesamte Insel kontrollierten.
Fasziniert von all dem Blutvergießen hatte ich nicht bemerkt, wie zwei Männer den Olivenhain betraten. Mit ihren dunklen Anzügen und Sonnenbrillen wirkten sie so, als seien die eleganten Gangster aus meinem Buch lebendig geworden. Sie hatten die Sonne im Rücken, und ihre langen Schatten fielen auf mich. Ich legte die Hand über die Augen und erkannte Antonio und Fabio. Ich war erleichtert und zugleich verwirrt, hauptsächlich wegen ihrer Aufmachung. Bei so einer Hitze trägt man nur dann einen Anzug, wenn es eine Hochzeit oder eine Beerdigung gibt, aber von nichts dergleichen war gestern die Rede gewesen.
Fabio nahm seine Sonnenbrille ab, bevor er den Grund für seinen Besuch erklärte. »Willst du mit uns beichten gehen, Crris?« Ich sank noch tiefer in meinen Liegestuhl. Dabei stellte ich für niemanden hier eine Bedrohung dar, mit Ausnahme des Insekts vielleicht, das in meinem Bier ertrunken war. Was hatte ich verdammt noch mal zu beichten, außer dass ich von diesen aufdringlichen Sizilianern in Ruhe gelassen werden wollte? War mein Pädophilen-Versprecher an allem schuld?
»Daniela hat gehört, dass wir gehen, und meinte, wir könnten dich mitnehmen.«
»Ach ja?«
Ich sah zum Haus hinauf und entdeckte Daniela, die grinsend auf einem Zementmäuerchen saß, mir zuwinkte und die Szene, die sie für mich arrangiert hatte, sichtlich zu genießen schien. Diesmal retteten mich meine ungenügenden Italienischkenntnisse, als ich mir eine Ausrede ausdachte, die keiner von uns verstand. Aber mein Stottern war überflüssig. Fabio und Antonio konnten sich das Lachen kaum noch verkneifen. Verdammte Sizilianer!
Daniela kam mit einem Bier auf mich zu und kletterte auf meinen Liegestuhl.
»Warum hast du sie nicht begleitet?«, fragte sie. »Du solltest beichten, was wir heute Morgen in der Einbiegerwohnung getan haben.«
»Einliegerwohnung.«
»Ah, scusa.«
Sizilien ist eine Insel voller Widersprüche. Dort, wo die ewige Liebe gerade mal zwei Jahre hält, verliebte ich mich alle zwei Stunden in ein und dieselbe Frau.
 
»C’è scirocco«, schrie Nonna Lina, und alle auf dem Hügel wussten, wie das Wetter war. Aber als die Staubdecke am Nachmittag schließlich aufzog, waren Daniela und ich bereits unterwegs in den Winter. Der Sommer ging zu Ende. Es war der letzte Tag im August. Im September würden wir bereits in Mailand sein.
Wir waren nicht die Einzigen, die abreisten. Sobald die Temperaturen sinken, schließen die Strandlokale, und Schnee ziert den Ätna. Die beiden Schwestern würden in ihre Wohnungen nach Alcamo zurückkehren, Valeria würde Franco zurück nach Andrano schleifen, und Francesco, Antonio, Sergio und Luisa würden nach Mailand nachkommen. Dort würden sie den Winter verbringen und sehnsüchtig auf den nächsten Sommerurlaub warten, mit denselben Leuten am selben Ort – stessa spiaggia, stesso mare. Ich wusste nicht recht, ob mich ein dermaßen eintöniges Leben langweilen oder beruhigen würde. Ich wusste nur, dass ich den Hügel schon vermisste, bevor wir überhaupt losgefahren waren.
So karnevalesk, wie man uns empfangen hatte, verabschiedete man uns auch wieder. Nur Nonna Lina war froh, dass wir fuhren. »Gäste sind wie Fisch«, lautete eine ihrer vielen Spruchweisheiten. »Nach einer Weile fangen sie an zu stinken.« Wir bekamen jede Menge Proviant mit auf den Weg und mehrere Flaschen von Zio Tonios Prosecco. Um alles zu verstauen, mussten wir das ganze Auto neu beladen und einige Klamotten zurücklassen. Ich warf Valeria meine burgunderrote Unterhose zu. »Würdest du sie netterweise für mich waschen?« Es tat gut, sie einmal absichtlich zum Lachen zu bringen.
Daniela fiel es deutlich schwerer, ihre mamma zu verlassen, zumal sie sie zum ersten Mal mit papà allein ließ. Da ich der Grund für ihre Abreise war, fühlte ich mich ein wenig dafür verantwortlich und wusste Valerias fehlende Abneigung mir gegenüber sehr zu schätzen. Etwas, das laut Daniela gar nicht zu unterschätzen war. Da ich Valerias einzige Tochter entführte, hätte mich so manch andere italienische Mutter weitaus weniger herzlich aufgenommen.
Nachdem wir uns durch die Menge geküsst hatten, versicherte ich Valeria, so gut ich konnte, wie bewundernswert ich ihren Umgang mit Franco fände. Und auch, dass sie in einer Situation, die eigentlich zum Weinen war, das Lachen nicht verlernt hätte. »Na ja«, sagte Valeria. »Ich bin eben eine Sizilianerin und keine Italienerin.« Sie sagte das wie selbstverständlich. »Wir sind eben ein anderer Menschenschlag.«
Da sie von vielen beherrscht, aber nur von wenigen geliebt worden war – genau wie ihre durstige Heimatinsel -, konnte sich Valeria nur auf sich selbst verlassen. Stur und ohne sich jemals zu beklagen, wird sie ihren Mann bis zu seinem Tod aufopfernd pflegen.
Ein Straßenköter schnupperte an dem mit Lasagne und Marzipan beladenen Napoleon, während wir den Kiesweg hinunterrollten, der zur Straße nach Mailand führte. Ein fröhliches Grüppchen von zwanzig Leuten winkte uns von der Lichtung auf dem Hügel aus zu. Und eine Sizilianerin hörte nicht auf, ihrem Mann eine zuverlässige Stütze zu sein.