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Ein Kilometer Wurst
Die Jahreszeit änderte
sich über Nacht. Wir ließen den Sommerhimmel hinter uns und wurden
im Herbstnebel wach. Die Stadt vor unserem Fenster war
verschwunden, und als wir den Vorhang aufzogen, sahen wir nur einen
weiteren Schleier, unter dem Mailand den ganzen Winter über
schmollte. Der südliche Sommer war eine ferne Erinnerung und der
nördliche Winter grausame Realität. Kein Wassermelonenverkäufer,
kein morgendliches Bad im Meer, nur heulende Sirenen und lautes
Hupen – ein technischer Lärm, der das hektische Leben unter dem
Nebel verriet. Die Flitterwochen waren vorbei.
Wenn man die Poebene
verlässt und das an die Alpen geschmiegte Mailand erreicht, ist die
winterliche Dunstglocke genauso deprimierend wie die Stadt, die sie
einhüllt. Daniela, die schon mehrmals in Mailand gewesen war,
meinte, der Nebelschleier täte der reizlosen Stadt im Grunde nur
einen Gefallen. Wenn überhaupt, konnte man ihm nur vorwerfen, was
alles zum Vorschein kam, sobald er verschwand. »Viele Dichter haben
versucht, den Nebel romantisch zu verklären«, sagte sie, während
sie sich für die Arbeit zurechtmachte. »Aber sie sind alle
gescheitert.« Dann verschwand auch sie, zu Kindern, die sie nur
mühsam davon überzeugen konnte, dass die Tage nicht nur sechs
Stunden dauern und die Nächte achtzehn.
Den ersten Eindruck,
den ich von der Stadt unter der Nebeldecke bekam, verschaffte mir
die Zeitung und ein Italienisch-Englisch-Wörterbuch. Die letzte
Seite der überregionalen Tageszeitung Il
Corriere della Sera ist den Lokalnachrichten gewidmet. Die
eher sachliche Zusammenfassung der Ereignisse las sich in etwa so:
Das Programm für heute – Arbeit. Das Wetter – Nebel. Sonnenaufgang
und Sonnenuntergang – irrelevant. Die Luftverschmutzung – extrem.
Die Verkehrslage – Stau. Die Verbrechensstatistik von gestern – 60
Einbrüche, 102 Autodiebstähle, 68 Handtaschendiebstähle … Wie sehr
sehnte ich mich doch nach Andrano zurück, wo die Sonne scheint und
gestohlene Handtaschen zurückgegeben werden!
Nach italienischen
Maßstäben ist der Wetterbericht im Lokalteil ziemlich
oberflächlich. Italiener legen großen Wert auf das Wetter und
machen es für alles verantwortlich – von Zahnschmerzen bis hin zu
ihrer Libido. Sie vertrauen nur hochqualifizierten Meteorologen. Im
Fernsehen wird der Wetterbericht von einem Oberst der Luftwaffe in
Uniform vorgelesen. Passend zur Eitelkeit der Italiener, trägt
seine Wetterkarte eine Signatur. Die Fischer braucht das, was
aussieht wie ein bedrohliches Tiefdruckgebiet zwischen Sizilien und
Sardinien, nicht weiter zu beunruhigen, denn es ist nur das zackige
Autogramm eines Computertechnikers. In Italien gibt es keine
durchschnittlichen Menschen.
Im Herbst und im
Winter brauchen die Milanesi allerdings
keine detaillierte Wettervorhersage. Zum einen, weil sie sie schon
kennen – Nebel -, und zum anderen, weil sie, selbst wenn ein Wunder
geschähe und gutes Wetter angekündigt würde, sowieso ins Büro
gingen. Ob sie ihre Designerstadt dabei sehen können oder nicht,
ist irrelevant. Sie sind nur aus einem Grund hier – um zu
arbeiten.
Mailand ist Italiens
wohlhabendste Stadt. Auf meinen bisherigen Italienreisen hatte ich
die geschäftige Industriemetropole wie die meisten Touristen links
liegen gelassen und meine Zeit und mein Geld lieber in Rom, Florenz
oder Venedig verbraucht. Reiseführer über die Stadt widmen
Einkaufstipps mehr Seiten als den Sehenswürdigkeiten, sodass ich
annahm, sie besitze nicht den Charme ihrer
Schwesterstädte.
Wie Francesco,
Antonio, Sergio, Luisa und Tausende von Süditalienern waren wir nur
der Arbeit wegen nach Mailand gekommen und gewöhnten uns schnell an
den einzigen Zeitvertreib in dieser Stadt. Daniela stellte sich der
Herausforderung, an einer großstädtischen Grundschule zu
unterrichten. Im Vergleich zu Andrano, wo die Schule schon mittags
zu Ende war, arbeitete sie hier länger und unterrichtete Schüler
aus verschiedenen Ländern, von denen viele noch weniger Italienisch
sprachen als ich.
Ihr Arbeitstag
gestaltete sich auch deshalb länger, weil ihre neue Schule, benannt
nach dem Hauptverantwortlichen für Italiens größtes Blutbad an der
österreichischen Front im Ersten Weltkrieg, Luigi Cadorna, eine
Dreiviertelstunde mit dem Bus von Francescos Wohnung entfernt lag.
Sie, die ihr ganzes Leben in einem Städtchen verbracht hatte, in
dem die einzigen Staus von streunenden Hunden oder religiösen
Prozessionen verursacht wurden, war die Hektik hier nicht gewohnt.
Wenn sie gestresst war, musste ich mir wieder in Erinnerung rufen,
dass sich ihr Leben beinahe genauso sehr verändert hatte wie
meines.
Francescos Wohnung
lag in einem Vorort von Mailand, genauer gesagt in einem schäbigen
Außenbezirk. Aber er wohnte lieber weniger zentral und leistete
sich dafür mit der gesparten Miete den Luxus eines zusätzlichen
Zimmers, das er jetzt an seine Schwester und mich vermietete. Wenn
Francesco abends aus seiner Agentur in der Stadtmitte zurückkam,
arbeiteten wir gemeinsam an Werbekampagnen, die für Kunden in
Übersee auf Englisch sein mussten. Das Texten fiel mir leicht,
nicht aber die Verständigung mit Francesco. Mein Chef weigerte
sich, langsam zu sprechen, und mein Italienisch musste dringend
besser werden, und zwar subito!
Der Teilnehmer einer
italienischen Quizshow ist bei einer Muliple-Choice-Frage zum Thema
Marmor hängengeblieben. Er hat die Zahl der möglichen Antworten auf
marmo bianco – weißer Marmor – und
marmo nero – schwarzer Marmor –
eingeschränkt, kann sich jedoch zwischen beiden nicht entscheiden.
Um ihm einen Tipp zu geben, fragt ihn der Quizmaster, was besser
klingt, und fordert den Kandidaten auf, beides auszusprechen. Er
gehorcht und versucht den banalen Worten eine Art Melodie zu
entlocken. »Marmo bianco, marmo nero. Marmo
bianco, marmo nero.« Die Augen des Mannes beginnen zu
funkeln. »Marmo bianco klingt besser«,
sagt er schließlich selbstbewusst.
»Ist das Ihre
endgültige Antwort?«, fragt der Quizmaster.
»Si.«
»Perfetto!«
In Italien gilt die
Faustregel: Wenn etwas gut klingt, ist es auch gut. Die
italienische Grammatik gehorcht komplexen Regeln, aber nur so
lange, bis ein Satz unschön wird und man sie im Namen der Schönheit
missachten darf. In meinem Italienischkurs in Sydney hatte Giacomo
Fragen nach Grammatikregeln gern mit einer Antwort beiseite
gewischt, die ich damals wenig befriedigend fand: »Weil es so
besser klingt, und damit basta.« Jahre später weiß ich, dass es
einfach keine bessere Erklärung dafür gibt.
Italienisch gilt
weithin als die melodischste klassische Sprache.
Kaiser Karl V. hat
einmal gesagt: »Wenn ich mit meinem Pferd spreche, spreche ich
Deutsch, wenn ich mit Diplomaten spreche, spreche ich Französisch,
wenn ich mit Gott spreche, spreche ich Spanisch, aber wenn ich mit
Frauen spreche, spreche ich Italienisch.«
Wenn Sie einen
Italiener verstören wollen, müssen Sie nur so hart sprechen wie die
Deutschen oder die kalten, effizienten Schweizer. Für einen
Italiener sind Rhythmus und Satzmelodie weitaus wichtiger als
Effizienz und Präzision, ja vielleicht sogar wichtiger als die
Wortbedeutung an sich. Italiener genießen es, ihre Sprache zu
sprechen, und betrachten sie eher als Zeitvertreib und weniger als
Mittel zum Zweck. In ihren Augen oder, besser gesagt, Mündern
handelt es sich um ein lebendiges Wesen, ein Instrument, mit dem
man Musik machen, und um einen Pinsel, mit dem man malen
kann.
Die von Vokalen und
Doppelkonsonanten energetisierten und harmonisierten italienischen
Wörter massieren den Mund des Sprechers und kitzeln das Ohr seiner
Zuhörer. Wer beispielsweise das Wort stuzzicadenti (Zahnstocher) ausspricht, tut mehr
für seinen Mund, als wenn er tatsächlich einen benutzt. Während das
Wort »taste buds« (Geschmacksknospen)
auf Englisch reichlich fad klingt, scheint sie das italienische
»papille gustative« fast schon zu
befriedigen.
Italienische Sätze
sind wie Symphonien, komponiert aus lautmalerischen Wörtern wie
zanzara (Mücke). Es liegt eine Harmonie
in so banalen Wörtern wie pipistrello
(Fledermaus), schizzinoso (nervös),
malavventurato (unglücklich) oder
inoperosamente (faul). Sogar Ortsnamen
wie Squinzano, Poggibonsi, Domodossola lassen sich lustvoll
aussprechen. Dasselbe gilt für Eigennamen wie Baldo Bologna oder
Marco Magnifico.
Ein englischer Bob
Matthews hieße auf Italienisch Roberto di Matteo. Und Joe Green
Giuseppe Verdi. Was gefällt Ihnen besser?
Solche
Wortspielereien haben jedoch auch ihre negativen Seiten.
Italienisch sprechen macht süchtig, und die meisten Italiener
führen lieber Selbstgespräche, als gar nicht zu reden. Eine solche
Wortfülle verhindert jedoch, dass sie sich klar ausdrücken – mit
verheerenden Ergebnissen. Wer einen Deutschen nach der Bank fragt,
bekommt entweder eine eindeutige Antwort oder ein »Das weiß ich
nicht« zu hören. Wer einen Italiener fragt, bekommt in jedem Fall
eine Wegbeschreibung, egal, ob der Gefragte Bescheid weiß oder
nicht. Seine Zunge ist einfach zu hyperaktiv für eine so knappe
Antwort wie »Das weiß ich nicht«.
Ein weiterer
Nachteil besteht darin, dass die Italiener das Zuhören genauso
hassen, wie sie es lieben zu reden. Offizielle Verlautbarungen im
Fernsehen dienen nicht dazu, dem Zuschauer zu sagen, dass er
aufhören soll zu rauchen, die Umwelt zu verschmutzen oder betrunken
Auto zu fahren. Stattdessen wird versucht, ihn am Reden zu hindern.
»Chi ascolta cresce« ist der
beliebteste Slogan – »Wer zuhört, lernt.« Errico, der
Bankangestellte, erklärte mir, dass man in Italien schreien muss,
um gehört zu werden – etwas, das mir meine Unterhaltungen mit
Francesco bestätigten. Laut Italienisch reden ist eine Art
Sozialdarwinismus, der Kampf ums Überleben im Gespräch. So gesehen,
bedeutet Italienisch lernen auch zu lernen, den anderen zu
unterbrechen, ihn zu ignorieren und niederzubrüllen.
Der Neuankömmling
riskiert, dass die Begeisterung, die nötig ist, um Italienisch zu
sprechen, seine Fähigkeit, sich normal in seiner Muttersprache zu
unterhalten, schwer beeinträchtigt. Nach wenigen Monaten in Italien
hatten sich meine, mit dem Italienischen verbundenen schlechten
Angewohnheiten auch auf mein Englisch übertragen. Und so kam es,
dass ich Freunde und Familienangehörige unfreiwillig verschreckte,
die meine Leidenschaft für Aggression hielten. Man kann einen
Italiener mitten im Satz unterbrechen, ihm mit der Faust drohen,
ihn einen Idioten nennen und problemlos mit ihm befreundet sein –
schließlich hat er einem weitaus Schlimmeres angetan. Tut man
dasselbe in Australien, steht man bald alleine da.
Trotzdem verliebte
ich mich in die italienische Sprache und begann so viel zu reden,
dass ich beinahe einen Muskelkater in der Zunge bekam. Giacomo
wusste, dass seine Sprache süchtig macht, als er seinen Unterricht
plante. Indem er mir zunächst blumige Redewendungen beibrachte,
sorgte er dafür, dass ich so davon angetan war, was das
Italienische mit meinem Mund anstellte, dass ich gern tolerierte,
was die komplizierte Grammatik alles mit meinem Kopf anstellte.
Meine erste Französischstunde an der Uni bestand nur aus Grammatik.
Ich konnte weitere Stunden nehmen oder es genauso gut bleiben
lassen. Aber schon nach einer Stunde bei Giacomo besaß ich die
unglaubliche Fähigkeit, eine Frau zu fragen, ob sie mit mir ins
Bett geht. Schon das genügte, dass ich auch die zweite besuchte –
nur für den Fall, dass sie Ja sagte.
Aber wer eine
Sprache im luftleeren Raum lernt, erwirbt nur sehr oberflächliche
Kenntnisse. Die einzige Methode, eine Sprache wirklich zu lernen,
besteht darin, unter Muttersprachlern zu leben, ihre Aussprache und
ihren Tonfall nachzuahmen. Ohne Giacomo einen Vorwurf machen zu
wollen, lernte ich in einer Woche in Italien mehr als in einem
Monat in Sydney. Wenn man in eine Sprache eintaucht wie ein
Angelhaken ins Meer, ist es beinahe unmöglich, ohne reiche Ausbeute
zurückzukehren. Langsam, aber sicher nehmen die Wörter Gestalt an,
eines nach dem anderen, wie Schneeflocken auf
Pinienzweigen.
Man muss einfach nur
die Ohren aufsperren. Verschnaufpausen gibt es nicht. Mit die
besten Lektionen lernt man beim Entspannen. Man braucht keinen
Linguistikprofessor, um die erste Person Plural zu lernen. Ein
parteiischer Fußballkommentator tut es auch. »Eckstoß für uns!«,
rief der Kommentator und Inter-Mailand-Fan. »Meine Güte, wir
spielen echt gut heute!«
Bei einem
Strandausflug in Andrano lernte ich den Unterschied zwischen Siezen
und Duzen. Als Australier fiel mir das schwer – nicht nur, weil es
diesen Unterschied im Englischen gar nicht gibt, sondern auch, weil
ich ihn ziemlich unlogisch und scheinheilig finde. Ein Freund von
Daniela hatte sich über einen Dobermann aufgeregt, der sich im
Wasser entleert, das Mittelmeer verschmutzt und eine schwimmende
Tretmine am Strand hinterlassen hatte. Stefano beschwerte sich
höflich bei seiner Besitzerin, die jedoch heftiger über ihn
herfiel, als es ihr Hund je hätte tun können. »Mein Hund ist viel
sauberer als Sie«, schrie sie.
Italiener beschimpfen sich mit Respekt.
Der Fernseher ist
ebenfalls ein ausgezeichnetes Lehrbuch. Den ganzen Sommer über sah
ich mir die italienische Seifenoper Incantesimo – Verzauberung – an und bereicherte
mein Vokabular um so wichtige Wörter wie Liebhaber, Affäre,
schwanger, mit jemandem durchbrennen, Fehlgeburt und Mord. Und das
alles in einer ziemlich durchschnittlichen Woche im Leben der
Protagonistinnen.
Das größte
Hindernis, eine Fremdsprache zu lernen, ist der Stolz. Ich kann
jedem nur raten, ihn sofort über Bord zu werfen. Wenn man nicht
über sich selbst lachen kann und nicht bereit ist, »Pädophile«
statt »Tretboote« zu mieten, erlebt man zwar keine Erniedrigung,
wird aber auch nie überdurchschnittliche Leistungen vollbringen.
Einmal habe ich den Metzger von Andrano sogar um »einen Kilometer«
Wurst gebeten, statt um ein Kilo. »Du musst ziemlich hungrig sein«,
erwiderte er ebenso freundlich wie hinterhältig. Der einzige Grund,
warum Einheimische Fremde akzeptieren, die sich bemühen, ihre
Sprache zu sprechen, ist der, dass sie mit ihnen etwas zu lachen
haben.
Als ich Daniela eine
Folge von Incantesimo erzählte, sagte
ich, die Krankenschwester habe das Neugeborene in einen
»Entfeuchter« gelegt, statt in den Brutkasten. Leider hat es nicht
überlebt. Wahrscheinlich starb es an Austrocknung.
Auf Italienisch
klingt die Perfektform des Verbs »entdecken« (scoperto) gefährlich ähnlich wie die des Verbs
»ficken« (scopato). Wir lebten erst
kurz in Mailand, als ich nach Hause eilte, um Daniela zu erzählen,
ich hätte einen Laden an der Ecke »gefickt«, der internationale
Handykarten verkaufte, ein japanisches Restaurant hinter der Bank
und – was sie wahrscheinlich am härtesten traf -, eine Frau, die
offizielle Dokumente billiger übersetzte als die Frau auf dem
australischen Konsulat.
Da sie in meiner
Sprache selbst reichlich Fehler machte, verbesserte mich Daniela
nur selten. Als wir eines Tages vom Einkaufen nach Hause kamen,
meinte sie, sie sei so müde, dass sie am liebsten stehen bleiben
würde, um unter dem nächsten Baum »einzuschwafeln«. Aber ihr
lustigster Versprecher passierte, als wir meine Unterlagen im
Einwohnermeldeamt von Lecce vervollständigten. Als wir nur noch auf
ein Amt mussten, verkündete Daniela beglückt, dass wir jetzt bald
»die Kröte gekratzt« hätten. Ihr Englisch sollte ihr noch so
manchen Stein in den Weg legen.
Nicht nur Anfänger
machen Fehler. Sogar Profis geben freudsche Versprecher von sich.
Einige Monate nach unserem Umzug nach Norden spielte ich ein
gemischtes Doppel auf einem Tennisplatz in Mailand, als in der Nähe
ein Feuer ausbrach. Als endlich Alarmsirenen zu hören waren,
verkündete ein italienischer Freund: »Hier kommen die Blow-Jobs«
(pompini) statt: »Hier kommt die
Feuerwehr« (pompieri). Seine Partnerin
vergeigte mehrere Aufschläge, bis sie sich wieder einigermaßen
gefasst hatte.
Je mehr Fehler ich
machte, desto mehr lernte ich. Und je mehr ich lernte, desto besser
begriff ich, dass sich hinter der Schönheit der Sprache ziemlich
viele grammatikalische Stolpersteine verbargen, die ich aus dem Weg
räumen musste, wenn ich wirklich italienische Texte lesen und
schreiben wollte. Ich hatte nicht vor, den Fehler zu begehen, nur
die Umgangssprache zu lernen, was nicht weiter schwer ist, wenn man
im Ausland lebt. Während Daniela und Francesco hart in der Schule
und im Büro arbeiteten, arbeitete ich zu Hause hart daran, mir
Italienisch beizubringen.
Die Bücher, die mir
Daniela kaufte, deckten aktuelle Kulturthemen mit dem geläufigsten
Vokabular ab. Wie die Zeitung spiegelten sie wieder, was sich
draußen unter dem Nebel abspielte. Die Kapitelüberschriften lasen
sich wie eine Liste moderner Plagen: Umweltverschmutzung,
Verkehrsprobleme, Mafia, Verbrechen und der Konditionalis wurden
mir alle mit der Ursache für die häufigsten Unannehmlichkeiten in
Italien erklärt, nämlich mit Streik: »Maria und Peter wären am
Wochenende nach Paris gefahren, wenn die Fluggesellschaft nicht
gestreikt hätte. Sie wären Auto gefahren, wenn die Tankstellen
nicht bestreikt worden wären.« So blieb ihnen wohl nichts anderes
übrig, als zu Fuß zu gehen.
Sobald Daniela von
der Arbeit kam, pflegten wir einen Spaziergang in der näheren
Umgebung zu machen, wo vieles aus meinen vormittäglichen Lektionen
zum Leben erweckt wurde. Mein Lehrbuchinhalt deckte sich
erstaunlich mit der Realität, und zwar mehr, als mir lieb war, ganz
besonders aber, was das Kapitel 9 betraf: »Fußgänger haben’s
schwer«.
Während wir ein
Minenfeld aus hohem Gras und Hundekacke durchquerten – die
Mailänder Variante eines Parks -, zuckten wir plötzlich wegen eines
Bremsenquietschens und eines metallischen Aufpralls zusammen. Wir
eilten zum Unfallort und sahen, wie sich zwei Männer anschrien und
wild herumfuchtelten. Sie benutzten dieselben Gesten, die ich in
Kapitel 6, »Gesti«, gelernt hatte.
Eines der wenigen lustigen Kapitel in meinem Lehrbuch, das
ausschließlich jenen nonverbalen Gesten gewidmet war, die für eine
italienische Unterhaltung genauso unerlässlich sind wie Vokabeln
und Grammatik. Der berühmte Witz – »Wie unterbricht man einen
Italiener beim Reden? Indem man ihm die Hände abhackt« – ist alt,
aber zutreffend. Die Hände der Italiener sind genauso aktiv wie
ihre Münder, von beidem wird gleichzeitig heftiger Gebrauch
gemacht. Wenn Daniela Auto fährt und redet, muss sie mit den Knien
lenken.
Das Kapitel
»Gesti« bestand aus einer Reihe von
Illustrationen mit Pfeilen, die anzeigten, wie man die Hände
bewegen muss, um wortlos kommunizieren zu können. Unter jeder
Abbildung stand ein Satz oder eine Redewendung, normalerweise ein
Ausruf, für den die Geste stand. Wer einen angewinkelten Finger in
die Wange drückt und dreht, meint: »Dieses Essen schmeckt
köstlich!« Wer den Handrücken unter das Kinn legt und ihn dann
mehrmals heftig nach vorn bewegt, will sagen: »Mir doch egal!« Und
wenn sich alle fünf Fingerspitzen berühren und man die Hand
gleichzeitig vor und zurück bewegt, als mixe man einen Cocktail,
heißt das: »Was zum Teufel willst du eigentlich?!«
Es gibt noch andere
Gesten, die nicht für Lehrbücher geeignet sind und die oft von
wütenden Verkehrsteilnehmern oder Fußballfans zum Besten gegeben
werden. Zu dieser obszönen Zeichensprache gehört es zum Beispiel,
den kleinen Finger sowie den Zeigefinger einer Hand zu strecken, um
Hörner nachzubilden und jemandem zu bedeuten, die Frau oder
Freundin setze ihm Hörner auf. Diese Geste konnte ich vor allem im
sizilianischen Straßenverkehr beobachten, und zwar öfter als
Blinker oder Bremslicht.
Die beiden Männer in
Mailand gaben also während ihres Streits Gesten aus meinem Lehrbuch
zum Besten, während ein junger Mann mit dem Gesicht nach unten
merkwürdig verrenkt und leblos vor einem blauen BMW auf der Straße
lag, so als sei er aus großer Höhe gestürzt. Sein Kopf befand sich
in einer Blutlache. Daniela schwor, sie würde in Ohnmacht fallen,
wenn sie das Blut aus der Nähe sah, und half, indem sie sich hinter
einem Baum versteckte und den Krankenwagen rief. Ich rannte zu dem
umgefahrenen Fußgänger und versuchte mich über das Geschrei hinweg
verständlich zu machen. Das Opfer hatte das extreme Pech, von einem
Wagen angefahren worden zu sein, dessen Fahrer hauptsächlich daran
interessiert war, einen Passanten von seiner Unschuld zu
überzeugen, während ihm ein stotternder Ausländer zu Hilfe eilte,
der neben verschiedenen obszönen sizilianischen Gesten gerade so
viel Italienisch beherrschte, dass er eine Frau fragen konnte, ob
sie mit ihm ins Bett geht.
Das Opfer blinzelte
hin und wieder, also lebte es, egal in welcher Sprache. In
gebrochenem Italienisch fragte ich, ob der Mann Arme und Beine
bewegen könne, aber weil er darauf nicht antwortete, war
anzunehmen, dass er entweder ernsthaft verletzt war oder mich nicht
verstand oder beides. Kapitel 9 ging gut aus, da sich das Opfer im
Buch aufrappelt und den Staub von den Kleidern klopft, bevor es
seinen Anwalt anruft, eine weitere wichtige italienische Lektion.
Aber in diesem Fall war ein glückliches Ende weitaus weniger
wahrscheinlich.
Immer mehr Menschen
eilten herbei, und Danielas Krankenwagen kam, gefolgt von einem
Ärzteteam, das einen Sichtschutz aufstellte und »Zweite Hilfe«
leistete, nachdem ich sozusagen die »Erste« gewesen war, wenn auch
keine große. Ob der Fußgänger überlebt hat, weiß ich nicht. Alles,
was ich sehen konnte, war der vigile,
der den Paravent bewachte und die Neugierigen fernhielt, indem er
alle fünf Fingerspitzen schloss wie die Blätter einer Blüte und
seine Hand vor und zurück bewegte, als mixe er einen Cocktail –
»Was zum Teufel wollen Sie eigentlich?« Der Fahrer diskutierte noch
immer mit dem Zeugen, ohne das Blut, das er vergossen hatte, auch
nur im Geringsten zu beachten. Die Authentizität meines Lehrbuchs
hatte sich auf tragische Weise bewahrheitet.
»Ciao, Daniela. Ich
habe gerade die Zwölfuhrnachrichten gesehen. Gorbatschow ist heute
Morgen gestorben.«
Nach einem Monat in
der Wohnung, in dem mir nur mein Lehrbuch Gesellschaft leistete,
stolperte ich immer seltener über die italienische Sprache. Als ich
Daniela bei der Arbeit anrief, um ihr zu sagen, dass der russische
Expräsident nun ein verstorbener russischer Expräsident war, war
ich meiner Sache so sicher, dass sie die Nachricht an ihre Kollegen
weitergab. Aber die Abendnachrichten, die Daniela und ich gemeinsam
sahen, sagten etwas ganz anderes. Der nächste Schultag war höchst
peinlich für Daniela, da die Kollegen sie informierten, dass
Gorbatschows Frau gestorben war.
Ich hatte schon seit
Längerem überlegt, ob ich mich weiterhin mit meinem Lehrbuch
einschließen oder lieber einen Intensivsprachkurs besuchen sollte.
Dass mir Gorbatschows Frau bei dieser Entscheidung helfen würde,
hätte ich allerdings nicht erwartet.
Aus zahlreichen
Sprachschulen wählte ich diejenige aus, die passenderweise
Il centro hieß, und zwar wegen ihrer
zentralen Lage im kopfsteingepflasterten Brera-Viertel, das trotz
heftigen Verkehrs und staubbedeckter, eleganter Gebäude Mailands
schönstes Viertel ist.
Der zweimonatige
Kurs, der fünfmal pro Woche stattfand, war anstrengend. Die
maestra mit den feuerroten Haaren, die
meine Klassenkameraden scherzhaft Il
Generale getauft hatten, war knapp über ein Meter fünfzig,
aber dafür umso selbstbewusster. Aufwendige Metallohrringe, die an
Glockenspiele erinnerten, ließen sie noch kleiner wirken. Sie
baumelten an ausgeleierten Ohrläppchen und reichten ihr bis zu den
strammen Schultern. Die gedrungene, kurzhaarige Frau trug einen
Ring an jedem Finger und sprach sehr schnell, natürlich
ausschließlich auf Italienisch. Englisch war streng verboten. Jede
Sprache, die nicht Italienisch war, wurde ignoriert. Selbst wenn
man sich meldete, um zu sagen, dass man keine Ahnung hätte, wovon
sie redete, bestand ihre Antwort aus einem Kauderwelsch, das auch
als Italienisch bekannt ist.
Die stets in Leder
gekleidete, zwergenhafte Zungenfertige kannte keine Gnade, wenn es
darum ging, Erwachsene herunterzuputzen, die keine Hausaufgaben
gemacht hatten. Das Ausfragen ihrer wortkargen Schüler pünktlich um
neun war genauso demoralisierend wie hilfreich. Nur wenige gaben
vor, keine Angst vor ihr zu haben. Eine Peitsche hätte sich in
ihren Händen sehr wohl gefühlt. Sie hatte uns in das
sprichwörtliche kalte Wasser geworfen, doch schon bald sorgte
Il Generale dafür, dass wir darin
schwammen wie ein Fisch im Wasser.
Eine hektische
fremde Stadt kann genauso rätselhaft sein wie die Sprache ihrer
Einwohner. Il Centro machte uns mit
beidem bekannt. Der Kurs half meinen Sprachkenntnissen auf die
Sprünge, und meine morgendliche Fahrt zur Schule zeigte mir den
Charakter des nebligen Mailands. Die Stadt mochte wenig Charme
besitzen – trotzdem entdeckte ich ein paar Dinge unter der
Nebeldecke, die es wert waren, näher betrachtet zu
werden.
Die Fahrt mit dem
knallorangen Bus in die Stadt war das erste Abenteuer meiner
Vormittage, eine zwanzigminütige Fahrt, die der Fahrer am liebsten
in zehn Minuten erledigt hätte. »Wo hast du denn deinen
Führerschein gemacht?«, schrie er eines Morgens, während er um ein
Auto herumkurvte, das eine rote Ampel überfahren hatte. Ein
weiblicher Fahrgast aus der dritten Reihe, der den neapolitanischen
Akzent des Busfahrers erkannt hatte, bellte: »Vielleicht in
Neapel!«
»Hat da hinten
irgendjemand was gesagt?«, fragte der Fahrer mit einem drohenden
Unterton, während sein Blick dem Rückspiegel und nicht der Straße
galt.
»Nein«, entgegnete
die Frau. »Das war nur eine Feststellung. Meiner Meinung nach kommt
der Fahrer bestimmt aus Neapel, weil er bei Rot über die Ampel
ist.«
»Halten Sie lieber
den Mund, signora«, riet ihr der Mann
hinter ihr. »In Mailand fahren wir auch bei Rot.«
Wir nahmen eine enge
Kurve, und die stehenden Fahrgäste klammerten sich an die Stange
über ihnen.
»Ich bin in Neapel
vierzehn Jahre lang Bus gefahren und hatte keinen einzigen Unfall,
bis ich nach Mailand kam«, sagte der Fahrer.
»Dass Sie plötzlich
Verkehrsregeln beachten müssen, muss Sie verwirrt haben«, gab die
Frau zurück.
Hitzige, aber
harmlose Wortgeplänkel sind ein typisch italienischer Zeitvertreib,
und ich lernte es bald, Situationen zu genießen, die ich anfangs
für bedrohlich gehalten hatte.
Es gab natürlich
auch Tage, an denen nichts Außergewöhnliches passierte. Die
Fahrgäste lasen Zeitung oder telefonierten, während jeder
Fußgänger, der die Bestzeit des Fahrers vereitelte, ein Hupen zu
hören bekam, das öfter kam als der Tritt auf die
Bremse.
Die Endhaltestelle
lag unweit der Piazza Duomo, Mailands zentralem Platz, auf dem es
um halb neun nur so von Menschen wimmelt, die um neun dringend
woanders sein müssen. Vielleicht hatte ich noch Andrano vor Augen,
aber für mich hat das Wort piazza
irgendwie was Dörfliches. Ich denke dabei an Marktbuden und ein
nettes Schwätzchen, an eine gelassene Atmosphäre. In einer
Wirtschaftsmetropole mit zwei Millionen Einwohnern sollte man
meinen, dass die Piazza keine soziale Funktion mehr besitzt. Doch
obwohl die Atmosphäre auf der Piazza Duomo alles andere als intim
ist, ist dieses Herz der Stadt in den Herzen ihrer Bewohner
geblieben. Sie tun, was sie können, um in ihrem hektischen Zeitplan
einen Ausflug auf diesen Platz unterzubringen und um seinen
schäumenden Brunnen und die kackenden Tauben
herumzulaufen.
Ich hätte von zu
Hause aus auch die Straßenbahn nehmen können, die direkt vor der
Schule hielt, aber ich nahm lieber den Bus, damit ich noch zehn
Minuten durch das centro storico laufen
konnte, vorbei an der marmornen Pracht der drittgrößten Kathedrale
der Welt. Der gotische Dom, der auf das Jahr 1386 zurückgeht, ist
ein zerklüftetes Meisterwerk aus Erkern, Glockentürmen,
Wasserspeiern und Statuen, von dessen Spitze herab eine goldene
Madonna die Stadt zu ihren Füßen segnet – vorausgesetzt, sie kann
sie überhaupt sehen. Wenn sich der Nebel endlich lichtet, schimmert
sie auf ihrem marmornen Altar in der Sonne und reflektiert wie die
Kathedrale den blassrosa Sonnenuntergang.
Winteranfang. Die
Milanesi tragen dicke Jacken und hüllen
ihre Hälse in Wollschals. Sie schreiten energisch aus und ziehen
die Köpfe ein, sodass sie kaum mehr sehen als den Gehsteig und ihre
Armbanduhren. Frauen kleiden sich auffällig: goldene Sonnenbrillen,
falsche Bräune, hochhackige Stiefel und Pelze. Eine stark
geschminkte Frau trug einen Nerz über der Schulter und hatte einen
Schlittenhund an der Leine. Ob tot oder lebendig – beides waren
Modeaccessoires.
Überall waren
japanische Touristen zu sehen, die alles kauften, wo »Italia«
draufstand, und sich gegenseitig fotografierten. Nur ein
Schlangenmensch kann die Piazza Duomo überqueren, ohne auf einem
Kaminsims in Tokio zu landen. Wer einem Fotografen aus dem Weg
geht, trifft tausend andere. Es empfiehlt sich auch nicht, den
Schirm aufzuspannen, wenn es regnet, außer man will zum
unfreiwilligen Führer einer kichernden Reisegruppe aus Osaka
werden.
Eine Fahrradklingel
ließ Touristen und Tauben auseinanderstieben, während sich der
Rinaldi-Express-Kurier zwischen ihnen
hindurchschlängelte. Auf uralten Drahteseln (so etwas wie moderne
Fahrräder scheint es in Mailand nicht zu geben) tragen die
Mailänder Postboten, Männer mittleren Alters in dunklen Anzügen,
die Post mit mehr Stil als Tempo aus und pfeifen bei der Arbeit vor
sich hin.
Eine Schulklasse auf
Exkursion lehnte sich an die Wand des Doms. Die meisten trugen Nike
wie eine Schuluniform. Ein Schüler spielte mit einem
ferngesteuerten Auto, bevor es von einem Radfahrer überfahren
wurde, der es im Nebel übersehen hatte. Der Mann stieg ab, trat das
Plastikspielzeug mit Füßen und machte die Geste, die besagt: »Was
zum Teufel willst du eigentlich hier?« Womit er gar nicht so
Unrecht hatte, schließlich ist die Piazza eigentlich für Autos
gesperrt.
Zwei Polizisten
versuchten, eine hängende Stoßstange an ihrem Streifenwagen zu
reparieren. Der eine versuchte, das Ding vorsichtig wieder zu
befestigen, bis ihn sein Kollege wegzerrte und heftig danach trat.
Daraufhin hing die Stoßstange noch mehr herunter, und der
Schäferhund hinten drin fing an zu toben. Zwei carabinieri auf Fußstreife blieben stehen, um ihre
Hilfe anzubieten, ein seltener Moment der Kooperation zwischen
polizia und Co.
Und jeden Tag saß
derselbe Bettler auf den Stufen des Priesterseminars hinter dem
Duomo. Alle zwei Wochen verschwand er
für einen Tag, um dann mit frischer Kleidung frisch rasiert und mit
frisch geschnittenen Haaren auf seine frische Zementstufe
zurückzukehren. Ein durchaus geschickt gewählter Platz –
schließlich dürfen werdende Priester eine aufgehaltene Hand nicht
ignorieren. Trotzdem war ich versucht, ihm zu sagen, er solle sich
lieber gleich um die Ecke vor dem Grand Hotel Duomo niederlassen,
wo eine schlaue Schnorrerin lästiges Kleingeld einsammelte, das ihr
die abreisenden Gäste des Luxushotels gaben. Ihr Sammelbecher war
das einzig Schäbige an ihr – sie trug sogar
Lippenstift.
Ich verließ die
Piazza Duomo und schlenderte über die auf Hochglanz polierten,
gemusterten Fliesen der Galleria Vittorio Emanuele II. Das
prächtige Bauwerk mit dem kreuzförmigen Grundriss ist nach dem
ersten König Italiens benannt und verbindet die Piazza Duomo mit
der Piazza La Scala, dem Ort, wo sich gemäß der Meinung zahlreicher
Menschen das schönste Opernhaus der Welt erhebt. Zu dieser frühen
Stunde wurde die Einkaufspassage noch für einen weiteren Tag mit
guten Umsätzen herausgeputzt. Kellner banden Kissen an die Stühle
vor exklusiven Cafés, während das Schaufenster von Prada penibelst
geputzt wurde, um einen atemberaubenden Blick auf Auslagen mit noch
atemberaubenderen Preisen freizugeben.
Am ersten Tag meines
Italienischkurses kehrte ich in einer Bar ein, in der Daniela und
ich noch am Wochenende zuvor Kaffee getrunken hatten, nachdem wir
Da Vincis Letztes Abendmahl besichtigt
hatten. Der Barista hatte Daniela 70 Cent für einen Espresso
berechnet, der mich zwei Tage später wegen meines unbeholfenen
Italienisch einen fast doppelt so hohen Touristenpreis kostete.
Obwohl ich dort ausgenommen wurde wie eine Weihnachtsgans,
frühstückte ich oft dort auf meinem Weg zur Sprachschule, deren
Fortschritte ich am Preis meines Kaffees bemessen
konnte.
Genauso oft, wie ich
eine überhöhte Rechnung bekam, wurde ich auch vom Kellner
zurückgepfiffen, der darauf bestand, mir meine Quittung zu geben.
Immer wieder vergaß ich das lästige Gesetz, das mich zwang,
Verkaufsquittungen bis zu einer Entfernung von hundert Metern von
dem Ort, wo sie mir ausgestellt wurden, aufzubewahren. Diese wenig
effektive Maßnahme gegen Steuerhinterziehung wird von der vierten
wenig effektiven Polizeitruppe Italiens, der Guardia di Finanza oder »Quittungspolizei«, wie
Daniela sie nennt, überwacht. In ihren graugelben Uniformen
patrouilliert sie Straßen und Geschäfte entlang und verlangt
Kassenbücher und Quittungen, um sicherzustellen, dass die
Ladeninhaber ihre Umsätze ehrlich in die Kasse
eintippen.
Absurde Gesetze
führen zu absurden Auslegungen. Ein Barmann in La Spezia wurde mit
einem Bußgeld von 250 Euro verwarnt, weil er einem Bettler ein Glas
Wasser spendiert hatte, den man ohne Quittung angetroffen hatte.
Ein Barmann in Mailand bekam dasselbe Bußgeld aufgebrummt, weil er
an einem seiner eigenen Getränke genippt hatte, für das er nicht
bezahlt hatte. Da war es mir doch wesentlich lieber, dass mir der
Kellner eine überhöhte Rechnung stellte.
Betrügerische
Absprachen zwischen Ladeninhaber und Kunde machen es einem leicht,
die Gesetze zu umgehen. Daniela ging zu einer Friseurin, die ihr
einen Rabatt anbot, wenn sie eine Quittung akzeptierte, die
niedriger war als die Summe, die sie tatsächlich bezahlt hatte.
Wäre Daniela beim Verlassen des Salons kontrolliert worden, hätte
sie gesagt, sie habe sich die Haare nicht schneiden, sondern nur
für eine Hochzeit stylen lassen. Eine Version, die die Friseurin
anschließend bestätigt hätte.
Mit der Quittung in
meiner Jeans und dem Koffein in meinen Venen verließ ich die Bar
und lief die letzten Meter zu meiner Sprachschule. Im Herzen des
Brera-Viertels standen lebendige Mannequins regungslos in einer
Calvin-Klein-Boutique und lockten Passanten an. Diese spürten, dass
irgendetwas in der Luft lag, und starrten hin, bis ihnen die Models
zuzwinkerten. Eine fantastische Werbeaktion. Sogar ich betrat den
Laden und kaufte einen überteuerten Rolli.
In derselben
geschäftigen Straße balancierte ein Kellner ein Tablett auf seinen
Fingerspitzen und schlängelte sich durch den lebhaften Verkehr, um
Kaffee, Zigaretten – und Quittungen – in die nahe gelegenen
Geschäfte zu bringen. Als vorbeifahrende Fahrzeuge seine Schürze
kräuselten, verschüttete der mutige Matador nicht den kleinsten
Tropfen. Er hatte das Kapitel 9 meines Lehrbuchs bestimmt nicht
gelesen.
Ein Einarmiger
versuchte ein waghalsiges Wendemanöver, während sein Auto den
Verkehr blockierte. Mit einer Zigarette zwischen den Lippen drehte
er am Lenkrad, so gut er konnte, und fixierte es dann mit seinem
Ellbogen. Der ungeduldige Fahrer eines Touristenbusses schlug mit
der Faust auf seine Hupe, was den Einarmigen jedoch ungerührt ließ
– nicht zuletzt deshalb, weil er keine Hand mehr frei hatte, um
eine obszöne Geste zu machen.
Mein Vergnügen über
die sich mir bietenden Szenen auf meinem täglichen Schulweg fand
bei meiner Ankunft ein abruptes Ende. Denn dort wartete schon
Il Generale auf mich und sah mit einer
Frage auf den Lippen vorwurfsvoll auf ihre Armbanduhr. Trotz des
Lärms, des Smogs und des Chaos auf den Straßen gab es keinen
stressigeren Ort als ihr Klassenzimmer. Wir hassten sie, wie
Armeerekruten ihren Ausbilder hassen, der sie schließlich zu
ausgezeichneten Soldaten macht.
Dank Gorbatschows
verstorbener Frau, dem frühen Kursbeginn von Il Centro, Virtual-Reality-Lehrbüchern,
öffentlicher Demütigung, parteiischen Fußballkommentatoren,
unverschämten Kellnern, indiskreten Dobermännern und mithilfe von
viel Versuch und Irrtum begannen Daniela und ich nur noch
Italienisch zu reden. Deshalb dauerte es nicht lange, bis ich ihre
Sprache besser sprach als sie meine. Je mehr ich das Italienische
und Mailand zu meinem Spielplatz machte, desto tiefer wurde die
Beziehung zwischen Daniela und mir. Jedes neue Wort war ein
Schlüssel, der mir Zugang zu einem weiteren Teil ihrer
Persönlichkeit verschaffte. Ihr gebrochenes Englisch hatte mir den
Eindruck einer lustigen, charakterfesten Frau vermittelt. Mein
fließendes Italienisch zeigte mir jetzt auch, dass sie schräg,
unlogisch, intelligent und mutig war. Wenn ich sie schon auf
Englisch geliebt hatte, betete ich sie auf Italienisch förmlich an.
Sie war so schön wie ihre Sprache, und ich konnte nie genug von ihr
bekommen.