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Crristoper Arrison mit H am Anfang
In Luigi Pirandellos
Roman Mattia Pascal täuscht der Held
seinen eigenen Tod vor, um dem zu entfliehen, was er die Tragödie
des italienischen Bürgers nennt – nämlich die Unmöglichkeit, die
Bürokratie zu umgehen, um ein freies und friedliches Leben zu
führen.
Während des mühsamen
Prozesses, ein legaler Einwohner von Danielas Land zu werden, war
ich jedoch nie so verzweifelt, es Pascal gleichtun zu wollen. Ich
hatte nie vor, mich umzubringen, obwohl ich manchmal durchaus gern
andere umgebracht hätte. In Andrano zu leben war weitaus
erfreulicher, als die offizielle Erlaubnis dazu zu erhalten – und
das, obwohl ich es diesbezüglich leichter hatte als viele
andere.
Bald nach meiner
Ankunft in Italien musste ich meine Arbeits- und
Aufenthaltserlaubnispapiere auf einer Reihe von Ämtern
vervollständigen. Vor jedem Behördenbesuch überlegte Daniela, ob
sie nicht jemanden kannte, der dort arbeitete, oder zumindest
jemanden, der wiederum jemanden kannte, der dort arbeitete. Jede
Bekanntschaft war hilfreich, und sei sie auch noch so vage. Ob ein
Cousin dritten Grades oder der Freund eines Freundes, spielte keine
Rolle, Hauptsache, derjenige konnte uns ein Hintertürchen
aufmachen. Als ich Daniela fragte, warum wir die Papiere nicht
einfach selbst vervollständigen könnten, sah sie mich an, als
stammte ich von einem fremden Planeten und nicht nur aus einem
fremden Land.
»Vergiss es«, sagte
sie. »Wir haben einfach keine andere Wahl. Wir sind hier in
Italien.«
Bei jedem dieser
Bekannten musste man sich bedanken, und da kam ich ins Spiel. Mehr
konnte ich persönlich nicht zu diesem Prozess beitragen. Als ich
durch den italienischen Zoll ging und mich fühlte wie ein
Schmuggler von Aborigine-Kunst, hatte ich angenommen, die vielen
Bumerangs, die ich aus Australien hatte mitbringen sollen, seien
Geschenke für Freunde und Verwandte. Damals wusste ich noch nicht,
dass ich sie als Schmiergeld für gut vernetzte Bekannte, sozusagen
als Türöffner, brauchen würde. Mit den Bumerangs, die
bekanntermaßen so beschaffen waren, dass sie von ihrer Reise
zurückkehrten, bedankte sich Daniela dafür, dass mich nicht
dasselbe Schicksal ereilte. Doch auch so waren unsere
Behördenbesuche noch Kräfte zehrend genug.
60 Kilometer von
Andrano entfernt liegt die Barockstadt Lecce, die größte Stadt im
Salento. Allein im Juli mussten wir fünfzehn Mal dorthin auf
irgendwelche verqualmten Amtsstuben – eine höchst unwillkommene
Unterbrechung unserer sommerlichen Routine. Wegen der brüllenden
Temperaturen war die insgesamt 120 Kilometer lange Fahrt ohne
Klimaanlage eine echte Tortur für Daniela und mich. Aber am meisten
hatte Napoleon zu leiden.
Ich hatte nämlich
keine Zeit verloren, Danielas Auto, ein Elba, nach dem Kaiser zu benennen, der auf die
gleichnamige Insel verbannt worden war. Die Fließhecklimousine des
Innocenti hatte bereits 200 000
Kilometer auf dem Buckel, und wenn man sich ihre Karosserie einmal
genauer ansah, war sie bestimmt öfter in den Krieg gezogen als ihr
Namensvetter. In der glühenden Julihitze knatterte sie genauso
widerwillig nach Lecce hin und zurück wie wir.
Unsere Ausflüge nach
Lecce begannen unweigerlich damit, dass wir an einem der letzten
Häuser an der Ausfallstraße – der api-Tankstelle – hielten. Der Besitzer des
schlichten Gebäudes, das kaum anders aussieht als die meisten
Häuser Andranos, hatte das Nebengebäude in eine Tankstelle
verwandelt und Wände und Zapfsäulen in dem grellen
Kanarienvogelgelb des multinationalen Konzerns gestrichen, zu dem
seine schäbige Filiale gehört. Die hintere Mauer der Tankstelle
wurde von Blumenbeeten mit ebenfalls gelben Azaleen gesäumt. Diese
zierten den florierenden Betrieb, den der alte Mann am Zapfhahn
liebevoll »California« getauft hatte.
»Benvenuti in California!«, rief er jedes Mal, wenn
wir kamen. »Pieno,
Signori?«
»Nein, nur für
zwanzig Euro, grazie«, pflegte Daniela
daraufhin zu sagen, womit sie sein automatisches Angebot,
vollzutanken, ablehnte. Seine Frage war rein rhetorisch – ein
»si« hätte ihn völlig aus dem Konzept
gebracht. Benzina kostet in diesem Teil
der Welt nämlich stolze 1 Euro 30 pro Liter, und wenn wir
vollgetankt hätten, hätten wir Napoleons Wert dadurch glatt
verdoppelt. Einen Großteil dieses exorbitanten Preises machen
Steuern aus. Manche sind durchaus berechtigt, während andere – wie
die Benzinsteuer, die Mussolinis Abessinienkrieg mitfinanzierte und
die angeblich nie mehr abgeschafft wurde – deutlich schwerer zu
rechtfertigen sind. Benzina ist eine
enorme finanzielle Bürde für die Italiener. Ich hörte sogar von
einem bewaffneten Raubüberfall auf eine Tankstelle, bei dem der
traumatisierte Gehilfe instinktiv zur Kasse ging, nur um vom Lauf
eines Gewehrs zu den Zapfsäulen dirigiert zu werden.
Wir wussten nicht
mal, ob Napoleon einen vollen Tank überhaupt verkraftet hätte, da
Daniela stets nur so viel benzina
tankte, dass es gerade für unsere Fahrt reichte. Und deshalb führte
jede Fahrt nach Lecce über »California«. Sein exzentrischer
Besitzer wurde schon bald mein erster Freund in Andrano. Ich nannte
ihn »Signor Api« und erklärte ihm, dass man den Namen im echten
Kalifornien auch als »Mr. Happy« übersetzen könne. Er war entzückt
von diesem Spitznamen und begann ihn selbst zu benutzen. Ich fand
ihn eigentlich ziemlich passend für den gutgelaunten älteren Herrn,
denn wenn es jemanden gab, der einen trotz der unverschämten
Benzinpreise glücklich zurückließ, dann Signor Api.
Signor Api war ein
siebzigjähriger Herr mit einem weisen, faltigen Gesicht, dem eine
Lesebrille schief auf der Nase saß, während er das Auto betankte.
Die vielen Nullen – vor allem als es in Italien noch Lire gab –
mussten seine Augen zwangsläufig schädigen. In Italien ist es
Tradition, nicht selbst zu tanken. Sogar an Tankstellen, wo es
einen Preisnachlass für Selbstbedienung gibt, warten die Italiener
lieber und lassen sich bedienen. Komisch nur, dass sie Auto fahren,
als ob sie nie Zeit zum Warten hätten. Während Signor Api uns
betankte, erzählte er uns laut und fröhlich Witze, die wir uns wohl
oder übel anhören mussten.
An jenem Morgen war
Napoleon mit Bougainvillea-Blüten vom Strauch in Danielas Auffahrt
bedeckt, woraufhin sofort der Provinzdichter im Tankwart geweckt
wurde.
»Auf dem Auto: bald
dahinwelkende Blüten. Darin: eine immerwährende Rose.«
Daniela war nicht
ganz so entzückt von Signor Api wie ich. Nun musste sie seine
Bemerkungen nicht nur erdulden, sondern auch noch
übersetzen.
»Sie sind die
schönste Frau von ganz Andrano«, verkündete er. »Ja, vielleicht
sogar die Schönste in der ganzen Provinz.«
»Vielleicht?«,
entgegnete Daniela mit gespielter Em pörung.
»Na ja, in der
Provinz gibt es viele Frauen, aber keine kommt nach Andrano, ohne
dass mir das auffällt.«
Obwohl Danielas
Schönheit außer Frage stand, konnte tatsächlich keine Frau an der
»California«-Tankstelle halten, ohne dass ihr seine dubiosen
poetischen Ergüsse erspart geblieben wären.
Während er damit
fortfuhr, hielt ein Laster mit Bari-Kennzeichen. Der Fahrer fragte,
wie man nach Diso käme, ein Ort, der gerade mal zwei Kilometer weit
weg lag.
»Fahr Richtung
Rom!«, schrie Signor Api. »Nimm Kurs auf die malerischste Metropole
der Welt, und du kannst Diso unmöglich verpassen,
Kumpel.«
»Und wo geht’s nach
Rom?«, fragte der Fahrer, dem sein enger Terminplan keine Zeit für
Scherze ließ.
Signor Api ließ die
Hacken knallen wie ein Soldat und zeigte auf die Straße, die aus
der Stadt führte. Der Fahrer winkte ihm zu, merkte sich, dass man
sich am besten von Andranesi fernhielt,
und fuhr dann Richtung Hauptstadt. »Tante
belle cose!«, rief ihm Signor Api hinterher, sein
Abschiedsgruß, den er für alle Kunden bereithielt und der »Alles
Gute!« bedeutet. Auch wir wurden damit bedacht, als wir mit
Napoleon Kurs auf Lecce nahmen und unseren ersten Angriff auf die
Einwanderungsbehörde starteten.
Das erste Stück
Straße nach Lecce ist eine bessere Landstraße. Die an den Rändern
schadhafte Asphaltdecke führt dazu, dass die meisten in der Mitte
fahren und nur dann ausweichen, wenn ein Wagen entgegenkommt oder
sie überholt werden. Auf dieser sogenannten provinciale gibt es ein Tempolimit von 70 km/h,
aber wir fuhren 100 und wurden oft überholt – einmal sogar von
einem Mann, der sich dabei rasierte. Natursteinmauern trennten die
Straße von Olivenhainen, Weizenfeldern und verlassenen Ruinen, auf
deren Dächern Unkraut wuchs.
Wo die provinciale durch die Orte Marittima, Diso, Ortelle
und Poggiardo führt, gilt ein Tempolimit von 50 km/h, woraufhin die
Autos 80 fahren.
Weiße Häuser säumen
die Straße. Autos, die aus Seitenstraßen kommen, müssen sich mit
ihren Kühlern weit vorwagen, um den heranschießenden Verkehr
überblicken zu können, den sie leider öfter zu spüren als zu sehen
bekommen. Statt auf die Bremse zu steigen, gegen die die meisten
Italiener allergisch zu sein scheinen, warnen sie die bereits auf
der provinciale befindlichen Fahrer vor
ihrem Herannahen, indem sie auf die Hupe drücken und aufblenden.
Das Leben der Anwohner dürfte nicht sehr idyllisch
sein.
An den meisten
Kreuzungen stehen Stoppschilder. Manche sind dermaßen verblasst,
dass nur noch ihre achteckige Form an ihre disziplinarische
Funktion erinnert. Folglich sind sie eine Art Mistelzweig – eine
Anordnung, die man je nach Wunsch befolgen, aber auch ignorieren
kann. »Wer hat Vorfahrt?«, fragte ich Daniela, als sie Marittima
verließ und ich mich an meinen Türgriff klammerte. »Der Mutigste«,
sagte sie mit dem Fuß auf dem Gaspedal.
An einer Kreuzung in
Poggiardo schlägt eine albanische Familie aus einer Ampel Profit,
an der sie spontan einen Marktstand errichtet hat. Während die
Autofahrer auf Grün warten, können sie falsche Perserteppiche,
Lampen, Ventilatoren, Bohrer und anderen Krimskrams kaufen, während
braun gebrannte Kinder in schmutzigen Kleidern zwischen den
Fahrzeugen hin und her laufen und Papiertaschentücher und
Feuerzeuge verkaufen. Wir haben ihnen ein paar Münzen gegeben, aber
die Ware verweigert, in der Hoffnung, dass sie sie woanders
loswerden.
Hat man Poggiardo
erst einmal hinter sich gelassen, führt eine superstrada nach Lecce. Die offizielle
Höchstgeschwindigkeit beträgt 90 km/h, aber die meisten fahren 130.
Wir tun es ihnen gleich, denn es ist ungefährlicher, im Verkehr
mitzuschwimmen, als ihn zu behindern. Die Straßen sind von Müll und
kaputten Haushaltsgeräten gesäumt. Der Kadaver eines Schäferhunds
liegt unter einer verbeulten Leitplanke. Ein Streuner, der laut
Daniela tot besser dran sei als lebendig.
Trotz der Hitze
schließen wir die Fenster, als wir die Pastafabrik Pedone und eine
Olivenölfabrik passieren. Der sie umgebende Gestank ist genauso
unangenehm wie der Rauch, der aus den Fabrikschloten quillt. Kurz
darauf taucht an einem diesigen Horizont Lecce auf, eine Stadt im
Hinterland, die fernab vom Meer beinahe umkommt vor Hitze. Wenn sie
sich verschmutzt und wenig einladend vor meinen Augen
materialisiert, hoffe ich jedes Mal, sie sei nur eine Fata
Morgana.
Die superstrada führt auf den Stadtring von Lecce, auf
dem zahlreiche Autos sämtliche Vorfahrtsregeln missachten und sich
gegenseitig bedrängen. Die aufgemalten Spuren werden völlig
ignoriert. Fahrer drücken schon beim geringsten Ärgernis auf ihre
Hupen, obwohl sie erst wenige Sekunden zuvor an einem Schild
vorbeigekommen sind, welches das Hupen verbietet. Nachdem wir über
den Landstraßenasphalt gebraust sind, stecken wir zwischen
hässlichen Wohnblocks im Stadtverkehr fest. An jeder Ampel
bettelnde Immigranten. Benvenuti a
Lecce.
Die Altstadt ist
beeindruckend, der Stadtrand hässlich – ein schöner barocker Kern,
umhüllt von unattraktivem Fleisch. Wie bei den meisten
italienischen Städten steht die elegante Architektur von Lecces
prächtigem centro storico in einem
starken Kontrast zu den verwahrlosten Wohnvierteln. Derart alte
Städte scheinen nur schwer mit dem wachsenden Platzbedarf von heute
zurechtzukommen. Aber das Besondere an Lecce ist seine Geschichte
und nicht die Jetztzeit. Wie bei Andrano, nur in einem wesentlich
größeren Maßstab, waren Lecces vorchristliche Gründer umherziehende
griechische Gemeinden. Später wurde die Stadt von einer ganzen
Reihe von Heerführern umkämpft und regiert. Dazu gehörten der
römische Kaiser Mark Aurel, die Normannen und dann für dreieinhalb
Jahrhunderte die spanischen Bourbonen. Etwa um die Mitte des 19.
Jahrhunderts führten patriotische Aufstände dazu, dass Lecce mit
dem übrigen, gerade im Entstehen begriffenen Italien vereint wurde.
Heute weht die Flagge einer stolzen Republik vor den Amtsgebäuden
der Stadt, die gleichzeitig Verwaltungshauptstadt der Provinz Lecce
ist.
Wir parken Napoleon
gerade zwischen zwei städtischen Mülltonnen, als ein abgerissener
junger Mann auftaucht. »Autoservice, signora«, informiert er Daniela. »Ich pass drauf
auf.« Daniela wirft ihm eine Münze zu, die er in seine Jeans
steckt, bevor er sich auf unsere Motorhaube setzt. Zur Mahnung an
alle, die sich unserem Wagen nähern wollen, wenn auch nur, solange
wir in Sichtweite sind. Zweifellos ein kleines Mafia-Geschäft, eine
als freundliches Angebot getarnte Erpressung, die nahelegt, dass
man sich bei Nichtbezahlung tatsächlich um das Auto »kümmern« wird.
Obwohl Daniela solche erbärmlichen Erpressungsversuche hasst,
weigert sie sich nur selten zu zahlen, da der Kleingeldbetrag ihrer
Meinung nach ein vergleichsweise geringer Preis dafür ist, sich vor
den eigenen Beschützern zu schützen.
Die Schlange im
Ufficio Immigrazione reichte bis auf
die Straße. Afrikaner, Kurden, Slawen und jetzt auch noch ein
Australier warteten geduldig, in der Hoffnung, bleiben zu dürfen.
Der einzige Schalter dieser Unterabteilung der Questura – des Polizeipräsidiums – war mit einem
untersetzten Polizisten besetzt, der sich nur unwesentlich für
seine Arbeit interessierte. Seine Mütze lag auf dem Tresen, und
seine Augen waren nur noch zwei schmale Schlitze wegen des Rauchs,
der von der Zigarette zwischen seinen Lippen aufstieg. Die
Wartenden waren ziemlich angespannt. Sie warteten schon seit
Stunden, manche nur, um sich danach zu erkundigen, ob ihre
Aufenthaltsgenehmigung fertig war. Ein Afrikaner im Kaftan, dem man
sagte, er solle in einem Monat wiederkommen, protestierte: »Das ist
schon das dritte Mal, dass ich drei Stunden gewartet habe, nur um
mir anhören zu müssen, dass ich noch mal wiederkommen
soll.«
»Na und?«, rief der
Polizist hinter seinem Plexiglas. »Wenn ich zur Bank will, muss ich
mir auch einen Tag freinehmen.«
Man wusste nicht
mehr, wer sich hier bei wem beklagte.
»Stehen Sie auch in
der Schlange?«, fragte ein Slawe Daniela in fließendem
Italienisch.
»Nein, gehen Sie
ruhig vor«, sagte sie. »Wir warten auf jemanden.«
»Ah, Sie haben
jemanden, der Ihnen hilft«, sagte er, als er meine Papiere sah.
»Sie Glücklicher! Letztes Mal war ich mit meiner Rechtsanwältin
hier, sie trug einen Minirock. Wir haben genau zwei Minuten
gewartet. Aber heute konnte sie nicht. Wo kommen Sie
her?«
»Aus
Australien.«
»Australien? Was um
alles in der Welt tun Sie dann hier?«
Ich sah Daniela
an.
»Ah«, sagte er.
»Liebe, Krieg und Geld sind die drei Gründe, warum Menschen ihre
Heimat verlassen. Sie haben sich den besten Grund
ausgesucht.«
Ich lächelte. Er
sprach weiter und schien sich endlich mal alles von der Seele reden
zu wollen.
»Die Papiere sind
ein Riesenproblem. Die Behörden hier sind furchtbar. Aber ansonsten
ist Italien gar nicht so schlecht. Sich eine Aufenthaltsgenehmigung
zu besorgen ist ein Albtraum. Aber wenn man sie erst mal hat, kann
man sich frei im Land bewegen und sich eine Arbeit suchen. In
Deutschland bekam ich die Genehmigung sofort, durfte mich aber
nicht weiter als 25 Kilometer von der Behörde entfernen. Da habe
ich zu dem Beamten gesagt: ›25 Kilometer? Ich bin doch nicht Ihr
Hund!‹«
Wir mussten
lachen.
»Leben Sie schon
lange hier?«, fragte Daniela.
»Fast vier Jahre«,
sagte er. »Bitte entschuldigen Sie, signora, aber ich mag Italien nicht besonders. Aber
es ist die einzige Heimat, die mir noch geblieben ist. Jugoslawien
gibt es nicht mehr.«
Es kam Bewegung in
die Schlange. Während er einen Schritt nach vorn machte, traten wir
einen Schritt zurück, da unser »Bekannter« bereits unterwegs
war.
Zehn Minuten später
hielten zwei schwarze Lancias mit getönten Scheiben vor dem
Gebäude, und zwar nebeneinander, so dass der gesamte Verkehr zum
Erliegen kam. »Ecco Riccardo«,
verkündete Daniela und zupfte ihre Bluse zurecht. Dem zweiten Wagen
entstieg der örtliche Polizeichef, ein schwer übergewichtiger
Glatzkopf mit Ziegenbärtchen. Wenn sein Lächeln nicht gewesen wäre,
hätte er mich schwer eingeschüchtert. Er wirkte eher so, als sei er
selbst eine Figur aus der Unterwelt, sodass ich ihn zunächst für
einen jener Mafiosi hielt, die er eigentlich fangen sollte. Seine
Begleiter zündeten sich Zigaretten an und lehnten sich gegen die
Lancias, während Riccardo mit ausgebreiteten Armen auf uns
zukam.
»Carissima Daniela«, rief er und küsste sie auf
beide Wangen. »Er ist also endlich da?«
»Si, si«, sagte Daniela und berührte meinen Arm.
»Chris, ti presento
Riccardo.«
Immer noch
schockiert über Riccardos Auftreten, stotterte ich: »Es ist mir
eine Freude, Sie kennenzulernen.«
»Ich habe Sie schon
auf dem Papier kennengelernt«, erwiderte er, zerquetschte mir
beinahe die Hand und küsste mich auf die Wangen. »Dai, bringen wir’s hinter uns, damit wir gehen und
gemeinsam etwas trinken können.«
Wir folgten Riccardo
an den Anfang der Schlange, wo ihn der Polizist hinter dem Schalter
erkannte und auf einen Knopf unter seinem Tresen drückte. Daraufhin
öffnete sich eine Tür neben ihm. Von einem mit grauem Marmor
vertäfelten Gang gingen mehrere Büros ab. Riccardo führte uns zum
letzten Zimmer, das er ohne anzuklopfen betrat. Der Mann am Telefon
unterbrach sein Gespräch.
»Buongiorno ispettore«, sagte Riccardo. Ohne seine
Reaktion abzuwarten, stellte er Daniela und mich vor, erklärte den
Grund für seinen Besuch und endete mit den Worten permesso di soggiorno –
Aufenthaltsgenehmigung. Der Inspektor zog an seiner Zigarette,
bevor er einen grauen Aktenschrank neben seinem grauen Schreibtisch
öffnete. Alles in dem Büro war grau: das Telefon, die Akten, die
sich bis an die Decke stapelten, ja sogar sein hustender Insasse.
Es gab keinen einzigen Computer, und alles war entweder von
Zigarettenasche oder Staub übersät: die sich durchbiegenden Regale
und das Büromaterial ebenso wie das Kruzifix an der Wand. Das
einzig Saubere und Weiße war das Formular, das der Inspektor aus
seiner Schublade zog und auszufüllen begann.
Obwohl er meinen
Namen von meinem Pass abschrieb, verschrieb sich der Inspektor. Auf
dem Formular stand Crristoper Arrison – genau wie die meisten
Italiener bis auf Daniela meinen Namen aussprechen, wobei sie das R
meines Vornamens rollen und das H meines Nachnamens
weglassen.
»Nein, Harrison mit H am Anfang«, verbesserte ihn Daniela,
nachdem sie die krakelige Schrift des Inspektors entziffert hatte.
»Und Christopher schreibt sich mit einem R und zwei
H.«
»Accidenti«, murmelte der Inspektor, bevor er ein
neues Formular herauszog und uns Zigaretten anbot, die wir
ablehnten.
Italiener haben
Schwierigkeiten mit dem englischen Alphabet. Ihr alfabeto hat nur 21 Buchstaben – J, K, W, X und Y
fehlen. Und obwohl der Buchstabe H existiert, wird er nie
ausgesprochen und taucht nur bei einer Hand voll entlehnter
Fremdwörter wie »Hotel« auf, das in Italien otel ausgesprochen wird.
Als er das Feld mit
dem Einreisedatum erreichte, blätterte er meinen Pass durch und
runzelte seine sonnenverbrannte Stirn.
»In Ihrem Pass muss
eigentlich ein Stempel mit dem Einreisedatum sein.«
»Wann sind Sie
angekommen?«, wollte Riccardo von mir wissen.
»Am 16.
Juni.«
»Er ist am 16. Juni
angekommen«, sagte Riccardo und erwartete, dass das Feld ausgefüllt
wurde.
»Aber warum fehlt
dann der Stempel?«
In einem
Italienisch, das schon deutlich Fortschritte gemacht hatte,
erzählte ich ihm die Geschichte von den faulen Polizeibeamten am
Flughafen von Rom.
»Aber sie hätten das
Visum abstempeln müssen, das Sie vom italienischen Konsulat in
Sydney bekommen haben«, sagte der Inspektor stur und hielt meinen
Pass hoch.
»Aber das haben sie
nun mal leider nicht«, schaltete sich Daniela ein.
»Sie haben diesen
Pass nicht abgestempelt, Inspektor«, sagte Riccardo, der es
offensichtlich gewohnt war, das letzte Wort zu haben. Aber in
diesem Fall galt das leider nicht.
Italien hat große
Probleme mit illegalen Einwanderern. Allein im Jahr 2001 erreichten
um die 20 000 clandestini die Küsten
der Halbinsel. In der Hoffnung, ihre Armut gegen ein bisschen
Wohlstand zu tauschen, setzten sie ihr Leben in lächerlichen
Nussschalen aufs Spiel. Für die meisten war Italien nicht das Ziel
ihrer Reise, sondern nur das Eingangstor, gewissermaßen die
Nabelschnur des Kontinents – eine 1000 Kilometer lange Leiter in
den Bauch eines noch größeren Europa. Wie sagen die Italiener so
schön? »Wenn man nicht durch die Vordertür hereinkommt, muss man
eben durchs Fenster klettern.«
Obwohl er mir nicht
vorwarf, illegal eingereist zu sein, war der Inspektor nicht
bereit, über den fehlenden Beweis für meine legale Einreise
hinwegzusehen. Zum Glück war ich Vielflieger und hatte aus alter
Gewohnheit meine Bordkarte aufbewahrt. Ein absolut eindeutiger
Beweis für meine konventionelle Reise. Ich reichte sie dem
Inspektor, und Riccardo sah mich bewundernd an. Seinem breiten
Lächeln entnahm ich, dass ich hier ausgezeichnet herpasse. Man muss
auf einiges gefasst sein, wenn man in Italien leben
will.
Der Inspektor war
erleichtert über diesen Kompromiss und befahl mir, die Bordkarte
mitzubringen, wenn ich wiederkäme und die Dokumente dabeihätte, die
mir noch für meine Aufenthaltsgenehmigung fehlten. Sie aufzutreiben
sollte mich noch Wochen kosten. Anschließend leckte er die
Rückseite einer Steuermarke über 20 Euro ab, die Daniela bei einem
nahe gelegenen Rauchwarenladen erworben hatte, und klebte sie neben
mein Passfoto auf das Antragsformular.
»Finito«, sagte er und stempelte sowohl die Marke
als auch das Foto ab.
»Und was jetzt?«,
fragte Riccardo.
»Impronte digitali«, entgegnete der
Inspektor.
Wir gingen an den
Anfang einer anderen Schlange und betraten ohne anzuklopfen ein
weiteres Büro. In dem Raum, der aussah wie ein Kindergarten für
Kriminelle, lagen überall weiße Blätter mit schwarzen
Fingerabdrücken herum. Riccardo befahl dem diensthabenden Beamten,
meine Fingerabdrücke als Nächstes zu nehmen.
»Wo kommen Sie
her?«, fragte der Beamte in Zivil, während er meine Hände mit einer
klebrigen, schwarzen Substanz bemalte.
»Aus
Australien.«
»Australia? E che cavolo vuole qui?« Was er meinte,
war, was zum Teufel ich dann hier in Italien wolle, wobei »Teufel«
durch »cavolo« (Kohl) ersetzt wird.
»Ich trete im
September eine Stelle in Mailand an.« Daniela nickte – mehr
brauchte der Polizist nicht zu wissen.
»Ich würde liebend
gern in Australien leben. Ich würde sofort dahin auswandern, wenn
ich könnte. Und, ist die Polizei in Australien strenger als die in
Italien?«
Auf diese Frage
wusste ich keine Antwort. Zum Glück war es nur eine rhetorische
Frage.
»Wie lange dauert
der Flug?«
»24
Stunden.«
Ich war drauf und
dran, ihm zu raten, seine Bordkarte zu behalten.
Ich wusch mir die
Hände, und wir verließen die Questura.
Draußen wurden wir von einer Gluthitze empfangen. Weil ich so ein
schlechtes Gewissen wegen meines Vordrängelns hatte, winkte ich dem
Jugoslawen schüchtern zu. In vierzig Minuten war er nur wenige
Meter vorangekommen und befand sich immer noch außerhalb des
Gebäudes. Riccardo bestand darauf, uns zu einem Getränk einzuladen.
Er machte seinen Aufpassern ein Zeichen, indem er auf seinen Bauch
klopfte und auf die Bar auf der anderen Straßenseite
zeigte.
»Wenn man etwas
erreicht hat, trinkt man in Italien gemeinsam einen Kaffee. Das ist
bei uns so Tradition«, sagte er und kippte seinen Espresso in zwei
Schlucken hinunter. »Auf diese Weise feiern wir unseren Sieg über
den Staat.«
Er tauschte ein
wissendes Lächeln mit Daniela.
»Ich kann Ihnen gar
nicht genug danken für heute Morgen«, sagte sie.
»Aber ich bitte
Sie!«, meinte er abwehrend und sah auf seine Uhr. »Und grüßen Sie
Ihre Eltern von mir«, fügte er noch hinzu, bevor er uns auf die
Wangen küsste und sein gefährliches Leben
wiederaufnahm.
Als wir zum Wagen
zurückkehrten, war sein Beschützer verschwunden, nur Napoleon war
leider immer noch da. So wie er zwischen den beiden Mülltonnen
parkte, sah er verdächtig wie eine dritte aus. Aber seine Kräfte
reichten, um uns wieder nach Hause zu bringen. Schon bald tauchten
wir in das smaragdgrüne Wasser am Strand von Andrano ein, wo die
morgendliche Herausforderung inmitten von Fischerbooten, Eiscreme
und Danielas rotem Bikini schnell wieder vergessen
war.
Als Nächstes musste
ich zum Ufficio Provinciale del Lavoro,
um meine Tätigkeit registrieren und mir eine Steuerkarte geben zu
lassen. Doch das war erst der Anfang. Es folgte eine zweiwöchige
Odyssee von Behörde zu Behörde. Ich eilte zwischen den
verschiedenen Ämtern für Arbeit, Unfall- und Rentenversicherung hin
und her und erhielt eine Steuernummer, die mit ihren 16 Ziffern nur
halb so lange war wie die Schlange, in der ich warten musste, um
sie zu bekommen. Jedes Büro, das mit schlafmützigen, Zigaretten
rauchenden Beamten besetzt war, besaß dieselben grauen Telefone wie
die in der Questura, zahlreiche
Gummistempel an Stempelkarussells, Akten, die sich bis an die Decke
stapelten, Kruzifixe an Wänden, von denen der Putz blätterte,
verblichene EU- und Italienflaggen und nur, wenn es gar nicht
anders ging, einen alten Olivetti-Computer. Nicht genug damit, dass
die Zeit auf diesen Behörden stehen geblieben war – sie war auch
vor sehr langer Zeit stehen geblieben.
Solche Frusttage
wurden jedoch Gott sei dank von Daniela und dem Mittelmeer aufs
Herrlichste aufgelockert. Nachdem wir einen ganzen Vormittag
angestanden waren, verbrachten wir den Nachmittag auf einem Boot
und ließen uns von Bucht zu Bucht treiben. Der Anker wurde öfter
ausgeworfen, als dass der Motor angeworfen wurde. Ich hatte meine
Italienischlehrbücher dabei, und Daniela fragte mich ab, während
ich um das Boot herumplanschte. Eine falsche Antwort kostete mich
einen Kuss. Ich machte extra Fehler. Ein Nachmittag mit ihrer
entdeckungslustigen Zunge machte den unglückseligen Vormittag, an
dem ich mir ständig auf meine eigene gebissen hatte, locker wieder
wett. Himmel und Hölle wechselten sich ab – und genauso sieht das
Leben in Italien aus.
Die nächste Hürde,
die ich nehmen musste, war das Ufficio del
Lavoro, wo ich hoffentlich irgendwann meine Arbeitserlaubnis
bekommen würde. Daniela war es irgendwie gelungen, dort eine
Bekannte aufzutun, eine junge Frau, die selbst Erfahrung mit
foreign affairs hatte. Ihre
storia d’amore mit einem Amerikaner
hatte Barzinis Herausforderung allerdings nicht standgehalten, und
der junge Mann war in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt.
Wahrscheinlich engagierte sie sich nur deshalb für uns, weil sie
neugierig war, ob es Daniela mit mir besser ergehen würde. Wie dem
auch sei – Daniela war so klug gewesen, sich mit der Frau
anzufreunden, die so freundlich war, uns eines Nachmittags in ihr
Büro zu bitten, wo sie uns ihre ungeteilte Aufmerksamkeit
schenkte.
Im Hochsommer
befindet sich ganz Andrano um drei Uhr nachmittags im Tiefschlaf.
Doch irgendjemand ist immer unterwegs. Da sein Schlafzimmer nur
durch ein Fliegengitter von der Tankstelle getrennt ist, ist Signor
Api stets bereit, herauszueilen und Benzin zu verkaufen. Wir hupten
leise, um nicht den gesamten Ort aufzuwecken, und schon kam er in
seiner üblichen Sommerkluft heraus: Er trug ein grünes Unterhemd
voller Ölflecken, graue Shorts, die von einem Seil statt von einem
Gürtel festgehalten wurden, und hatte abgelatschte Sandalen an den
Füßen, deren Zehennägel dringend mal wieder gesäubert werden
müssten. Wenn er vormittags beredt war, war er nachmittags
regelrecht geschwätzig. Daniela machte den selbst gekelterten Wein
dafür verantwortlich, den er zum Mittagessen trank und der so stark
war, dass die meisten Dorfbewohner behaupteten, da könne man ebenso
gut sein Benzin trinken. Er nahm unseren Tankdeckelschlüssel und
machte sich an die Arbeit, so schnell wie ein Formel-1-Team. Bis
ihn die Muse küsste und das Rennen verloren war.
»Ich kann die ganzen
Nackedeis nicht mehr sehen«, verkündete er. »Wo bleibt da das
Begehren? Alle Frauen im Fernsehen sind nackt. Sie enttäuschen
meine Einbildungskraft. Wo ist die Winterfrau hin? Auf Canale 5 ist immer Sommer.«
Während Signor Api
vor sich hin schwallte, wartete ein halbwüchsiges Mädchen vor dem
Haus gegenüber. Es hielt ein Alfa mit einem älteren Mann am Steuer,
sie stieg ein, und das Pärchen sauste davon. »Ahhh … das moderne
Rendezvous«, hob Signor Api an, um dann fortzufahren wie folgt:
»Die Frau schlendert vor dem Haus auf und ab, und irgendein
dahergelaufener Kerl nimmt sie mit. Facile!« Er rieb sich die Hände. »Wenn Sie wüssten,
was ich alles mitgemacht habe! Mit meiner schönen Freundin von vor
fünfzig Jahren bin ich nur deshalb nicht mehr zusammen, weil ich
ihr vor ihren Eltern zu nahe auf die Pelle gerückt bin. Ich hätte
ihre Hand erst halten dürfen, wenn ich ihr vorher einen Ehering an
den Finger gesteckt hätte. Ich war meiner Zeit eben schon immer
weit voraus. Ich habe den Frauen die Liebe beigebracht, ja sogar
das Küssen. Ah, was hat der liebe Herrgott noch alles mit uns vor?
Als junger Mann verliebt man sich in ältere Frauen, und wenn man
alt ist, will man die jungen.«
Vielleicht war sie
nicht ganz einverstanden mit dem Geschwätz ihres Mannes, denn
Signora Apis Frau steckte ihren Kopf hinter dem Fliegengitter
hervor und bellte eine Bemerkung in einem Dialekt, den nicht mal
Daniela verstand. Aber seine Antwort war unmissverständlich: Er
habe zu arbeiten, also müsse sie sich wohl oder übel
gedulden.
»Der Klatsch war das
Problem«, fuhr er fort. »Der Sex an sich war keine Sünde. Aber Sex
haben und darüber reden war Sünde...« In diesem Stil ging es endlos
weiter. Bei jeder Fahrt nach »California« bekamen wir nicht nur
Benzin, sondern auch jede Menge philosophische Prosa mit auf den
Weg. Und jede seiner Weisheiten war »Gottes Wille«, sogar das
Überangebot an Brüsten auf Canale 5.
Man musste ihn einfach mögen.
Er schloss den
Tankdeckel und tauschte den Schlüssel gegen einen
20-Euro-Schein.
»Wo soll es heute
hingehen?«, fragte er.
»Wieder nach Lecce«,
entgegnete ich. »Wir versuchen immer noch, meine Papiere zu
bekommen.«
»Immer noch?
Mamma mia! Und dann heißt es immer,
Italien sei ein durch und durch gesundes Land. Das einzig Gesunde
an den Italienern ist ihr gesegneter Appetit, jawohl!«
Er schlug auf unsere
Motorhaube und brach in Gelächter aus, während seine Frau erneut
den Kopf heraussteckte.
»Wer behauptet, dass
Italien ein durch und durch gesundes Land ist?«, fragte ich
Daniela, während sie Kurs auf Lecce nahm.
»Signor Api«,
erwiderte sie und stellte die Lüftung an.
Was mit seiner
Graffiti-Fassade, den kaputten Fenstern und der italienischen
Flagge auf dem Dach aussah wie ein Paradies für patriotische
Hausbesetzer, war in Wahrheit die Behörde, auf die wir mussten.
Daniela bat mich, im Wagen zu warten. Am Vortag hatte ich nämlich
die Nerven verloren, nachdem wir über zwei Stunden auf Papiere
gewartet hatten, die angeblich fertig waren, dann aber doch nicht
für uns bereitlagen. Ich war nicht unverschämt geworden, war aber
auf Englisch ein wenig laut geworden, was Daniela kontraproduktiv
fand.
Es war ein sehr
heißer Tag mit 38 Grad gewesen. Dementsprechend strapaziös hatte
sich auch die Fahrt nach Lecce gestaltet, denn aus Napoleon war der
reinste Brutofen geworden. Kein Wunder, dass ich frustriert war,
als Daniela aus dem Gebäude kam und verkündete, wir würden am
nächsten Tag noch mal herkommen müssen, weil ihre Bekannte nicht
zur Arbeit erschienen sei. Ich schlug vor, unser Glück bei einem
Kollegen zu versuchen, aber davon wollte Daniela nichts wissen. Ich
konnte mich immer noch nicht daran gewöhnen, dass man jemanden
kennen muss, um etwas erledigt zu bekommen, und wieder einmal
prallten zwei Welten aufeinander. Es herrschte eine unglaubliche
Hitze, und da kochte der Topf über. Wir schrien. Wir stritten. Ich
protestierte. Sie überzeugte mich. Und als sie Englisch sprach, um
den Anwesenden die Details unseres Streits zu ersparen – mit diesem
süßen, unbeholfenen Akzent und der falschen Betonung -, konnte ich
es plötzlich gar nicht mehr erwarten, nach Hause zu
kommen.
Wir mussten die
Fahrt sogar noch zweimal antreten, um die Bekannte an ihrem
Arbeitsplatz anzutreffen, aber als sie endlich auftauchte, bekam
ich, genau wie von Daniela prophezeit, problemlos die Papiere. Zum
Dank schenkte ihr Daniela einen Bumerang, obwohl ich nicht fand,
dass sie ihn verdient hatte.
Inzwischen war
beinahe ein Monat vergangen, seit Napoleon zum ersten Mal gen Lecce
gefahren war. Wir hatten stapelweise Papiere, auf denen endlich
alle Tüpfelchen auf den Is saßen und sämtliche Hs an Ort und Stelle
waren. Jetzt konnten wir erneut zur Questura gehen, um meinen Antrag auf den
permesso di soggiorno abzuschließen,
und den Sommer genießen.
Wir kamen zu spät zu
unserer Verabredung auf der Questura.
Schuld war eine religiöse Prozession, die die Durchfahrtstraße
durch Diso eine Viertelstunde lang blockierte. Das war das erste
Mal, dass ich einen Stau sah, in dem niemand auf die Hupe drückte,
als sei sie die Antwort-Taste in einer QuizShow. Italiener
respektieren ihre Heiligen eben mehr als ihre Mitmenschen. Wir
sahen, dass Riccardo bereits neben dem Schalter wartete, und
beobachteten eine Auseinandersetzung zwischen dem diensthabenden
poliziotto und einem Afrikaner, der ein
Goldkettchen über seinem Kaftan trug.
»Ihr Antrag kann
noch nicht bearbeitet werden, wegen der Sache in
Otranto.«
»Ich hab nur CDs
verkauft.«
»Illegale
CDs.«
Als wir das Büro des
Inspektors betraten, murmelte er »Buongiorno«, zeigte auf mich, zog die Augen zu
schmalen Schlitzen zusammen und sagte aufs Geratewohl:
»Arrison?«
»Perfetto«, entgegnete ich.
Er griff nach seinem
Telefon, steckte einen Wurstfinger in das Loch mit der Ziffer neun
und drehte die Wählscheibe.
Danach zündete er
sich eine Zigarette an und wartete, bis der andere
dranging.
»Poggi am Apparat«,
sagte er und nebelte das Mundstück seines Hörers mit Rauch ein.
»Bring mir die Akte Crristoper Arrison.«
Er hörte einen
Moment zu.
»Crristoper Arrison
mit H am Anfang«, erklärte er.
Poggis Zigarette war
beinahe bis auf seine Fingerknöchel heruntergebrannt, als sein
Telefon klingelte.
Er nahm ab und
lauschte konzentriert, wobei er leicht die Stirn
runzelte.
»Jetzt hör mir mal
gut zu«, sagte er plötzlich. »Arrison mit einem H am Anfang von
Arrison.«
Sie sprechen es
nicht aus, sie hören es nicht, und jetzt konnte es irgendein armer
Polizist in den Eingeweiden dieses Gebäudes nicht einmal
sehen.
»Sieh unter A nach«,
schlug Poggi nachträglich vor.
Riccardo öffnete das
Fenster des Inspektors, um frische Luft herein- und Rauch
hinauszulassen.
»Bravo«, sagte Poggi erleichtert und fügte noch ein
»Fai presto« hinzu, bevor er
auflegte.
Als meine Akte kam,
legte Poggi unsere Dokumente dazu sowie eine Fotokopie meiner
Bordkarte, die er als authentisch anerkannt und abgestempelt hatte.
Anschließend kehrte er zu dem Formularfeld »Einreisedatum« zurück
und schloss auch diese Lücke. Als wir schon ganz erleichtert waren,
dass die Sache endlich ausgestanden war, drückte der Inspektor
seine Zigarette aus, gab uns die Hand und sagte, dass wir die
Aufenthaltsgenehmigung in einem Monat abholen könnten.
»In einem Monat?«,
hakte Riccardo nach, in der Hoffnung, er könnte seine Meinung
vielleicht noch ändern.
»Na ja«, sagte Poggi
zögernd, »ich werde sehen, was ich tun kann.«
Auf der Heimfahrt
gab es auf der Ringstraße von Lecce einen Riesenstau. Ein älterer
Bauer lief zwischen den Autos hin und her und verkaufte frisch
geerntete Karotten, an denen noch das Grün hing. Etwas Erde von
seinen Feldfrüchten hatte sich in seinem Bart verfangen, ein
unkontrollierter Wildwuchs, der seinen Mund bedeckte und gebrannt
hätte wie Zunder, wenn er geraucht hätte. Mit gesenktem Kopf stand
er stumm da. Wenn jemand etwas wollte, würde er ihm schon Bescheid
sagen. Ich sah zu, wie er sich mit seinem fleckigen Hemd und seinen
schäbigen Sandalen an meinem Fenster vorbeiquälte.
»Ich hatte mir
dieses Land anders vorgestellt. Nicht so …«
»Strano?«, schlug Daniela vor.
»Altmodisch.«
»Es ist vollkommen
zurückgeblieben und frustrierend«, meinte sie zu meiner großen
Überraschung. »Aber irgendwie ergreift es Besitz von dir. Jeder
Italiener beschwert sich über Italien. Aber wenn wir von hier
weggehen, vermissen wir etwas, das wir nicht einmal benennen
können.«
»Möchtest du ein
paar Karotten?«, fragte ich.
»Nein, ich werde uns
linguine ai frutti di mare
kochen.«
Linguine ai frutti di mare … Ich dachte, sie hätte
gesagt, dieses Etwas sei schwer zu benennen.
Wir erreichten die
superstrada und gaben Gas. Meine
Papiere waren vollständig, und wir schwebten auf Wolke Nummer
sieben. Aber zwei carabinieri, die
neben ihrem Wagen am Straßenrand standen, sollten uns bald wieder
auf den Boden der Tatsachen zurückbringen. Einer winkte mit einem
überdimensionalen Lutscher, während sein Kollege eine
Maschinenpistole in der Hand hielt. Macht und Ohnmacht, Seite an
Seite – sie sahen wirklich aus wie zwei Witzfiguren, wie Dick und
Doof als Gesetzeshüter. Der eine war tatsächlich dick, der andere
dünn, und mit ihren Riesenlutschern, kniehohen Stiefeln,
gestreiften Hosen und Mützen, die viel zu klein für ihren Kopf
waren, wirkten sie eher lächerlich als Respekt einflößend. Als wir
rechts ranfuhren, steckte der größere Beamte seinen Schlagstock
zurück in den Stiefel. Seine kugelsichere Weste reichte bis zum
Kinn, als er sich zu unserem Fenster herunterbeugte. »Documenti per favore.«
Eine solche
Fahrzeugkontrolle ist reichlich ungewöhnlich für einen Australier.
Daniela griff in ihre Handtasche, und ich holte meine vorläufige
Aufenthaltsgenehmigung hervor, auf der die Tinte noch kaum
getrocknet war. Aber der carabiniere
hatte bereits das Interesse an unseren Papieren verloren, denn er
hatte etwas höchst Ungewöhnliches in unserem Auto entdeckt: Gelbe
Post-it-Zettelchen klebten überall im Wageninnern. Darauf standen
die Wörter für das, woran sie befestigt waren. Lenkrad, Hupe,
Handschuhfach, Armaturenbrett, Schaltknüppel und Handbremse – alles
war markiert. Das war Danielas Idee gewesen – eine neue Methode,
Vokabeln zu lernen. Überall klebten gelbe Zettel, so als habe sich
Napoleon beim Rasieren geschnitten.
Der carabiniere rief seinen schwer bewaffneten
Kollegen, und beide brachen in Gelächter aus.
»Darf ich fragen,
warum, signora?«
»Mein Freund lernt
gerade Italienisch.«
»Wo kommen Sie
her?«
»Aus
Australien.«
»Aus Australien? Was
zum Teufel tun Sie dann hier?«
»Ich werde ab
September in Mailand arbeiten«, sagte ich in fließendem
Italienisch. Übung macht den Meister.
»Sie scheinen schon
ziemlich gut Italienisch zu können.«
Ich berührte
Danielas Arm.
»Ich habe eine gute
Lehrerin.«
»Welche Sprache
sprechen Sie in Australien?«, fragte der eine mit der
Maschinenpistole.
Ich dachte, er mache
Witze, und sah Daniela an. Doch ihre Miene sagte mir, dass er es
ernst meinte.
»Inglese«, entgegnete ich, starr vor
Schreck.
»Ich würde gern
Englisch lernen. Mein Bruder spricht ein wenig Französisch.« Er sah
Daniela an. »Sprechen Sie Englisch, signora?«
»Si.«
»Sie Glückliche! Und
wo haben Sie sich kennengelernt …?«
Während jede Menge
Autos vorbeirasten, die meisten deutlich zu schnell, hörte sich der
Autobahnpolizist genüsslich unsere Liebesgeschichte an.
Anschließend wünschte er uns viel Glück. Der Beamte mit der
Maschinenpistole winkte sogar, als wir losfuhren. Ich weiß nicht,
ob ihnen das überhaupt klar war, aber sie hatten ganz vergessen,
unsere Papiere zu kontrollieren.
Die ärztliche
Untersuchung ist die letzte Hürde für alle, die in Italien bleiben
wollen. Sie steht mit Absicht an letzter Stelle, da es sehr
wahrscheinlich ist, dass man durch die Beantragung der
Aufenthaltserlaubnis in den Wahnsinn getrieben wurde. Als Belohnung
für die bestandene Untersuchung bekommt man ein libretto sanitario – einen Ausweis, der einem die
staatliche Gratis-Gesundheitsversorgung garantiert.
Als Daniela ihren
Hausarzt anrief, der in erster Linie ein Freund der Familie und
dann erst ihr Arzt war, bestand er darauf, dass wir sofort
vorbeikämen. Er sagte, er freue sich schon sehr darauf, seinen
ersten australischen Patienten kennenzulernen, schlug allerdings
vor, Daniela solle ihr canguro
sicherheitshalber auch bei einem Tierarzt anmelden. Als wir nach
seinen offiziellen Behandlungszeiten zu Dr. Nino nach Hause fuhren,
meinte Daniela, er sei ein guter Arzt, weil er sich von einem
Besuch zum nächsten merken könne, was einem fehle. Ich konnte nur
hoffen, dass sein Lebenslauf noch andere Pluspunkte
aufwies.
In der nahe
gelegenen Stadt Soldignano glänzte Dr. Ninos frisch gestrichene
Villa in der Nachmittagssonne. Wir durchquerten einen Garten mit
Zitronenbäumen und gingen auf eine prächtige Eingangstür zu. Dort
wurden wir von einem Mann mit Schnurrbart in einen Palast voller
Antiquitäten, Ledersofas, Kunstwerken und kleinen Statuen
eingelassen. Der Prunk im Haus stand in einem merkwürdigen
Gegensatz zu dem heruntergekommenen Viertel vor seinem Gartentor.
Die Straße war vermüllt, und ein fast verhungerter Hund streunte
darauf herum. Würde man ein Röntgenbild von süditalienischen
Dörfern machen, um all den Prunk und Protz in den Häusern an jenen
verwahrlosten Straßen zu sehen, begriffe man die Einstellung der
Italiener dem Gemeinwesen gegenüber sofort. »Die Straße gehört
schließlich niemandem«, sagen sie.
Dr. Nino, der
ziemlich groß für einen Italiener war, erzählte den Witz mit dem
Känguru noch einmal. Nur für den Fall, dass Daniela ihn nicht
weitererzählt hatte. Dann verabreichte er mir eine Medizin, fast
eine ganze Flasche seines selbst gemachten Limoncellos – purer
Alkohol mit einem Hauch Zitrone. Wahrscheinlich nur, damit mich
sein exzentrisches Elixier im Krankheitsfall umbrachte oder mich
kurierte. »Nino hat ihn mit Zitronen aus unserem Garten selbst
gemacht«, sagte seine Frau stolz, die Nagellackentferner
beigesteuert zu haben schien.
Nachdem ich ihre
Medizin genommen hatte, unterhielt ich mich mit ihrem Papagei, der
zu meinem Entsetzen und ihrer Freude besser Italienisch sprach als
ich.
Dr. Nino bekam einen
Bumerang. Und ich Kopfschmerzen. Nachdem ich einen Monat lang auf
herrenlosen Straßen unterwegs gewesen war, besaß Andrano seinen
ersten australischen Einwohner – Crristoper Arrison mit H am
Anfang. Und auch wenn ich meinen neuen Status mittlerweile mit
Dutzenden von documenti nachweisen
konnte, drückte sich meine wahre Zugehörigkeit zu Andrano darin
aus, dass ich das Fünf-Uhr-Angelusläuten der Kirchenglocken
auswendig mitsummen konnte. Sollten mich die carabinieri jemals aus dem Verkehr winken und ich
hätte meine Papiere vergessen, könnte ich sie damit vielleicht
sogar beeindrucken. Und wenn nicht, würde ich ihnen eben eine
andere Liebesgeschichte erzählen.