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Crristoper Arrison mit H am Anfang
 
In Luigi Pirandellos Roman Mattia Pascal täuscht der Held seinen eigenen Tod vor, um dem zu entfliehen, was er die Tragödie des italienischen Bürgers nennt – nämlich die Unmöglichkeit, die Bürokratie zu umgehen, um ein freies und friedliches Leben zu führen.
Während des mühsamen Prozesses, ein legaler Einwohner von Danielas Land zu werden, war ich jedoch nie so verzweifelt, es Pascal gleichtun zu wollen. Ich hatte nie vor, mich umzubringen, obwohl ich manchmal durchaus gern andere umgebracht hätte. In Andrano zu leben war weitaus erfreulicher, als die offizielle Erlaubnis dazu zu erhalten – und das, obwohl ich es diesbezüglich leichter hatte als viele andere.
Bald nach meiner Ankunft in Italien musste ich meine Arbeits- und Aufenthaltserlaubnispapiere auf einer Reihe von Ämtern vervollständigen. Vor jedem Behördenbesuch überlegte Daniela, ob sie nicht jemanden kannte, der dort arbeitete, oder zumindest jemanden, der wiederum jemanden kannte, der dort arbeitete. Jede Bekanntschaft war hilfreich, und sei sie auch noch so vage. Ob ein Cousin dritten Grades oder der Freund eines Freundes, spielte keine Rolle, Hauptsache, derjenige konnte uns ein Hintertürchen aufmachen. Als ich Daniela fragte, warum wir die Papiere nicht einfach selbst vervollständigen könnten, sah sie mich an, als stammte ich von einem fremden Planeten und nicht nur aus einem fremden Land.
»Vergiss es«, sagte sie. »Wir haben einfach keine andere Wahl. Wir sind hier in Italien.«
Bei jedem dieser Bekannten musste man sich bedanken, und da kam ich ins Spiel. Mehr konnte ich persönlich nicht zu diesem Prozess beitragen. Als ich durch den italienischen Zoll ging und mich fühlte wie ein Schmuggler von Aborigine-Kunst, hatte ich angenommen, die vielen Bumerangs, die ich aus Australien hatte mitbringen sollen, seien Geschenke für Freunde und Verwandte. Damals wusste ich noch nicht, dass ich sie als Schmiergeld für gut vernetzte Bekannte, sozusagen als Türöffner, brauchen würde. Mit den Bumerangs, die bekanntermaßen so beschaffen waren, dass sie von ihrer Reise zurückkehrten, bedankte sich Daniela dafür, dass mich nicht dasselbe Schicksal ereilte. Doch auch so waren unsere Behördenbesuche noch Kräfte zehrend genug.
60 Kilometer von Andrano entfernt liegt die Barockstadt Lecce, die größte Stadt im Salento. Allein im Juli mussten wir fünfzehn Mal dorthin auf irgendwelche verqualmten Amtsstuben – eine höchst unwillkommene Unterbrechung unserer sommerlichen Routine. Wegen der brüllenden Temperaturen war die insgesamt 120 Kilometer lange Fahrt ohne Klimaanlage eine echte Tortur für Daniela und mich. Aber am meisten hatte Napoleon zu leiden.
Ich hatte nämlich keine Zeit verloren, Danielas Auto, ein Elba, nach dem Kaiser zu benennen, der auf die gleichnamige Insel verbannt worden war. Die Fließhecklimousine des Innocenti hatte bereits 200 000 Kilometer auf dem Buckel, und wenn man sich ihre Karosserie einmal genauer ansah, war sie bestimmt öfter in den Krieg gezogen als ihr Namensvetter. In der glühenden Julihitze knatterte sie genauso widerwillig nach Lecce hin und zurück wie wir.
Unsere Ausflüge nach Lecce begannen unweigerlich damit, dass wir an einem der letzten Häuser an der Ausfallstraße – der api-Tankstelle – hielten. Der Besitzer des schlichten Gebäudes, das kaum anders aussieht als die meisten Häuser Andranos, hatte das Nebengebäude in eine Tankstelle verwandelt und Wände und Zapfsäulen in dem grellen Kanarienvogelgelb des multinationalen Konzerns gestrichen, zu dem seine schäbige Filiale gehört. Die hintere Mauer der Tankstelle wurde von Blumenbeeten mit ebenfalls gelben Azaleen gesäumt. Diese zierten den florierenden Betrieb, den der alte Mann am Zapfhahn liebevoll »California« getauft hatte.
»Benvenuti in California!«, rief er jedes Mal, wenn wir kamen. »Pieno, Signori?«
»Nein, nur für zwanzig Euro, grazie«, pflegte Daniela daraufhin zu sagen, womit sie sein automatisches Angebot, vollzutanken, ablehnte. Seine Frage war rein rhetorisch – ein »si« hätte ihn völlig aus dem Konzept gebracht. Benzina kostet in diesem Teil der Welt nämlich stolze 1 Euro 30 pro Liter, und wenn wir vollgetankt hätten, hätten wir Napoleons Wert dadurch glatt verdoppelt. Einen Großteil dieses exorbitanten Preises machen Steuern aus. Manche sind durchaus berechtigt, während andere – wie die Benzinsteuer, die Mussolinis Abessinienkrieg mitfinanzierte und die angeblich nie mehr abgeschafft wurde – deutlich schwerer zu rechtfertigen sind. Benzina ist eine enorme finanzielle Bürde für die Italiener. Ich hörte sogar von einem bewaffneten Raubüberfall auf eine Tankstelle, bei dem der traumatisierte Gehilfe instinktiv zur Kasse ging, nur um vom Lauf eines Gewehrs zu den Zapfsäulen dirigiert zu werden.
Wir wussten nicht mal, ob Napoleon einen vollen Tank überhaupt verkraftet hätte, da Daniela stets nur so viel benzina tankte, dass es gerade für unsere Fahrt reichte. Und deshalb führte jede Fahrt nach Lecce über »California«. Sein exzentrischer Besitzer wurde schon bald mein erster Freund in Andrano. Ich nannte ihn »Signor Api« und erklärte ihm, dass man den Namen im echten Kalifornien auch als »Mr. Happy« übersetzen könne. Er war entzückt von diesem Spitznamen und begann ihn selbst zu benutzen. Ich fand ihn eigentlich ziemlich passend für den gutgelaunten älteren Herrn, denn wenn es jemanden gab, der einen trotz der unverschämten Benzinpreise glücklich zurückließ, dann Signor Api.
Signor Api war ein siebzigjähriger Herr mit einem weisen, faltigen Gesicht, dem eine Lesebrille schief auf der Nase saß, während er das Auto betankte. Die vielen Nullen – vor allem als es in Italien noch Lire gab – mussten seine Augen zwangsläufig schädigen. In Italien ist es Tradition, nicht selbst zu tanken. Sogar an Tankstellen, wo es einen Preisnachlass für Selbstbedienung gibt, warten die Italiener lieber und lassen sich bedienen. Komisch nur, dass sie Auto fahren, als ob sie nie Zeit zum Warten hätten. Während Signor Api uns betankte, erzählte er uns laut und fröhlich Witze, die wir uns wohl oder übel anhören mussten.
An jenem Morgen war Napoleon mit Bougainvillea-Blüten vom Strauch in Danielas Auffahrt bedeckt, woraufhin sofort der Provinzdichter im Tankwart geweckt wurde.
»Auf dem Auto: bald dahinwelkende Blüten. Darin: eine immerwährende Rose.«
Daniela war nicht ganz so entzückt von Signor Api wie ich. Nun musste sie seine Bemerkungen nicht nur erdulden, sondern auch noch übersetzen.
»Sie sind die schönste Frau von ganz Andrano«, verkündete er. »Ja, vielleicht sogar die Schönste in der ganzen Provinz.«
»Vielleicht?«, entgegnete Daniela mit gespielter Em pörung.
»Na ja, in der Provinz gibt es viele Frauen, aber keine kommt nach Andrano, ohne dass mir das auffällt.«
Obwohl Danielas Schönheit außer Frage stand, konnte tatsächlich keine Frau an der »California«-Tankstelle halten, ohne dass ihr seine dubiosen poetischen Ergüsse erspart geblieben wären.
Während er damit fortfuhr, hielt ein Laster mit Bari-Kennzeichen. Der Fahrer fragte, wie man nach Diso käme, ein Ort, der gerade mal zwei Kilometer weit weg lag.
»Fahr Richtung Rom!«, schrie Signor Api. »Nimm Kurs auf die malerischste Metropole der Welt, und du kannst Diso unmöglich verpassen, Kumpel.«
»Und wo geht’s nach Rom?«, fragte der Fahrer, dem sein enger Terminplan keine Zeit für Scherze ließ.
Signor Api ließ die Hacken knallen wie ein Soldat und zeigte auf die Straße, die aus der Stadt führte. Der Fahrer winkte ihm zu, merkte sich, dass man sich am besten von Andranesi fernhielt, und fuhr dann Richtung Hauptstadt. »Tante belle cose!«, rief ihm Signor Api hinterher, sein Abschiedsgruß, den er für alle Kunden bereithielt und der »Alles Gute!« bedeutet. Auch wir wurden damit bedacht, als wir mit Napoleon Kurs auf Lecce nahmen und unseren ersten Angriff auf die Einwanderungsbehörde starteten.
Das erste Stück Straße nach Lecce ist eine bessere Landstraße. Die an den Rändern schadhafte Asphaltdecke führt dazu, dass die meisten in der Mitte fahren und nur dann ausweichen, wenn ein Wagen entgegenkommt oder sie überholt werden. Auf dieser sogenannten provinciale gibt es ein Tempolimit von 70 km/h, aber wir fuhren 100 und wurden oft überholt – einmal sogar von einem Mann, der sich dabei rasierte. Natursteinmauern trennten die Straße von Olivenhainen, Weizenfeldern und verlassenen Ruinen, auf deren Dächern Unkraut wuchs.
Wo die provinciale durch die Orte Marittima, Diso, Ortelle und Poggiardo führt, gilt ein Tempolimit von 50 km/h, woraufhin die Autos 80 fahren.
Weiße Häuser säumen die Straße. Autos, die aus Seitenstraßen kommen, müssen sich mit ihren Kühlern weit vorwagen, um den heranschießenden Verkehr überblicken zu können, den sie leider öfter zu spüren als zu sehen bekommen. Statt auf die Bremse zu steigen, gegen die die meisten Italiener allergisch zu sein scheinen, warnen sie die bereits auf der provinciale befindlichen Fahrer vor ihrem Herannahen, indem sie auf die Hupe drücken und aufblenden. Das Leben der Anwohner dürfte nicht sehr idyllisch sein.
An den meisten Kreuzungen stehen Stoppschilder. Manche sind dermaßen verblasst, dass nur noch ihre achteckige Form an ihre disziplinarische Funktion erinnert. Folglich sind sie eine Art Mistelzweig – eine Anordnung, die man je nach Wunsch befolgen, aber auch ignorieren kann. »Wer hat Vorfahrt?«, fragte ich Daniela, als sie Marittima verließ und ich mich an meinen Türgriff klammerte. »Der Mutigste«, sagte sie mit dem Fuß auf dem Gaspedal.
An einer Kreuzung in Poggiardo schlägt eine albanische Familie aus einer Ampel Profit, an der sie spontan einen Marktstand errichtet hat. Während die Autofahrer auf Grün warten, können sie falsche Perserteppiche, Lampen, Ventilatoren, Bohrer und anderen Krimskrams kaufen, während braun gebrannte Kinder in schmutzigen Kleidern zwischen den Fahrzeugen hin und her laufen und Papiertaschentücher und Feuerzeuge verkaufen. Wir haben ihnen ein paar Münzen gegeben, aber die Ware verweigert, in der Hoffnung, dass sie sie woanders loswerden.
Hat man Poggiardo erst einmal hinter sich gelassen, führt eine superstrada nach Lecce. Die offizielle Höchstgeschwindigkeit beträgt 90 km/h, aber die meisten fahren 130. Wir tun es ihnen gleich, denn es ist ungefährlicher, im Verkehr mitzuschwimmen, als ihn zu behindern. Die Straßen sind von Müll und kaputten Haushaltsgeräten gesäumt. Der Kadaver eines Schäferhunds liegt unter einer verbeulten Leitplanke. Ein Streuner, der laut Daniela tot besser dran sei als lebendig.
Trotz der Hitze schließen wir die Fenster, als wir die Pastafabrik Pedone und eine Olivenölfabrik passieren. Der sie umgebende Gestank ist genauso unangenehm wie der Rauch, der aus den Fabrikschloten quillt. Kurz darauf taucht an einem diesigen Horizont Lecce auf, eine Stadt im Hinterland, die fernab vom Meer beinahe umkommt vor Hitze. Wenn sie sich verschmutzt und wenig einladend vor meinen Augen materialisiert, hoffe ich jedes Mal, sie sei nur eine Fata Morgana.
Die superstrada führt auf den Stadtring von Lecce, auf dem zahlreiche Autos sämtliche Vorfahrtsregeln missachten und sich gegenseitig bedrängen. Die aufgemalten Spuren werden völlig ignoriert. Fahrer drücken schon beim geringsten Ärgernis auf ihre Hupen, obwohl sie erst wenige Sekunden zuvor an einem Schild vorbeigekommen sind, welches das Hupen verbietet. Nachdem wir über den Landstraßenasphalt gebraust sind, stecken wir zwischen hässlichen Wohnblocks im Stadtverkehr fest. An jeder Ampel bettelnde Immigranten. Benvenuti a Lecce.
Die Altstadt ist beeindruckend, der Stadtrand hässlich – ein schöner barocker Kern, umhüllt von unattraktivem Fleisch. Wie bei den meisten italienischen Städten steht die elegante Architektur von Lecces prächtigem centro storico in einem starken Kontrast zu den verwahrlosten Wohnvierteln. Derart alte Städte scheinen nur schwer mit dem wachsenden Platzbedarf von heute zurechtzukommen. Aber das Besondere an Lecce ist seine Geschichte und nicht die Jetztzeit. Wie bei Andrano, nur in einem wesentlich größeren Maßstab, waren Lecces vorchristliche Gründer umherziehende griechische Gemeinden. Später wurde die Stadt von einer ganzen Reihe von Heerführern umkämpft und regiert. Dazu gehörten der römische Kaiser Mark Aurel, die Normannen und dann für dreieinhalb Jahrhunderte die spanischen Bourbonen. Etwa um die Mitte des 19. Jahrhunderts führten patriotische Aufstände dazu, dass Lecce mit dem übrigen, gerade im Entstehen begriffenen Italien vereint wurde. Heute weht die Flagge einer stolzen Republik vor den Amtsgebäuden der Stadt, die gleichzeitig Verwaltungshauptstadt der Provinz Lecce ist.
Wir parken Napoleon gerade zwischen zwei städtischen Mülltonnen, als ein abgerissener junger Mann auftaucht. »Autoservice, signora«, informiert er Daniela. »Ich pass drauf auf.« Daniela wirft ihm eine Münze zu, die er in seine Jeans steckt, bevor er sich auf unsere Motorhaube setzt. Zur Mahnung an alle, die sich unserem Wagen nähern wollen, wenn auch nur, solange wir in Sichtweite sind. Zweifellos ein kleines Mafia-Geschäft, eine als freundliches Angebot getarnte Erpressung, die nahelegt, dass man sich bei Nichtbezahlung tatsächlich um das Auto »kümmern« wird. Obwohl Daniela solche erbärmlichen Erpressungsversuche hasst, weigert sie sich nur selten zu zahlen, da der Kleingeldbetrag ihrer Meinung nach ein vergleichsweise geringer Preis dafür ist, sich vor den eigenen Beschützern zu schützen.
Die Schlange im Ufficio Immigrazione reichte bis auf die Straße. Afrikaner, Kurden, Slawen und jetzt auch noch ein Australier warteten geduldig, in der Hoffnung, bleiben zu dürfen. Der einzige Schalter dieser Unterabteilung der Questura – des Polizeipräsidiums – war mit einem untersetzten Polizisten besetzt, der sich nur unwesentlich für seine Arbeit interessierte. Seine Mütze lag auf dem Tresen, und seine Augen waren nur noch zwei schmale Schlitze wegen des Rauchs, der von der Zigarette zwischen seinen Lippen aufstieg. Die Wartenden waren ziemlich angespannt. Sie warteten schon seit Stunden, manche nur, um sich danach zu erkundigen, ob ihre Aufenthaltsgenehmigung fertig war. Ein Afrikaner im Kaftan, dem man sagte, er solle in einem Monat wiederkommen, protestierte: »Das ist schon das dritte Mal, dass ich drei Stunden gewartet habe, nur um mir anhören zu müssen, dass ich noch mal wiederkommen soll.«
»Na und?«, rief der Polizist hinter seinem Plexiglas. »Wenn ich zur Bank will, muss ich mir auch einen Tag freinehmen.«
Man wusste nicht mehr, wer sich hier bei wem beklagte.
»Stehen Sie auch in der Schlange?«, fragte ein Slawe Daniela in fließendem Italienisch.
»Nein, gehen Sie ruhig vor«, sagte sie. »Wir warten auf jemanden.«
»Ah, Sie haben jemanden, der Ihnen hilft«, sagte er, als er meine Papiere sah. »Sie Glücklicher! Letztes Mal war ich mit meiner Rechtsanwältin hier, sie trug einen Minirock. Wir haben genau zwei Minuten gewartet. Aber heute konnte sie nicht. Wo kommen Sie her?«
»Aus Australien.«
»Australien? Was um alles in der Welt tun Sie dann hier?«
Ich sah Daniela an.
»Ah«, sagte er. »Liebe, Krieg und Geld sind die drei Gründe, warum Menschen ihre Heimat verlassen. Sie haben sich den besten Grund ausgesucht.«
Ich lächelte. Er sprach weiter und schien sich endlich mal alles von der Seele reden zu wollen.
»Die Papiere sind ein Riesenproblem. Die Behörden hier sind furchtbar. Aber ansonsten ist Italien gar nicht so schlecht. Sich eine Aufenthaltsgenehmigung zu besorgen ist ein Albtraum. Aber wenn man sie erst mal hat, kann man sich frei im Land bewegen und sich eine Arbeit suchen. In Deutschland bekam ich die Genehmigung sofort, durfte mich aber nicht weiter als 25 Kilometer von der Behörde entfernen. Da habe ich zu dem Beamten gesagt: ›25 Kilometer? Ich bin doch nicht Ihr Hund!‹«
Wir mussten lachen.
»Leben Sie schon lange hier?«, fragte Daniela.
»Fast vier Jahre«, sagte er. »Bitte entschuldigen Sie, signora, aber ich mag Italien nicht besonders. Aber es ist die einzige Heimat, die mir noch geblieben ist. Jugoslawien gibt es nicht mehr.«
Es kam Bewegung in die Schlange. Während er einen Schritt nach vorn machte, traten wir einen Schritt zurück, da unser »Bekannter« bereits unterwegs war.
Zehn Minuten später hielten zwei schwarze Lancias mit getönten Scheiben vor dem Gebäude, und zwar nebeneinander, so dass der gesamte Verkehr zum Erliegen kam. »Ecco Riccardo«, verkündete Daniela und zupfte ihre Bluse zurecht. Dem zweiten Wagen entstieg der örtliche Polizeichef, ein schwer übergewichtiger Glatzkopf mit Ziegenbärtchen. Wenn sein Lächeln nicht gewesen wäre, hätte er mich schwer eingeschüchtert. Er wirkte eher so, als sei er selbst eine Figur aus der Unterwelt, sodass ich ihn zunächst für einen jener Mafiosi hielt, die er eigentlich fangen sollte. Seine Begleiter zündeten sich Zigaretten an und lehnten sich gegen die Lancias, während Riccardo mit ausgebreiteten Armen auf uns zukam.
»Carissima Daniela«, rief er und küsste sie auf beide Wangen. »Er ist also endlich da?«
»Si, si«, sagte Daniela und berührte meinen Arm. »Chris, ti presento Riccardo
Immer noch schockiert über Riccardos Auftreten, stotterte ich: »Es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen.«
»Ich habe Sie schon auf dem Papier kennengelernt«, erwiderte er, zerquetschte mir beinahe die Hand und küsste mich auf die Wangen. »Dai, bringen wir’s hinter uns, damit wir gehen und gemeinsam etwas trinken können.«
Wir folgten Riccardo an den Anfang der Schlange, wo ihn der Polizist hinter dem Schalter erkannte und auf einen Knopf unter seinem Tresen drückte. Daraufhin öffnete sich eine Tür neben ihm. Von einem mit grauem Marmor vertäfelten Gang gingen mehrere Büros ab. Riccardo führte uns zum letzten Zimmer, das er ohne anzuklopfen betrat. Der Mann am Telefon unterbrach sein Gespräch.
»Buongiorno ispettore«, sagte Riccardo. Ohne seine Reaktion abzuwarten, stellte er Daniela und mich vor, erklärte den Grund für seinen Besuch und endete mit den Worten permesso di soggiorno – Aufenthaltsgenehmigung. Der Inspektor zog an seiner Zigarette, bevor er einen grauen Aktenschrank neben seinem grauen Schreibtisch öffnete. Alles in dem Büro war grau: das Telefon, die Akten, die sich bis an die Decke stapelten, ja sogar sein hustender Insasse. Es gab keinen einzigen Computer, und alles war entweder von Zigarettenasche oder Staub übersät: die sich durchbiegenden Regale und das Büromaterial ebenso wie das Kruzifix an der Wand. Das einzig Saubere und Weiße war das Formular, das der Inspektor aus seiner Schublade zog und auszufüllen begann.
Obwohl er meinen Namen von meinem Pass abschrieb, verschrieb sich der Inspektor. Auf dem Formular stand Crristoper Arrison – genau wie die meisten Italiener bis auf Daniela meinen Namen aussprechen, wobei sie das R meines Vornamens rollen und das H meines Nachnamens weglassen.
»Nein, Harrison mit H am Anfang«, verbesserte ihn Daniela, nachdem sie die krakelige Schrift des Inspektors entziffert hatte. »Und Christopher schreibt sich mit einem R und zwei H.«
»Accidenti«, murmelte der Inspektor, bevor er ein neues Formular herauszog und uns Zigaretten anbot, die wir ablehnten.
Italiener haben Schwierigkeiten mit dem englischen Alphabet. Ihr alfabeto hat nur 21 Buchstaben – J, K, W, X und Y fehlen. Und obwohl der Buchstabe H existiert, wird er nie ausgesprochen und taucht nur bei einer Hand voll entlehnter Fremdwörter wie »Hotel« auf, das in Italien otel ausgesprochen wird.
Als er das Feld mit dem Einreisedatum erreichte, blätterte er meinen Pass durch und runzelte seine sonnenverbrannte Stirn.
»In Ihrem Pass muss eigentlich ein Stempel mit dem Einreisedatum sein.«
»Wann sind Sie angekommen?«, wollte Riccardo von mir wissen.
»Am 16. Juni.«
»Er ist am 16. Juni angekommen«, sagte Riccardo und erwartete, dass das Feld ausgefüllt wurde.
»Aber warum fehlt dann der Stempel?«
In einem Italienisch, das schon deutlich Fortschritte gemacht hatte, erzählte ich ihm die Geschichte von den faulen Polizeibeamten am Flughafen von Rom.
»Aber sie hätten das Visum abstempeln müssen, das Sie vom italienischen Konsulat in Sydney bekommen haben«, sagte der Inspektor stur und hielt meinen Pass hoch.
»Aber das haben sie nun mal leider nicht«, schaltete sich Daniela ein.
»Sie haben diesen Pass nicht abgestempelt, Inspektor«, sagte Riccardo, der es offensichtlich gewohnt war, das letzte Wort zu haben. Aber in diesem Fall galt das leider nicht.
Italien hat große Probleme mit illegalen Einwanderern. Allein im Jahr 2001 erreichten um die 20 000 clandestini die Küsten der Halbinsel. In der Hoffnung, ihre Armut gegen ein bisschen Wohlstand zu tauschen, setzten sie ihr Leben in lächerlichen Nussschalen aufs Spiel. Für die meisten war Italien nicht das Ziel ihrer Reise, sondern nur das Eingangstor, gewissermaßen die Nabelschnur des Kontinents – eine 1000 Kilometer lange Leiter in den Bauch eines noch größeren Europa. Wie sagen die Italiener so schön? »Wenn man nicht durch die Vordertür hereinkommt, muss man eben durchs Fenster klettern.«
Obwohl er mir nicht vorwarf, illegal eingereist zu sein, war der Inspektor nicht bereit, über den fehlenden Beweis für meine legale Einreise hinwegzusehen. Zum Glück war ich Vielflieger und hatte aus alter Gewohnheit meine Bordkarte aufbewahrt. Ein absolut eindeutiger Beweis für meine konventionelle Reise. Ich reichte sie dem Inspektor, und Riccardo sah mich bewundernd an. Seinem breiten Lächeln entnahm ich, dass ich hier ausgezeichnet herpasse. Man muss auf einiges gefasst sein, wenn man in Italien leben will.
Der Inspektor war erleichtert über diesen Kompromiss und befahl mir, die Bordkarte mitzubringen, wenn ich wiederkäme und die Dokumente dabeihätte, die mir noch für meine Aufenthaltsgenehmigung fehlten. Sie aufzutreiben sollte mich noch Wochen kosten. Anschließend leckte er die Rückseite einer Steuermarke über 20 Euro ab, die Daniela bei einem nahe gelegenen Rauchwarenladen erworben hatte, und klebte sie neben mein Passfoto auf das Antragsformular.
»Finito«, sagte er und stempelte sowohl die Marke als auch das Foto ab.
»Und was jetzt?«, fragte Riccardo.
»Impronte digitali«, entgegnete der Inspektor.
Wir gingen an den Anfang einer anderen Schlange und betraten ohne anzuklopfen ein weiteres Büro. In dem Raum, der aussah wie ein Kindergarten für Kriminelle, lagen überall weiße Blätter mit schwarzen Fingerabdrücken herum. Riccardo befahl dem diensthabenden Beamten, meine Fingerabdrücke als Nächstes zu nehmen.
»Wo kommen Sie her?«, fragte der Beamte in Zivil, während er meine Hände mit einer klebrigen, schwarzen Substanz bemalte.
»Aus Australien.«
»Australia? E che cavolo vuole qui?« Was er meinte, war, was zum Teufel ich dann hier in Italien wolle, wobei »Teufel« durch »cavolo« (Kohl) ersetzt wird.
»Ich trete im September eine Stelle in Mailand an.« Daniela nickte – mehr brauchte der Polizist nicht zu wissen.
»Ich würde liebend gern in Australien leben. Ich würde sofort dahin auswandern, wenn ich könnte. Und, ist die Polizei in Australien strenger als die in Italien?«
Auf diese Frage wusste ich keine Antwort. Zum Glück war es nur eine rhetorische Frage.
»Wie lange dauert der Flug?«
»24 Stunden.«
Ich war drauf und dran, ihm zu raten, seine Bordkarte zu behalten.
Ich wusch mir die Hände, und wir verließen die Questura. Draußen wurden wir von einer Gluthitze empfangen. Weil ich so ein schlechtes Gewissen wegen meines Vordrängelns hatte, winkte ich dem Jugoslawen schüchtern zu. In vierzig Minuten war er nur wenige Meter vorangekommen und befand sich immer noch außerhalb des Gebäudes. Riccardo bestand darauf, uns zu einem Getränk einzuladen. Er machte seinen Aufpassern ein Zeichen, indem er auf seinen Bauch klopfte und auf die Bar auf der anderen Straßenseite zeigte.
»Wenn man etwas erreicht hat, trinkt man in Italien gemeinsam einen Kaffee. Das ist bei uns so Tradition«, sagte er und kippte seinen Espresso in zwei Schlucken hinunter. »Auf diese Weise feiern wir unseren Sieg über den Staat.«
Er tauschte ein wissendes Lächeln mit Daniela.
»Ich kann Ihnen gar nicht genug danken für heute Morgen«, sagte sie.
»Aber ich bitte Sie!«, meinte er abwehrend und sah auf seine Uhr. »Und grüßen Sie Ihre Eltern von mir«, fügte er noch hinzu, bevor er uns auf die Wangen küsste und sein gefährliches Leben wiederaufnahm.
Als wir zum Wagen zurückkehrten, war sein Beschützer verschwunden, nur Napoleon war leider immer noch da. So wie er zwischen den beiden Mülltonnen parkte, sah er verdächtig wie eine dritte aus. Aber seine Kräfte reichten, um uns wieder nach Hause zu bringen. Schon bald tauchten wir in das smaragdgrüne Wasser am Strand von Andrano ein, wo die morgendliche Herausforderung inmitten von Fischerbooten, Eiscreme und Danielas rotem Bikini schnell wieder vergessen war.
 
Als Nächstes musste ich zum Ufficio Provinciale del Lavoro, um meine Tätigkeit registrieren und mir eine Steuerkarte geben zu lassen. Doch das war erst der Anfang. Es folgte eine zweiwöchige Odyssee von Behörde zu Behörde. Ich eilte zwischen den verschiedenen Ämtern für Arbeit, Unfall- und Rentenversicherung hin und her und erhielt eine Steuernummer, die mit ihren 16 Ziffern nur halb so lange war wie die Schlange, in der ich warten musste, um sie zu bekommen. Jedes Büro, das mit schlafmützigen, Zigaretten rauchenden Beamten besetzt war, besaß dieselben grauen Telefone wie die in der Questura, zahlreiche Gummistempel an Stempelkarussells, Akten, die sich bis an die Decke stapelten, Kruzifixe an Wänden, von denen der Putz blätterte, verblichene EU- und Italienflaggen und nur, wenn es gar nicht anders ging, einen alten Olivetti-Computer. Nicht genug damit, dass die Zeit auf diesen Behörden stehen geblieben war – sie war auch vor sehr langer Zeit stehen geblieben.
Solche Frusttage wurden jedoch Gott sei dank von Daniela und dem Mittelmeer aufs Herrlichste aufgelockert. Nachdem wir einen ganzen Vormittag angestanden waren, verbrachten wir den Nachmittag auf einem Boot und ließen uns von Bucht zu Bucht treiben. Der Anker wurde öfter ausgeworfen, als dass der Motor angeworfen wurde. Ich hatte meine Italienischlehrbücher dabei, und Daniela fragte mich ab, während ich um das Boot herumplanschte. Eine falsche Antwort kostete mich einen Kuss. Ich machte extra Fehler. Ein Nachmittag mit ihrer entdeckungslustigen Zunge machte den unglückseligen Vormittag, an dem ich mir ständig auf meine eigene gebissen hatte, locker wieder wett. Himmel und Hölle wechselten sich ab – und genauso sieht das Leben in Italien aus.
Die nächste Hürde, die ich nehmen musste, war das Ufficio del Lavoro, wo ich hoffentlich irgendwann meine Arbeitserlaubnis bekommen würde. Daniela war es irgendwie gelungen, dort eine Bekannte aufzutun, eine junge Frau, die selbst Erfahrung mit foreign affairs hatte. Ihre storia d’amore mit einem Amerikaner hatte Barzinis Herausforderung allerdings nicht standgehalten, und der junge Mann war in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt. Wahrscheinlich engagierte sie sich nur deshalb für uns, weil sie neugierig war, ob es Daniela mit mir besser ergehen würde. Wie dem auch sei – Daniela war so klug gewesen, sich mit der Frau anzufreunden, die so freundlich war, uns eines Nachmittags in ihr Büro zu bitten, wo sie uns ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte.
Im Hochsommer befindet sich ganz Andrano um drei Uhr nachmittags im Tiefschlaf. Doch irgendjemand ist immer unterwegs. Da sein Schlafzimmer nur durch ein Fliegengitter von der Tankstelle getrennt ist, ist Signor Api stets bereit, herauszueilen und Benzin zu verkaufen. Wir hupten leise, um nicht den gesamten Ort aufzuwecken, und schon kam er in seiner üblichen Sommerkluft heraus: Er trug ein grünes Unterhemd voller Ölflecken, graue Shorts, die von einem Seil statt von einem Gürtel festgehalten wurden, und hatte abgelatschte Sandalen an den Füßen, deren Zehennägel dringend mal wieder gesäubert werden müssten. Wenn er vormittags beredt war, war er nachmittags regelrecht geschwätzig. Daniela machte den selbst gekelterten Wein dafür verantwortlich, den er zum Mittagessen trank und der so stark war, dass die meisten Dorfbewohner behaupteten, da könne man ebenso gut sein Benzin trinken. Er nahm unseren Tankdeckelschlüssel und machte sich an die Arbeit, so schnell wie ein Formel-1-Team. Bis ihn die Muse küsste und das Rennen verloren war.
»Ich kann die ganzen Nackedeis nicht mehr sehen«, verkündete er. »Wo bleibt da das Begehren? Alle Frauen im Fernsehen sind nackt. Sie enttäuschen meine Einbildungskraft. Wo ist die Winterfrau hin? Auf Canale 5 ist immer Sommer.«
Während Signor Api vor sich hin schwallte, wartete ein halbwüchsiges Mädchen vor dem Haus gegenüber. Es hielt ein Alfa mit einem älteren Mann am Steuer, sie stieg ein, und das Pärchen sauste davon. »Ahhh … das moderne Rendezvous«, hob Signor Api an, um dann fortzufahren wie folgt: »Die Frau schlendert vor dem Haus auf und ab, und irgendein dahergelaufener Kerl nimmt sie mit. Facile!« Er rieb sich die Hände. »Wenn Sie wüssten, was ich alles mitgemacht habe! Mit meiner schönen Freundin von vor fünfzig Jahren bin ich nur deshalb nicht mehr zusammen, weil ich ihr vor ihren Eltern zu nahe auf die Pelle gerückt bin. Ich hätte ihre Hand erst halten dürfen, wenn ich ihr vorher einen Ehering an den Finger gesteckt hätte. Ich war meiner Zeit eben schon immer weit voraus. Ich habe den Frauen die Liebe beigebracht, ja sogar das Küssen. Ah, was hat der liebe Herrgott noch alles mit uns vor? Als junger Mann verliebt man sich in ältere Frauen, und wenn man alt ist, will man die jungen.«
Vielleicht war sie nicht ganz einverstanden mit dem Geschwätz ihres Mannes, denn Signora Apis Frau steckte ihren Kopf hinter dem Fliegengitter hervor und bellte eine Bemerkung in einem Dialekt, den nicht mal Daniela verstand. Aber seine Antwort war unmissverständlich: Er habe zu arbeiten, also müsse sie sich wohl oder übel gedulden.
»Der Klatsch war das Problem«, fuhr er fort. »Der Sex an sich war keine Sünde. Aber Sex haben und darüber reden war Sünde...« In diesem Stil ging es endlos weiter. Bei jeder Fahrt nach »California« bekamen wir nicht nur Benzin, sondern auch jede Menge philosophische Prosa mit auf den Weg. Und jede seiner Weisheiten war »Gottes Wille«, sogar das Überangebot an Brüsten auf Canale 5. Man musste ihn einfach mögen.
Er schloss den Tankdeckel und tauschte den Schlüssel gegen einen 20-Euro-Schein.
»Wo soll es heute hingehen?«, fragte er.
»Wieder nach Lecce«, entgegnete ich. »Wir versuchen immer noch, meine Papiere zu bekommen.«
»Immer noch? Mamma mia! Und dann heißt es immer, Italien sei ein durch und durch gesundes Land. Das einzig Gesunde an den Italienern ist ihr gesegneter Appetit, jawohl!«
Er schlug auf unsere Motorhaube und brach in Gelächter aus, während seine Frau erneut den Kopf heraussteckte.
»Wer behauptet, dass Italien ein durch und durch gesundes Land ist?«, fragte ich Daniela, während sie Kurs auf Lecce nahm.
»Signor Api«, erwiderte sie und stellte die Lüftung an.
Was mit seiner Graffiti-Fassade, den kaputten Fenstern und der italienischen Flagge auf dem Dach aussah wie ein Paradies für patriotische Hausbesetzer, war in Wahrheit die Behörde, auf die wir mussten. Daniela bat mich, im Wagen zu warten. Am Vortag hatte ich nämlich die Nerven verloren, nachdem wir über zwei Stunden auf Papiere gewartet hatten, die angeblich fertig waren, dann aber doch nicht für uns bereitlagen. Ich war nicht unverschämt geworden, war aber auf Englisch ein wenig laut geworden, was Daniela kontraproduktiv fand.
Es war ein sehr heißer Tag mit 38 Grad gewesen. Dementsprechend strapaziös hatte sich auch die Fahrt nach Lecce gestaltet, denn aus Napoleon war der reinste Brutofen geworden. Kein Wunder, dass ich frustriert war, als Daniela aus dem Gebäude kam und verkündete, wir würden am nächsten Tag noch mal herkommen müssen, weil ihre Bekannte nicht zur Arbeit erschienen sei. Ich schlug vor, unser Glück bei einem Kollegen zu versuchen, aber davon wollte Daniela nichts wissen. Ich konnte mich immer noch nicht daran gewöhnen, dass man jemanden kennen muss, um etwas erledigt zu bekommen, und wieder einmal prallten zwei Welten aufeinander. Es herrschte eine unglaubliche Hitze, und da kochte der Topf über. Wir schrien. Wir stritten. Ich protestierte. Sie überzeugte mich. Und als sie Englisch sprach, um den Anwesenden die Details unseres Streits zu ersparen – mit diesem süßen, unbeholfenen Akzent und der falschen Betonung -, konnte ich es plötzlich gar nicht mehr erwarten, nach Hause zu kommen.
Wir mussten die Fahrt sogar noch zweimal antreten, um die Bekannte an ihrem Arbeitsplatz anzutreffen, aber als sie endlich auftauchte, bekam ich, genau wie von Daniela prophezeit, problemlos die Papiere. Zum Dank schenkte ihr Daniela einen Bumerang, obwohl ich nicht fand, dass sie ihn verdient hatte.
Inzwischen war beinahe ein Monat vergangen, seit Napoleon zum ersten Mal gen Lecce gefahren war. Wir hatten stapelweise Papiere, auf denen endlich alle Tüpfelchen auf den Is saßen und sämtliche Hs an Ort und Stelle waren. Jetzt konnten wir erneut zur Questura gehen, um meinen Antrag auf den permesso di soggiorno abzuschließen, und den Sommer genießen.
 
Wir kamen zu spät zu unserer Verabredung auf der Questura. Schuld war eine religiöse Prozession, die die Durchfahrtstraße durch Diso eine Viertelstunde lang blockierte. Das war das erste Mal, dass ich einen Stau sah, in dem niemand auf die Hupe drückte, als sei sie die Antwort-Taste in einer QuizShow. Italiener respektieren ihre Heiligen eben mehr als ihre Mitmenschen. Wir sahen, dass Riccardo bereits neben dem Schalter wartete, und beobachteten eine Auseinandersetzung zwischen dem diensthabenden poliziotto und einem Afrikaner, der ein Goldkettchen über seinem Kaftan trug.
»Ihr Antrag kann noch nicht bearbeitet werden, wegen der Sache in Otranto.«
»Ich hab nur CDs verkauft.«
»Illegale CDs.«
Als wir das Büro des Inspektors betraten, murmelte er »Buongiorno«, zeigte auf mich, zog die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und sagte aufs Geratewohl: »Arrison
»Perfetto«, entgegnete ich.
Er griff nach seinem Telefon, steckte einen Wurstfinger in das Loch mit der Ziffer neun und drehte die Wählscheibe.
Danach zündete er sich eine Zigarette an und wartete, bis der andere dranging.
»Poggi am Apparat«, sagte er und nebelte das Mundstück seines Hörers mit Rauch ein. »Bring mir die Akte Crristoper Arrison.«
Er hörte einen Moment zu.
»Crristoper Arrison mit H am Anfang«, erklärte er.
Poggis Zigarette war beinahe bis auf seine Fingerknöchel heruntergebrannt, als sein Telefon klingelte.
Er nahm ab und lauschte konzentriert, wobei er leicht die Stirn runzelte.
»Jetzt hör mir mal gut zu«, sagte er plötzlich. »Arrison mit einem H am Anfang von Arrison.«
Sie sprechen es nicht aus, sie hören es nicht, und jetzt konnte es irgendein armer Polizist in den Eingeweiden dieses Gebäudes nicht einmal sehen.
»Sieh unter A nach«, schlug Poggi nachträglich vor.
Riccardo öffnete das Fenster des Inspektors, um frische Luft herein- und Rauch hinauszulassen.
»Bravo«, sagte Poggi erleichtert und fügte noch ein »Fai presto« hinzu, bevor er auflegte.
Als meine Akte kam, legte Poggi unsere Dokumente dazu sowie eine Fotokopie meiner Bordkarte, die er als authentisch anerkannt und abgestempelt hatte. Anschließend kehrte er zu dem Formularfeld »Einreisedatum« zurück und schloss auch diese Lücke. Als wir schon ganz erleichtert waren, dass die Sache endlich ausgestanden war, drückte der Inspektor seine Zigarette aus, gab uns die Hand und sagte, dass wir die Aufenthaltsgenehmigung in einem Monat abholen könnten.
»In einem Monat?«, hakte Riccardo nach, in der Hoffnung, er könnte seine Meinung vielleicht noch ändern.
»Na ja«, sagte Poggi zögernd, »ich werde sehen, was ich tun kann.«
Auf der Heimfahrt gab es auf der Ringstraße von Lecce einen Riesenstau. Ein älterer Bauer lief zwischen den Autos hin und her und verkaufte frisch geerntete Karotten, an denen noch das Grün hing. Etwas Erde von seinen Feldfrüchten hatte sich in seinem Bart verfangen, ein unkontrollierter Wildwuchs, der seinen Mund bedeckte und gebrannt hätte wie Zunder, wenn er geraucht hätte. Mit gesenktem Kopf stand er stumm da. Wenn jemand etwas wollte, würde er ihm schon Bescheid sagen. Ich sah zu, wie er sich mit seinem fleckigen Hemd und seinen schäbigen Sandalen an meinem Fenster vorbeiquälte.
»Ich hatte mir dieses Land anders vorgestellt. Nicht so …«
»Strano?«, schlug Daniela vor.
»Altmodisch.«
»Es ist vollkommen zurückgeblieben und frustrierend«, meinte sie zu meiner großen Überraschung. »Aber irgendwie ergreift es Besitz von dir. Jeder Italiener beschwert sich über Italien. Aber wenn wir von hier weggehen, vermissen wir etwas, das wir nicht einmal benennen können.«
»Möchtest du ein paar Karotten?«, fragte ich.
»Nein, ich werde uns linguine ai frutti di mare kochen.«
Linguine ai frutti di mare … Ich dachte, sie hätte gesagt, dieses Etwas sei schwer zu benennen.
Wir erreichten die superstrada und gaben Gas. Meine Papiere waren vollständig, und wir schwebten auf Wolke Nummer sieben. Aber zwei carabinieri, die neben ihrem Wagen am Straßenrand standen, sollten uns bald wieder auf den Boden der Tatsachen zurückbringen. Einer winkte mit einem überdimensionalen Lutscher, während sein Kollege eine Maschinenpistole in der Hand hielt. Macht und Ohnmacht, Seite an Seite – sie sahen wirklich aus wie zwei Witzfiguren, wie Dick und Doof als Gesetzeshüter. Der eine war tatsächlich dick, der andere dünn, und mit ihren Riesenlutschern, kniehohen Stiefeln, gestreiften Hosen und Mützen, die viel zu klein für ihren Kopf waren, wirkten sie eher lächerlich als Respekt einflößend. Als wir rechts ranfuhren, steckte der größere Beamte seinen Schlagstock zurück in den Stiefel. Seine kugelsichere Weste reichte bis zum Kinn, als er sich zu unserem Fenster herunterbeugte. »Documenti per favore
Eine solche Fahrzeugkontrolle ist reichlich ungewöhnlich für einen Australier. Daniela griff in ihre Handtasche, und ich holte meine vorläufige Aufenthaltsgenehmigung hervor, auf der die Tinte noch kaum getrocknet war. Aber der carabiniere hatte bereits das Interesse an unseren Papieren verloren, denn er hatte etwas höchst Ungewöhnliches in unserem Auto entdeckt: Gelbe Post-it-Zettelchen klebten überall im Wageninnern. Darauf standen die Wörter für das, woran sie befestigt waren. Lenkrad, Hupe, Handschuhfach, Armaturenbrett, Schaltknüppel und Handbremse – alles war markiert. Das war Danielas Idee gewesen – eine neue Methode, Vokabeln zu lernen. Überall klebten gelbe Zettel, so als habe sich Napoleon beim Rasieren geschnitten.
Der carabiniere rief seinen schwer bewaffneten Kollegen, und beide brachen in Gelächter aus.
»Darf ich fragen, warum, signora
»Mein Freund lernt gerade Italienisch.«
»Wo kommen Sie her?«
»Aus Australien.«
»Aus Australien? Was zum Teufel tun Sie dann hier?«
»Ich werde ab September in Mailand arbeiten«, sagte ich in fließendem Italienisch. Übung macht den Meister.
»Sie scheinen schon ziemlich gut Italienisch zu können.«
Ich berührte Danielas Arm.
»Ich habe eine gute Lehrerin.«
»Welche Sprache sprechen Sie in Australien?«, fragte der eine mit der Maschinenpistole.
Ich dachte, er mache Witze, und sah Daniela an. Doch ihre Miene sagte mir, dass er es ernst meinte.
»Inglese«, entgegnete ich, starr vor Schreck.
»Ich würde gern Englisch lernen. Mein Bruder spricht ein wenig Französisch.« Er sah Daniela an. »Sprechen Sie Englisch, signora
»Si
»Sie Glückliche! Und wo haben Sie sich kennengelernt …?«
Während jede Menge Autos vorbeirasten, die meisten deutlich zu schnell, hörte sich der Autobahnpolizist genüsslich unsere Liebesgeschichte an. Anschließend wünschte er uns viel Glück. Der Beamte mit der Maschinenpistole winkte sogar, als wir losfuhren. Ich weiß nicht, ob ihnen das überhaupt klar war, aber sie hatten ganz vergessen, unsere Papiere zu kontrollieren.
 
Die ärztliche Untersuchung ist die letzte Hürde für alle, die in Italien bleiben wollen. Sie steht mit Absicht an letzter Stelle, da es sehr wahrscheinlich ist, dass man durch die Beantragung der Aufenthaltserlaubnis in den Wahnsinn getrieben wurde. Als Belohnung für die bestandene Untersuchung bekommt man ein libretto sanitario – einen Ausweis, der einem die staatliche Gratis-Gesundheitsversorgung garantiert.
Als Daniela ihren Hausarzt anrief, der in erster Linie ein Freund der Familie und dann erst ihr Arzt war, bestand er darauf, dass wir sofort vorbeikämen. Er sagte, er freue sich schon sehr darauf, seinen ersten australischen Patienten kennenzulernen, schlug allerdings vor, Daniela solle ihr canguro sicherheitshalber auch bei einem Tierarzt anmelden. Als wir nach seinen offiziellen Behandlungszeiten zu Dr. Nino nach Hause fuhren, meinte Daniela, er sei ein guter Arzt, weil er sich von einem Besuch zum nächsten merken könne, was einem fehle. Ich konnte nur hoffen, dass sein Lebenslauf noch andere Pluspunkte aufwies.
In der nahe gelegenen Stadt Soldignano glänzte Dr. Ninos frisch gestrichene Villa in der Nachmittagssonne. Wir durchquerten einen Garten mit Zitronenbäumen und gingen auf eine prächtige Eingangstür zu. Dort wurden wir von einem Mann mit Schnurrbart in einen Palast voller Antiquitäten, Ledersofas, Kunstwerken und kleinen Statuen eingelassen. Der Prunk im Haus stand in einem merkwürdigen Gegensatz zu dem heruntergekommenen Viertel vor seinem Gartentor. Die Straße war vermüllt, und ein fast verhungerter Hund streunte darauf herum. Würde man ein Röntgenbild von süditalienischen Dörfern machen, um all den Prunk und Protz in den Häusern an jenen verwahrlosten Straßen zu sehen, begriffe man die Einstellung der Italiener dem Gemeinwesen gegenüber sofort. »Die Straße gehört schließlich niemandem«, sagen sie.
Dr. Nino, der ziemlich groß für einen Italiener war, erzählte den Witz mit dem Känguru noch einmal. Nur für den Fall, dass Daniela ihn nicht weitererzählt hatte. Dann verabreichte er mir eine Medizin, fast eine ganze Flasche seines selbst gemachten Limoncellos – purer Alkohol mit einem Hauch Zitrone. Wahrscheinlich nur, damit mich sein exzentrisches Elixier im Krankheitsfall umbrachte oder mich kurierte. »Nino hat ihn mit Zitronen aus unserem Garten selbst gemacht«, sagte seine Frau stolz, die Nagellackentferner beigesteuert zu haben schien.
Nachdem ich ihre Medizin genommen hatte, unterhielt ich mich mit ihrem Papagei, der zu meinem Entsetzen und ihrer Freude besser Italienisch sprach als ich.
Dr. Nino bekam einen Bumerang. Und ich Kopfschmerzen. Nachdem ich einen Monat lang auf herrenlosen Straßen unterwegs gewesen war, besaß Andrano seinen ersten australischen Einwohner – Crristoper Arrison mit H am Anfang. Und auch wenn ich meinen neuen Status mittlerweile mit Dutzenden von documenti nachweisen konnte, drückte sich meine wahre Zugehörigkeit zu Andrano darin aus, dass ich das Fünf-Uhr-Angelusläuten der Kirchenglocken auswendig mitsummen konnte. Sollten mich die carabinieri jemals aus dem Verkehr winken und ich hätte meine Papiere vergessen, könnte ich sie damit vielleicht sogar beeindrucken. Und wenn nicht, würde ich ihnen eben eine andere Liebesgeschichte erzählen.