23
Vero o falso?
In seinem Buch
L’Italia del Pizzo – Das Italien des
Schmiergelds – schreibt Franco Cazzola, ein Soziologieprofessor aus
Turin, dass die am weitesten verbreitete Form von Korruption in
Italien das Bestechungsgeld ist, mit dem man sich den Führerschein
sichert. Als mein internationaler Führerschein ablief, verstand ich
auch, warum. Denn obwohl ich seit zwölf Jahren Auto fahre und das
letzte davon in Italien, musste ich mich bei einer italienischen
Fahrschule für den europäischen Führerschein qualifizieren. Das
Ganze hätte eigentlich nur wenige Wochen dauern sollen, aber es
dauerte drei Monate.
Auf Renatos Rat hin
entschied ich mich für eine Fahrschule in Caritano, einer staubigen
Ansammlung von Zement, etwas landeinwärts von Andrano. Das einzige
Erkennungsmerkmal der Fahrschule, die in einem schlichten Haus mit
zwei Räumen untergebracht war, waren ein Schild mit der Aufschrift
Autoscuola sowie »Stopp«- und »Hier
kein Eingang«-Aufkleber an der gläsernen Eingangstür. Aber ich
beachtete diese Warnungen nicht und betrat die Fahrschule, was ich
noch schwer bereuen sollte.
Eine biedere,
sommersprossige Brünette, die Sekretärin der Schule, saß hinter
ihrem Schreibtisch im Warteraum und rauchte eine dünne Zigarette.
Hinter ihr hing ein »Rauchen verboten«-Schild an der Wand – ein
schöner erster Eindruck von einem Ort, an dem man mir das Beachten
von Regeln beibringen sollte. Als ich der Frau meine Situation
schilderte, zog sie eine Grimasse, blies mir einen Schwall Rauch
ins Gesicht und schrie: »Vieni
Michele!« in Richtung des angrenzenden Raums.
Michele war der
Eigentümer der Fahrschule, groß, elegant gekleidet und mit einer
Art Bartskelett – eine ziemlich affektierte Form von
Gesichtsbehaarung -, das der Kontur seines Kinns folgte. Der
vorzeitig Ergraute betrat den Raum, wo wir einen Deal machten, der
berücksichtigte, dass ich beinahe genauso lang Auto fuhr wie er.
Ich erklärte mich einverstanden, der ersten Woche seines
vierwöchigen Kurses beizuwohnen, »nur um die Straßenschilder
durchzugehen und sicherzustellen, dass Sie ihre Bedeutung kennen«:
Danach würde er mich für die Theorie- und Praxisprüfung in Lecce
anmelden. Der Plan klang einfach.
Am folgenden Abend
kehrte ich zur Schule zurück, um dort einen Sehtest mit einem
Augenarzt durchzuführen. Eine Woche und eine Anzahlung von 50 Euro
später bekam ich mein foglio rosa,
meinen Anfänger-Führerschein, und zwar ohne jede Theorie-Prüfung.
Das war völlig normal und lag nicht etwa an meinen besonderen
Umständen: In Italien fängt man an zu fahren, bevor man die Verkehrsregeln lernt.
Micheles Kurs ging
von halb sieben bis halb acht, und zwar an fünf Abenden die Woche.
Am ersten Abend rauchten die Schüler aus Caritano und den
umliegenden Ortschaften Zigaretten im Hof, während sie darauf
warteten, dass der Kurs begann. Sie sahen neugierig zu, wie ich
vorfuhr, einhändig rückwärts einparkte, bevor ich als Fahrschüler
mit meinem Lehrbuch unterm Arm die Schule betrat.
In einem schwülen
Raum mit gekalkten Wänden und einer niedrigen, gewölbten Decke
begann Michele wichtigtuerisch seinen Unterricht und setzte sich an
einen noch wichtigtuerischeren Schreibtisch. Sein Publikum bestand
aus zwanzig Teenagern und einem etwas reiferen Schüler. Die Jungs
schienen mehr Sorgfalt auf ihr Äußeres verwendet zu haben als die
Mädchen. Einer hatte sich sogar die Brauen gelockt. Das hier war
vor allem eine Gelegenheit, Frauen aufzutun statt Fahrtipps. Wir
saßen auf Unistühlen mit Klapppult, auf das wir unser 207 Seiten
starkes Lehrbuch mit dem Titel Auto e moto su
strada legten, das alle möglichen Informationen enthielt,
von der Bedeutung einer roten Ampel bis hin zur Funktion eines
Dieselmotors.
An der Wand hinter
Michele befanden sich eine Tafel, ein Bildschirm, eine Ampel und
eine Sehtest-Tafel. Hoch über seinem Kopf hingen zwei Plakate, die
etwa im Maßstab 1:1 den Kühler und das Heck eines Fiat 500 mit
Scheinwerfern, Blinkern und Nummernschildern zeigten. Neben diesem
Auto, das durch eine Wand gefahren zu sein schien, hing ein Poster,
das die Bedeutung jeder Anzeige und jedes Knopfes am Armaturenbrett
erklärte.
Die Wände des
Zimmers wurden von allen möglichen Autoteilen gesäumt, die auf
wackelige Halterungen montiert waren, darunter befand sich auch ein
Motor. Sie alle sahen alt genug aus, um tatsächlich von jenem Fiat
stammen zu können – Bremssysteme, Benzinschläuche, Getriebe und
mehrere Zylinder und Pumpen. Ein ganzes Auto schien im
Unterrichtsraum zerlegt worden zu sein. Das Einzige, was fehlte,
waren die Räder und der Rückspiegelanhänger.
Die Wände zierten
Poster, die Verkehrszeichen, die korrekte Verwendung des
Sicherheitsgurtes und Erste-Hilfe-Maßnahmen demonstrierten. Das
Poster, das mir am nächsten war, war mit »Die häufigsten
Unfallursachen« überschrieben und zeigte einen Sportwagen, der
Probleme mit einer Haarnadelkurve hatte und in eine Schlucht
stürzte. Neben den verkohlten Autoüberresten stand in roten
Buchstaben: »No«, was wohl bedeutete,
dass man das tunlichst unterlassen sollte.
Michele sorgte für
Aufmerksamkeit, indem er auf eine Taste seiner Computertastatur
drückte. Der Bildschirm hinter ihm zeigte eine Ampel, die durch
einen weiteren Tastaturbefehl grün wurde, um den Beginn des
Unterrichts zu signalisieren. Nett. Micheles Unterrichtstechnik
bestand darin, den Inhalt des Lehrbuchs, Verkehrsschild für
Verkehrsschild mithilfe des an seinen Computer angeschlossenen
Bildschirms zu erklären. Nachdem er die Bedeutung eines jeden
Schilds erläutert hatte, stellte er eine Reihe von »Richtig oder
falsch«-Fragen, um zu überprüfen, ob wir seine Erklärungen
verstanden hatten. In der Theorie klingt das beeindruckend. In der
Praxis war es reine Zeitverschwendung. Nicht wegen unserer
fehlerhaften Antworten. Sondern wegen seiner sinnlosen Fragen. Hier
ein paar Beispiele:

F: »Der
Zebrastreifen ist der Teil der Straße, der für Fußgänger reserviert
ist, die die Straße überqueren. Hier müssen Autos halten, um die
Fußgänger vorbeizulassen«, verkündete Michele. »Vero o falso?«
A: »Vero«, sagte die Klasse einstimmig.
Einmal ganz
abgesehen davon, dass ich in Italien bis auf meine Wenigkeit noch
nie einen Autofahrer an einem Zebrastreifen habe halten sehen,
lautete die Antwort in der Tat »richtig«. Selbst, wenn keiner der
Schüler die Regel je beachten würde, hatten doch alle die Bedeutung
dieses Verkehrsschilds erkannt. Aber Michele war nicht
überzeugt.
F: »Man muss nur
halten, wenn Fußgänger von rechts kommen.«
A: »Falso«, war sich die Klasse einig.
F: »Man muss nur
halten, wenn Fußgänger von links kommen.«
A: »Falso«, lautete die lethargische
Antwort.
F: »Man muss nur für
Kinder halten.«
A: »Falso.«
F: »Man muss nur für
Tiere halten.«
A: »Falso.«
F: »Man muss
aufpassen, nicht auf Autos aufzufahren, die anhalten, um Fußgänger
vorbeizulassen.«
A: »Vero.«
Zum Glück hatte
Michele das noch geklärt, denn sonst hätten wir Leute umgemäht,
aber ihren Haustieren die Vorfahrt gelassen.
Er drückte auf eine
weitere Taste, und das nächste Verkehrszeichen erschien auf dem
Bildschirm. Nach einer längeren Erklärung ging die Befragung
weiter.

F: »Busse haben
immer Vorfahrt.«
A: »Falso.«
»Genau«, rief
Michele aus. »Bravi. Denn das ist ein
Schild für einen Bahnübergang, und Busse fahren nicht auf Gleisen,
stimmt’s?«
A: »No.«
Die Schüler
verdrehten die Augen.

F: »Dieses
Verkehrszeichen besagt, dass es in dieser Gegend oft
regnet.«
Es entstand eine
Pause, die so lange dauerte, wie zwanzig Teenager brauchen, um die
Stirn zu runzeln, bis einer von ihnen fragend murmelte:
»Falso?«
Unsere
Aufmerksamkeit hatte stark nachgelassen. Ein Junge verschickte SMS.
Ein anderer machte dem Mädchen neben mir Komplimente wegen ihrer
Ohrringe.

F: »Dieses Schild
besagt, dass man umdrehen und den Weg nehmen muss, den man gekommen
ist.«
A: Die Mehrheit
antwortete mit »falso«. Ein Mädchen
quäkte ein zögerliches »Vero«. Der Rest
schwieg.
Jetzt hatte er sie
wirklich durcheinandergebracht. Wenn ein Schild, das Gegenverkehr
anzeigte, auch bedeuten konnte, dass man umkehren und zurückfahren
muss, muss ein Schild mit einem Verkehrskreisel bedeuten, dass man
immer im Kreis fahren muss. Die Zeit zog sich hin wie
Kaugummi.

F: »Motorräder sind
hier verboten.«
A: »Scusa?«, entgegnete die Klasse
verwirrt.
F: »Motorräder sind
hier verboten«, wiederholte Michele.
Eine lange Pause
entstand.
A: »Fal-so«, versuchte ich mich in
Sarkasmus.
»Si, falso«, sagte Michele, zufrieden, dass er sie
an der Nase herumgeführt hatte. »Denn ein Motorrad ist schmaler als
zwei Meter dreißig, und dieses Schild verbietet Fahrzeuge, die
breiter als zwei Meter dreißig sind.«
Das war die vierte
Stufe von Mastermind.

Und schon blitzte
das Verkehrszeichen auf, das in Italien am allerwenigsten
respektiert wird und am Eingang jedes Ortes und jeder Stadt zu
sehen ist. Es ist unweigerlich an einem weiteren Schild mit dem
Namen der Stadt befestigt und entweder verrostet oder verbeult oder
wie in Andrano Porto von Schüssen durchlöchert. Wie uns Michele
erklärte, verbietet das Schild das Hupen außer bei einem Notfall,
bei Hochzeiten und natürlich bei einem Sieg von Ferrari oder den
Azzurri – der
Fußballnationalmannschaft. Eine idiotische Verkehrsregel, da
Italiener keine hundert Meter fahren, ohne zu hupen, so als müsse
man, um von A nach B zu fahren, B erstmal Bescheid geben, dass man
kommt.
Obwohl das Schild an
allen fünf Zufahrten zu Andrano steht, können nur wenige Autofahrer
einem musikalischen Gruß widerstehen, wenn sie an einem Bekannten
vorbeifahren. Und Gewinner von Vespa-Rennen können sich auch noch
spät in der Nacht keinen Siegesgruß mit ihren quäkenden Hupen
versagen. Und all das, während das Schild, das solche Frivolitäten
untersagt, stumm am Stadtrand vor sich hin rostet. Sogar Michele,
ein Anhänger überflüssiger Erklärungen, verschwendete nicht viel
Zeit mit diesem Verkehrszeichen. Man kann den Italienern eher die
Luft zum Atmen nehmen als das Recht, Krach machen zu
dürfen.
Nachdem wir die
Verkehrszeichen durchhatten, widmeten wir uns den Signalen, die auf
die Fahrbahn aufgemalt sind. Michele informierte uns, dass solche
Signale stets weiß seien, eine Information, die, so sollte man
meinen, alle weiteren Farben ausschließt. Aber unser Lehrer wollte
auf Nummer sicher gehen.
F: »Pfeile auf der
Fahrbahn sind rot.«
A: »Falso.«
F: »Pfeile auf der
Fahrbahn sind blau.«
A: »Falso.«
Ich werde ihn nicht
erwürgen, sondern überfahren. Anscheinend darf man das,
vorausgesetzt, er geht von links über die Straße.
Die einzige Logik,
die ich in Micheles Methode sah, war die, dass ein Schüler, der
weiß, was Verkehrszeichen alles nicht
bedeuten, sich vielleicht auch daran erinnert, was sie bedeuten. Aber jemandem zu sagen, dass er
eine Zugbrücke nur überqueren kann, wenn sie geschlossen ist,
spricht ihm jeden gesunden Menschenverstand ab. Micheles Kurs
ärgerte mich und verstörte meine Klassenkameraden. Ihre Antworten
im Test gegen Ende der ersten Woche zeigten, dass sie eher verwirrt
als vorbereitet waren. Ein Mädchen dachte, ein Entfernungsschild
mit der Aufschrift »Venezia 4« bedeute,
dass man sich in der vierten Spur für die Ausfahrt Venedig
einordnen müsse. Aber das war in erster Linie die Schuld des
Lehrers und nicht die seiner Schülerin. Sie wäre nie auf eine so
komplizierte Antwort gekommen, wenn Michele sie nicht erst darauf
gebracht hätte. Die junge Frau sollte in drei Wochen ihre
Theorieprüfung machen, und so wie es aussah, würde sie die vier
Kilometer nach Venedig wohl laufen statt fahren
müssen.
Nach dem
Freitagsunterricht fragte ich Michele, ob jede autoscuola in Italien die Verkehrsregeln so erkläre
wie er.
»No no no«, sagte er stolz. »Ich habe dieses System erfunden.«
»Complimenti«, sagte ich lächelnd.
»Grazie«, entgegnete Michele, der viel zu eitel war,
um meinen Sarkasmus zu bemerken.
Ich erklärte ihm,
dass ich mir nach zwölf Jahren hinter dem Steuer ziemlich sicher
sei, welche Farbe die Pfeile auf den Straßen haben, und bat ihn,
mich wie versprochen für die Führerscheinprüfung anzumelden. Er
versicherte mir, dass er das durchaus tun würde, er wolle mich aber
erst noch selbst prüfen, damit ich am Tag der Prüfung keine
Probleme hätte. Ich erklärte mich einverstanden mit seinem
Vorschlag, der durchaus annehmbar schien, und machte einen Termin
für den darauffolgenden Montag aus. Außerdem vereinbarten wir eine
Testfahrt für Dienstag, um sicherzustellen, dass ich gut auf die
Führerscheinprüfung vorbereitet war.
Zur Verabredung am
Montag erschien ich fünf Minuten zu früh, in der Hoffnung, die
zweite Woche würde produktiver sein als die erste. Eine halbe
Stunde später war Michele immer noch mit einer Gruppe von Schülern
im Unterrichtsraum beschäftigt. Als er fertig war, luden sie ihn in
der Bar zu einem aperitivo ein. Michele
nahm an, bevor er mich im Warteraum entdeckte und sich an unsere
Verabredung erinnerte. Als er merkte, dass er sich doppelt
verabredet hatte, aber keine Verabredung absagen wollte, versuchte
er beides miteinander zu verbinden, indem er mich ebenfalls in die
Bar einlud. Als ich ablehnte und sagte, dass ich gleich
anschließend einen Englischschüler hätte, bat er mich zu warten, er
würde nur ein Getränk nehmen. Ich lachte und deutete an, dass es
unprofessionell sei, einen Schüler warten zu lassen. Aber Michele
verstand keine Ironie. Nicht mal, wenn man ein Schild hochhielt,
auf dem stand: »Ironie in wenigen Metern.«
Als ich begriff,
dass aus unserem Termin wohl doch nichts mehr werden würde, schlug
ich vor, den Theorietest nach meinem Pseudo-Fahrtest am folgenden
Tag zu absolvieren, außer er hätte diese Verabredung auch
vergessen. Das hatte er nicht, musste sie wegen eines Termins in
Lecce allerdings absagen.
»Sagen wir nächsten
Montag, so um halb acht?«, schlug er vor.
»Aber das ist ja
erst in einer Woche!«
»Allora?«
Am folgenden Montag
betrat ich pünktlich den Unterrichtsraum und überraschte Michele
dabei, wie er mit seiner Stunde für zukünftige Lastwagenfahrer
begann. Jeder seiner Schüler war übergewichtig, so als sei das
Voraussetzung für diese Führerscheinklasse.
»Sie haben den
Termin wieder vergessen, stimmt’s?«
»Nein, nein. Kommen
Sie rein. Setzen Sie sich. Fangen wir an.«
Obwohl er es nicht
zugeben wollte, hatte er unsere Verabredung erneut vergessen. Doch
anstatt einen neuen Termin zu vereinbaren, befragte er mich eine
halbe Stunde vor seinen Schülern, von denen niemand etwas gegen
diesen Exkurs einzuwenden hatte. Sie mampften Pflaumenkuchen, den
irgendjemand zum Unterricht mitgebracht hatte, und schienen sich
köstlich über den Australier zu amüsieren, der versuchte, sich
einen Weg durch den italienischen Schilderwald zu bahnen,
klatschten bei jeder richtigen Antwort und riefen laut »Bravo, bravo!«
Während einer kurzen
Pause fragte ich Michele, wie hoch die Promillegrenze in Italien
sei. Das interessierte mich schon seit Längerem, aber weder Daniela
noch mein Lehrbuch konnten mir in diesem Punkt
weiterhelfen.
»Zero virgola tre« (0,3), sagte er schnell, so
schnell, dass man annehmen sollte, die Antwort sei
richtig.
Meine Zuhörer
stellten das Kauen ein.
»Non è vero«, widersprach ein beleibter Bärtiger,
der gerne auch mal was sagen wollte. »Sie liegt bei zero virgola quattro.«
»Nein, bei zwei Bier
in einer Stunde«, sagte ein anderer und prustete einem Mitschüler
lauter Krümel ins Gesicht.
»Nein, bei drei
Bier«, sagte ein Dritter, der seine Schuhe ausgezogen hatte und
sich die Füße massierte.
»Zero virgola tre«, schrie Michele und blätterte das
Lehrbuch durch, um es zu beweisen, fand aber nur die Passage, die
ich auch gefunden hatte. Darin stand vage, dass alles, was mehr ist
als ein halber Liter Weißwein pro Tag, im Blutkreislauf bleibt.
Später stellte ich fest, dass sich sowohl Michele als auch seine
Schüler irrten. Die einstige Promillegrenze von 0,8 war 2002 auf
0,5 reduziert worden. Aber solche Nebensächlichkeiten interessieren
Italiener nicht, die Gott sei Dank ohnehin nicht viel trinken. Man
fragt sich, wie viele Verkehrstote es gäbe, wenn sie auch noch
trinken würden.
Nach einer halben
Stunde und zwei Pflaumenkuchen schlug Michele vor, dass ich am
folgenden Montag wiederkommen solle, um mit dem Test fortzufahren.
Als ich nach dem Fahrtest fragte, meinte er, den würden wir in der
nächsten Woche ebenfalls erledigen. Frustriert erklärte ich mich
einverstanden, aber nur, wenn er mich zur Führerscheinprüfung
anmeldete. Mich anzumelden schien allerdings eine noch größere
Herausforderung zu sein, als die Prüfung zu bestehen.
Als ich am nächsten
Montag wiederkam, war Michele nicht da. »Er wurde in Lecce
aufgehalten«, so seine Sekretärin. »Kommen Sie morgen wieder.« Am
Abend darauf erschien ich zum selben Zeitpunkt und sah, wie sich
Michele im Warteraum den Mantel zuknöpfte und zum Minibus der
Schule eilte. »Ich bin gleich bei Ihnen«, sagte er, »ich muss
vorher nur noch ein paar Schüler nach Hause fahren.«
Die Sekretärin, der
ich entweder leidtat oder der ich im Warteraum auf den Geist ging,
sagte, ihr Chef sei bestimmt eine Stunde weg, bevor er alle Schüler
zu Hause abgesetzt hätte. Genervt wegen der vergessenen
Verabredungen und gebrochenen Versprechen ignorierte ich das
Stoppschild auf der Tür und stürmte zum letzten Mal aus Caritanos
autoscuola. Ich war in einem Monat
keinen Schritt weitergekommen und musste einsehen, dass das einzig
Disziplinierte an Michele seine Bartpflege war.