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Gesunder Menschenverstand? Nie gehört!
Daniela hatte mir
Alberobello schon eine ganze Weile zeigen wollen. In den Weinbergen
über Brindisi steht dieser mittelalterliche Ort aus trulli – Häuser mit kegelförmigen Dächern aus
übereinandergestapelten Steinen. Ihr Design garantiert, dass sie
sich in der Zeit abtragen lassen, die der Grundsteuerinspektor
benötigt, um sein Pferd anzubinden. Kein Haus, keine Steuer. Ganz
einfach.
Heute gehört
Alberobello zum UNESCO-Weltkulturerbe, und die trulli sind unantastbar. Leider kann man das nicht
von Renatos Alfa sagen, der gestohlen wurde, während wir die
Sehenswürdigkeiten besichtigten. Als wir zu einem leeren Parkplatz
zurückkehrten, schlug Daniela vor, die carabinieri zu rufen. »Bitte nicht«, flehte Renato
sie an. »Der Tag war auch so schon bescheuert genug. Warum ihn noch
schlimmer machen?«
Die italienische
Polizei mag unmöglich sein, aber die Italiener sind auch unmöglich
zu ihrer Polizei. Wie sollen die carabinieri beispielsweise napoletani überwachen, die, einen Tag nachdem das
Anschnallen Pflicht wurde, mit T-Shirts durch Neapel fuhren, auf
die diagonal ein Sicherheitsgurt aufgedruckt war? Und wie können
sie es vermeiden, sich lächerlich zu machen, wenn sie auf die
Einhaltung von Gesetzen pochen müssen, die so idiotisch sind, dass
man sie regelrecht umgehen muss? So wie jenes, das festlegt, dass
keine Beerdigung länger als 80 Minuten dauern darf, oder jenes, das
es für illegal erklärt, Hausmüll außerhalb der Zeit zwischen 19 und
5 Uhr zur Gemeindetonne zu bringen. So ein Gesetz gehört selbst auf
den Müll, aber natürlich nur innerhalb des dafür vorgesehenen
Zeitraums. Ein weitsichtiger Politiker schlug doch tatsächlich ein
Gesetz vor, dem zufolge das Parlament täglich ein überflüssiges
Gesetz abschaffen muss. Seine Idee wurde entweder nicht angenommen,
oder aber sie war das erste Gesetz, das abgeschafft
wurde.
Im Städtchen
Galatone unweit von Lecce werden Pferde auf Viehmärkten verkauft.
Während der BSE-Krise verkaufte sich das Pferdefleisch fantastisch
und führte zu einem Schwarzmarkt mit gestohlenem Vieh. Ein Gesetz
wurde erlassen, das es erforderlich machte, dass jedes Pferd, genau
wie sein Eigentümer, Papiere dabeihaben muss, mit denen es sich
jederzeit ausweisen kann. Schwer zu sagen, wer in den Nachrichten
eine schlechtere Figur machte: Der carabiniere, der nach dem Ausweis eines Pferdes
fragte, oder der ungebildete Pferdebesitzer, der nur Dialekt sprach
und sich angesichts einer dermaßen bizarren Aufforderung nur am
Kopf kratzte. Beide Parteien starrten sich nur verständnislos an
und gestikulierten heftig – eine typisch italienische
Pattsituation, die aus gegenseitigem Unverständnis entsteht. Wer
war im Unrecht? Der carabiniere, der
das Gesetz durchsetzte? Der Pferdehändler, der das Gesetz umging?
Oder die Regierung, die das Gesetz verabschiedet hatte? Daniela
meinte, alle drei seien im Unrecht, der einzig Unschuldige sei das
arme Pferd, nach dessen Schlachtung sich das ganze Problem ohnehin
erübrige.
Bei dem Versuch, ihr
schlechtes Image zu verbessern, veröffentlicht die Presseabteilung
der carabinieri jedes Jahr einen
Kalender, der ähnliche Heldentaten zeigt wie die an den Wänden des
Reviers in Loritano. Sie gab auch ein Buch mit Geschichten heraus,
in der tapfere Beamte die Rolle von Märchenhelden übernehmen: Wer
einen italienischen Frosch küsst, muss damit rechnen, dass er sich
in einen Polizisten statt in einen Prinzen verwandelt. Trotz ihrer
Bemühungen, der allgemeinen Verachtung etwas entgegenzusetzen, ist
und bleibt der unglückliche carabiniere
eine Witzfigur, so wie es der Ire in englischen oder australischen
Witzen ist: Die beste Methode, das Ohr eines Polizisten zu
verbrennen, ist nach wie vor die, ihn anzurufen, während er
bügelt.
Wenn Italiener den
Motor ihres Wagens anlassen, hoffen sie zwei Dingen zu entgehen –
Unfällen und carabinieri. Eine Madonna
im Handschuhfach schützt laut Aberglaube vor Ersteren, aber nichts
kann den Schutz vor Letzteren garantieren. Da fährt man sorglos mit
heruntergekurbeltem Fenster und lautem Radio dahin, bis einen ein
unbeholfener Verbrechensbekämpfer mit einem Riesenlolli zum Halten
zwingt. Und obwohl man nichts falsch gemacht hat, steckt man in
ernsten Schwierigkeiten.
Genau eine Woche
nach unserem bedauerlichen Ausflug nach Alberobello gerieten wir
auf unserer Fahrt nach La Botte in so einen Hinterhalt, und man
winkte uns mit dem gefürchteten Riesenlolli zu. La Madonna des Handschuhfachs hatte versäumt, ihre
Arbeit zu tun, und am Wochenende davor hatten 70 Menschen ihr Leben
auf italienischen Straßen verloren. Und noch ein idiotisches Gesetz
war verabschiedet worden, nämlich, dass man Tag und Nacht die
Scheinwerfer anmachen muss. Unsere waren an, also warum hatte man
uns angehalten? Ich hatte in den Abendnachrichten von dem neuen
Gesetz erfahren, aber laut dem carabiniere, der sich zu meinem Fenster
herunterbeugte und meinen Führerschein sehen wollte, hatte ich es
falsch ausgelegt.
»Sie dürfen die
Scheinwerfer tagsüber nur auf einer autostrada, superstrada oder extra-urbana anmachen. Warum haben Sie Ihre auf der
urbana an?«
Ich weigerte mich zu
antworten und ahnte bereits ungläubig, worauf der Beamte
hinauswollte.
»Jetzt sagen Sie mir
bloß nicht, Sie wollen mir ein Bußgeld verpassen, nur weil ich
meine Scheinwerfer auf der falschen Straße angemacht
habe?«
»Esattamente signore.«
In diesem Moment
flippte ich aus. Ich schnallte mich im Zeitlupentempo ab, öffnete
die Tür, kletterte aus unserem frisch reparierten Lancia, baute
mich wenige Zentimeter vor dem gedrungenen carabiniere auf und boxte die Frustrationen eines
Jahres in seine kugelsichere Weste. Mir war nicht mehr nach
Diplomatie zumute, als ich einen wenig eleganten, aber dafür höchst
befreienden Wutausbruch bekam: »Dieses beschissene Land ist ein
beschissener Sauhaufen!«
Eine Krähe brach das
darauffolgende Schweigen, indem sie in ihrem Olivenbaum neben der
Straße laut aufkrächzte und sich über meinen heftigen Wutausbruch
lustig zu machen schien.
»Die Krähe ist auch
meiner Meinung«, fügte ich noch hinzu.
Wahrscheinlich habe
ich es dem Vogel zu verdanken, dass ich vor einem Nachmittag in
Handschellen bewahrt wurde.
»Mi scusi, signore?«, sagte der Beamte. »Was haben
Sie da soeben gesagt?«
»Ich sagte, dass ich
es nicht zulassen werde, dass Sie mir wegen des Fahrens mit
eingeschalteten Schweinwerfern ein Bußgeld aufbrummen, nur weil ich
gerade die falsche Art Straße benutze.«
»Und wie wollen Sie
das anstellen?, fragte ein dünner zweiter Beamter, der von seinem
Streifenwagen mit einer dicken Maschinenpistole auf mich
zukam.
Doch ich schimpfte
weiter, als handele es sich um eine Wasserpistole.
»Indem ich Ihnen
sage, dass ich in den Abendnachrichten gesehen habe, dass man die
Scheinwerfer ständig eingeschaltet haben muss, und zwar auf allen
Straßen.«
Die Beamten sahen
sich an.
»Wie dem auch sei«,
fuhr ich fort, »wenn ich meine Lichter anmachen will, mache ich sie
an. Das ist Abblendlicht, also was wollen Sie dagegen schon
unternehmen? Wollen Sie mich auch noch bestrafen, weil ich mein
Autoradio zu laut anhatte?«
Die Worte sprudelten
in perfektem Italienisch aus mir heraus, obwohl es besser gewesen
wäre, sie hätten das nicht getan. Daniela, der die Art meines
Vortrags missfiel, wenn sie seinen Inhalt auch guthieß, stieg aus,
sagte, ich solle mich beruhigen, und stellte sich zwischen mich und
die Polizisten.
»Das stimmt«, kam
sie mir zur Hilfe. »In den Nachrichten haben sie gesagt, ständig,
auf allen Straßen.«
»Impossibile«, sagte der Bewaffnete und sah erneut
zu seinem Kollegen.
»Offensichtlich
nicht«, brach es aus mir heraus, und ich zeigte auf die
vorbeifahrenden Wagen, von denen die meisten das Licht anhatten.
»Wollen Sie die auch alle mit Bußgeld belegen?«
»Chris, basta«, flehte mich Daniela an. »Stai calmo.«
Aber ich war wie ein
Schneeball, der stetig an Masse und Schwung zulegt.
»Was für ein
hinterwäldlerisches System! Eine Million Gesetze, aber niemand
teilt der Polizei mit, für was sie eigentlich gut
sind.«
»Und in Australien
ist natürlich alles besser, nehme ich an?«, sagte der Mann mit dem
Riesenlolli, der meinem Führerschein, den er mir bestimmt gleich
wegnehmen würde, soeben meine Nationalität entnommen
hatte.
»Zumindest brauchen
wir kein verwirrendes Gesetz, das uns sagt, auf welchen Straßen wir
die Scheinwerfer anmachen müssen.«
»Und wer sagt Ihnen
dann, dass Sie sie eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang anmachen
müssen?«
»Der gesunde
Menschenverstand.«
Die beiden wirkten
irritiert.
»Und wenn es neblig
und die Sicht schlecht ist?«, fragte der mit der Maschinenpistole.
»Da braucht man doch ein Gesetz, das den Autofahrern sagt, dass sie
ihr Licht anmachen müssen!«
»Nein, da braucht
man Autofahrer, die ihr Licht anmachen, weil ihnen der gesunde
Menschenverstand sagt, dass sie sonst nichts sehen.«
Daniela stand
mittlerweile neben mir, da sich die Situation nicht weiter
verschärfte.
»In Italien gibt es
keinen gesunden Menschenverstand«, sagte der Gedrungene, nahm seine
Mütze ab und klemmte sie sich unter den Arm, so als sei er nicht
mehr im Dienst. »Wenn Sie die Entschuldigungen hören würden, warum
sich manche Leute nicht anschnallen – Sie würden mir
zustimmen.«
»Das glaube ich
Ihnen gern.«
»Heute Morgen
erzählte mir ein Mann, er sei allergisch darauf und er bekäme vom
Gurt Ausschlag an der Schulter. Es war mir direkt peinlich, ihm zu
sagen, dann solle er sich eben ein T-Shirt anziehen.« Er warf die
Arme hoch. »Wer bin ich denn? Ein Arzt?«
Sein Kumpel
pflichtete ihm bei.
»Die verbreitetste
Ausrede für das Fahren ohne Helm ist, dass es die Frisur ruiniert.
Was sollen wir mit solchen Leuten nur tun?«
»Brummen Sie doch
denen ein Bußgeld auf und nicht
mir.«
Daniela unterdrückte
ein Lachen.
Die Situation hatte
sich wieder entspannt. Jetzt war ich nicht mehr derjenige, der sich
beschwerte, ja besser noch: Mein übergriffiges Benehmen schien
völlig in Vergessenheit geraten zu sein. Das komische Paar in
seiner lächerlichen Uniform tat mir fast schon leid: gestreifte
Hose, kniehohe Stiefel und Mützen, die viel zu klein für ihre Köpfe
waren. Vielleicht verdienen einige carabinieri eher Mitleid statt Verachtung. Nur weil
sie Idioten verwarnen müssen, werden sie selbst zu
Idioten.
»Sie können gut
predigen«, sagte der Dickere von den beiden und steckte den
Riesenlolli in seinen Stiefel. »Sind Sie hergekommen, um Priester
zu werden?«
Ich legte meinen Arm
um Daniela.
»Bei so einer
schönen Frau? Das ginge wirklich nur in Italien.«
Die Beamten lachten,
und Daniela lehnte sich aufatmend gegen die
Motorhaube.
»Waren Sie schon mal
in Australien?«, fragte sie der Dünne. Sein Ziegenbärtchen war
perfekt gepflegt.
»Si«, erwiderte sie. »Ein paar Mal
sogar.«
»Und ist es dort so,
wie Ihr Freund sagt?«
»Es ist anders«,
meinte Daniela und wählte ihre Worte sorgfältiger als ich. »So ein
Chaos wie hier gibt es dort nicht. Mein Freund ist wütend, weil wir
hier zwar mehr Gesetze haben, aber uns benehmen, als gebe es keine.
Und genau das macht unsere Straßen so gefährlich.«
»Das hier ist noch
gar nichts«, sagte der Dicke. »War er schon mal in Neapel?
È anarchia totale!«
»Warum bleiben Sie
hier, wenn Sie nach Australien gehen können?«, fragte der Dünne und
putzte sich die Pilotenbrille an seinem Hemd ab.
»Ich würde liebend
gern nach Australien gehen«, unterbrach ihn der Dicke.
»Ich auch«, meinte
der Dünne und wandte sich wieder an mich. »Wie sind die Frauen
dort?«, erkundigte er sich, bevor ihm Daniela wieder einfiel und er
sich entschuldigte.
»Wie ist das
Essen?«, hakte der Dicke nach. Eines nach dem anderen. Ein Auto
nach dem anderen fuhr an uns vorbei, in den meisten saßen Freunde.
Sie hupten, als sie uns sahen, bereits ihr zweiter Gesetzesverstoß,
wenn man das mit den Scheinwerfern auch noch mitzählt. Wir winkten,
während wir zwei Polizisten Fragen über Australien beantworteten,
die jene Gesetzesbrecher, die dem Blau von La Botte
entgegenstrebten, vollkommen ignorierten.
Gibt es ein anderes
Land auf der Welt, wo eine Konfrontation mit der Polizei mit
Beleidigungen beginnt und mit einem Schwatz über Essen und Rezepte
aufhört? Wo man die Grenze zwischen Wahnsinn und Glück mit schöner
Regelmäßigkeit übertritt? Nicht, wo der gesunde Menschenverstand
regiert.